Nr. 610 43. Jahrg. Ausgabe A nr. 311
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Dienstag, den 28. Dezember 1926
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Ein Hohn auf den Achtstundentag.
Der Reichstagsabgeordnete, Genosse Fritz Zubell, Die Zwölfftundenschicht im Braunkohlenbergbau soll verlängert werden.
ift gestern 9 Uhr abends den Folgen des Schlaganfalls, den er vor mehreren Tagen erlitten hatte, erlegen.
Nicht nur an Lebensjahren, sondern auch an Dienstjahren in der Arbeiterbewegung war Frizz 3ubeil einer der Aeltesten in der großen Reihe derer, die im Kampf um soziale Neugestaltung und demokratisches Selbstbestimmungsrecht eine fittliche Pflicht erfüllten. Im Streite um die Menschenrechte feiner Arbeitsbrüder hat er jahrzehntelang in vorderster Linie gestanden, wirtschaftliche Maßregelungen und behördliche Berfolgungen erduldet, ohne zu erlahmen. Als Greis, nahe an die Achtzig, war er noch streitbar wie nur einer, der für eine große Sache ficht.
Unser Zubeil stammte aus einem fleinen schlesischen Dörfchen in der Nähe von Grünberg, wo er am 11. Januar 1848 zur Welt gekommen war. Nach Ablauf seiner Schulzeit erlernte er das Tischlerhandwerk. Als Tischler zog er Ende der sechziger Jahre auf die Wanderschaft, 1872 landete er in Berlin , wo er bis zum Jahre 1890 ununterbrochen in seinem Handwert, hauptsächlich als Klavierarbeiter, tätig war. Als er 1890 als Sozialdemokrat zum Stadtver: ordneten gewählt wurde, setzten ihn die Unternehmer auf die Straße. Wilhelms II. Forderung: Schidt uns Kollegen aus eurer Mitte, den schlichten Mann aus der Werkstatt", hat bei den Unternehmern niemals Rurswert gehabt. Ein Arbeiter, der sich zum Vertreter seiner Kameraden wählen ließ, war die längste Zeit Arbeiter gemeien. Er mußte schleunigst eine neue Eristenz suchen. Auch Friz Zubeil mußte diesen Leidensweg gehen. Er übernahm eine fleine Gastwirtschaft, die er unter schwierigen Verhältnissen aufrechterhielt, bis er fie 1898 doch schließen mußte. Seit dieser Zeit glaubten die fapitalisti schen Gegner etwas recht Verächtliches zu sagen, wenn sie ihn bis in die letzte Zeit einen Parteibudiker" schimpften. Er hat sich durch diese Anspielungen auf seinen Notberuf nicht irre machen lassen. Eines Tages glaubte ein antisemitischer Abgeordneter im Reichstage ihn verhöhnen zu können. Zubeil hatte wieder einmal, wie es lange Jahre feine Spezialität war, die Klagen der Postunter beamten vorgetragen. Da hatte jener wegen seiner Vorliebe für einen guten Trunt bekannte Antisemit Werner ein, um dem ,, Budifer" Zubeil die Fähigkeit zur Vertretung der Bostproletarier zu bestreiten. Aber der fampfluſtige Alte führte den Antisemiten schlagfertig ab, indem er persönlich bemerkte", er sei gewiß einmal Gastwirt gewesen, habe aber den Betrieb einstellen müffen, weil es bei den meisten seiner Arbeiter- und Beamtengäste zu einem Schnäpschen nicht mehr gereicht habe. Hätte ich nur einen solchen Kunden gehabt, wie den Kollegen Werner, dann wäre ich heute noch Budifer." Er hatte die Lacher auf seiner Seite.
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Aber sonst war sein Leben feinesfalls heiter. Die schweren Jahre des Sozialistengefezes forderten von jedem Parteigenossen die Einsegung der ganzen Person. Und Friz Zubeil gehörte nicht zu denen, die hinter dem Ofen zu hocken pflegten, wenn es galt, für die gemeinsame Sache einzustehen. Mit Spigeln und mit der Polizei hatte er fich redlich herumzu schlagen. Daß dabei auch Gerichtsverhandlungen und Gefängnisstrafen für ihn abfielen, war nichts Besonderes. Mit um fo größerem Eifer widmete er sich der Kleinarbeit für die verbotene Partei und für die neu auffommende Gewerkschaftsbewegung. Bon 1883 bis 1886 war er Leiter des Klavier arbeiterverbandes , dann bis 1890 Bevollmächtigter des Holzarbeiterverbandes.
Die schwerste Arbeit aber leistete er als Reichstagsfandidat in dem Riesenwahlkreis Teltow- Beeskow- StortomCharlottenburg. Nur eine so robuste Natur wie seine fonnte diese Aufgabe bewältigen. Mangelhafte Berbindungswege, ungeheure Ausdehnung des Gebietes, auch die Notwendigkeit, bei Nacht und Nebel stundenweite Fußmärsche zu machen, felbst die Gefahr, von den rückständigen tonservativen Bauern förperlich insultiert oder mit Hunden gehegt zu werden, hinderten ihn nicht daran, bis zum entferntesten Dorf vorzubringen und den Unterdrückten die Ideen des Sozialismus zu verkünden. Seine volkstümliche eindringliche Vortragsweise verschaffte ihm gern Gehör. Es war zum guten Teil fe'n persönliches Verdienst. daß dieser Wahlkreis 1893 zum ersten Male für die Sozialdemokratie erobert wurde. Bis zum Ende des alten Reichstags hat Zubeil ihn ununterbrochen im Reichstag vertreten. Daß er dann auch in die National versammlung hier als Abgeordneter der Unabhängigen Sozialdemokratie- und später in den Reichstag der Republik gewählt wurde, war eine rechte Selbstverständlichkeit.
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Im Reichstag wie in der Stadtverordnetenversammlung gehörte Rubeil zu den fleißigsten Arbeitern. Seine eingehende Beschäftigung mit den Fragen des Postpersonals sicherten ihm das Vertrauen besonders der Unterbeamten auch in einer Be't, ba jedem Beamten noch die Strafe der Entlassung drohte, wenn er im Verdacht stand, mit Sozialdemokraten in Verbindung zu sein. Troß aller Machtsprüche und aller Nach
Bergarbeiter lehnen den Schiedsspruch ab.
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Die
Mehr
Eine Kommission soll erst untersuchen, inwieweit eine Verkürzung der zwölfftündigen Arbeitszeit wirtschaftlich" durchführbar ist. Reine Silbe davon, daß die Untersuchung dieser Kommission sich mit darauf erstrecken soll, ob und inwieweit die A.cht stundentagfabotage im Bergbau der Gesundheit der Arbeiter, den primitivsten Begriffen des Arbeiterschutes und dem Familienleben der Arbeiter abträglich ist. Erst fommt die Wirtschaft", das Profitinteresse der Unternehmer, und dann der Arbeiter noch lange nicht.
Die Organisationen der Bergarbeiter haben den am 21. De | stundentagbegriff über alle Maßen hohnsprechende zember für den mitteldeutschen Brauntohlenbergbau gefällten arbeitszeit" im mitteldeutschen Bergbau zunächst um volle Schiedsspruch, dessen Wortlaut wir in der gestrigen Morgenausgabe Dier Monate verlängern, um ihn dann noch immer nicht des Vorwärts" veröffentlichten, abgelehnt. Und zwar ganz zu beseitigen. selbstverständlich, weil mit vollem Recht. Das den mitteldeutschen Bergarbeitern in der Hochflut der Inflationszeit auf gezwungene Arbeitszeitablommen mit einer neunstündigen Arbeitszeit unter Tage und einer zwölf stündigen Arbeitszeit über Lage, das ausdrücklich als ,, nur vorübergehend" bezeichnet wurde, ist infolge seiner regelrechten Kündigung durch die Organisationen der Bergarbeiter, die von einer Konferenz der Vertreter der Bergleute gefordert wurde, mit Jahresschluß abgelaufen. Damit müßte die tarifliche Arbeitszeit ab 1. Januar wieder in Kraft treten. Diese flare Rechtslage wollen die Unternehmer nicht anerkennen, und das Reichsarbeitsministerium, das mit der seinerzeitigen Schaffung des Mehrarbeitszeitabkommens gewiffermaßen die Garantie dafür übernommen hat, daß diefes Abkommen nur vorübergehend gelten und wieder aufgehoben werden soll, hält den Unternehmern die Stange. Als ein nur vorübergehender Zeitraum sind drei Jahre wahrhaft lang genug. So lange, daß das Unternehmertum sich anmaßt, ein Gewohnheitsrecht daraus herzuleiten.
Mas waren die nächsten Folgen dieses Mehrarbeitszeit ablommens? Bon 150 000 im Bergbau Beschäftigten wurden über 60 000 Mann als überflüssig entlaffen. Den Abgebauten mußte Erwerbslosenunterstützung gezahlt werden, teilweise mußte die Bohl fahrtspflege einfegen, während die übrigen 90 000 Bergarbeiter fich in Ueberstunden abschuften mußten.
Der famose Schiedsspruch, der auf eine Beugung des ab Januar wieder eintretenden Rechtszustandes hinausläuft, will die dem Acht
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forschungen lieferten ihm die Beamten immer neues Material, sicher, daß er ihr Vertrauen in jeder Weise zu werten wußte. Das Leben Frizz Zubeils ist wenn jener biblische Weise recht hat föstlich gewesen, denn es mar Mühe und Arbeit gewesen. Und es war einer großen Sache ges widmet: dem Aufstieg der Enterbten, der großen proletarischen Maffe zu wirtschaftlicher Kraft und politischer Gleichberechti gung; dem Gedanken der lebenspendenden und erhaltenden Gemeinschaft, der überragenden Idee des Sozialismus! In den Sielen ist Friz Zubeil gestorben. Es war sein Wunsch, trotz seines hohen Alters nicht ausspannen zu müssen, fondern bis zuletzt im Dienst der Allgemeinheit ausharren zu fönnen. Diefer Wunsch ist ihm in vollstem Maße erfüllt worden. Bis zuletzt stand er als Abgeordneter, als Kommunalpolitiker, als Rämpfer in Reih und Glied!
Vor diesem Tapferen und Treuen senten sich jetzt die Fahnen. Die Treue, die er der Bewegung gewahrt, wird ihm nicht vergessen sein. Die Partei und besonders die Berliner Genoffen, die ihn wie faum einen anderen liebten, werden fein Gedenken in Ehren bewahren!
Musolinis Terror.
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Der Fall Presutti. Der provokatorische Name". Wie wir erfahren, hat Mussolini im letzten italienischen Ministerrat die Amtsentsegung des Professors für Verwal ungsrecht an der Universität Neapel. Enrico Brefutti, beprochen. Prefutti genießt im Süden Italiens große Popularität. zum Abgeordneten gewählt. Er war lange Zeit Bürgermeister von Bei den letzten und vorlegten Wahlen wurde er in zwei Bezirken Neapel , und während des Krieges hat seine Wohlfahrtsaktion der großen italienischen Stadt viel Leiden erspart. Er hat stets der liberalen Bartei angehört, war aber vielmehr aufgeklärter Konservativer. Presutti ist auch ein gesuchter Rechtsanwalt; nun soll er auch aus der Rechtsanwaltsliste gestrichen werden. Sein emziges Verbrechen ist, der Freimaurerei angehört und in der Kammer erklärt zu haben, die faschistischen Gesetze widersprächen der Verfassung.
Der Haß gegen Francesco Nitti , den früheren Minister präsidenten, Haupt der demokratischen Partei, der niemals den Faschismus als legale Regierung anerkennen wollte und jetzt mit feiner Familie in der Berbannung in Paris lebt, ist derartig, daß alle seine Freunde verfolgt oder sogar deportiert werden. So ist dieser Tage in Rom einer seiner Neffen, der auch Francesco Mitti heißt, bloß deshalb verhaftet worden, weil er denselben Namen trägt, aber nach Ansicht der Faschisten ist das ein propofatorischer Name.
Nitti felbft ft ohne jedes Berufungsrecht als Professor der Universität Neapel abgesetzt worden, obwohl er 30 Jahre lang ordentlicher Professor und neunmal Minister gewesen ist. Die Faschisten haben früher schon seine Billa in Rom geplündert und zerstört.
Selbst wenn die Bergarbeiter im mitteldeutschen Brauntohlenrevier noch durchweg auf solch niedriger Kulturstufe ständen, um aus falscher Besorgnis ob einer Verminderung ihres Lohneinkommens, einer Fortdauer dieses durch Ablauf erledigten Mehrarbeitsabkommens zuzustimmen, dürfte ein Reichsarbeitsministerium, das sich seiner Aufgabe bewußt ist, die Hand dazu nicht bieten. Ob es mun gar wagt, diesen von den Bergarbeitern abgelehnten höchst überflüssigen Schiedsspruch an Stelle des eintretenden Rechtszustandes für allgemein verbindlich zu erflären und sich so um den letzten Rest seines Ansehens in den Reihen der gesamten Arbeitnehmerschaft zu bringen, bleibt abzuwarten. Hat das Reichsarbeitsministerium nicht mehr die Kraft und Macht, den unverschämten Anforderungen des Unternehmertums entgegen zutreten, dann müßte es dies rund heraus erilären. In diesem Falle hat es total versagt. Auf dieser Bahn geht es nicht mehr weiter. Das Mehrarbeitszeitabkommen darf nicht verlängert werden. Dieser Schandfleck deutscher Sozialpolitit muß getilgt werden!
Vor einigen Tagen sind wir, von Aden kommend, hier angelangt: Tom Shaw, der internationale Sekretär der Textilarbeiter, James Hindle und Markel Brothers, die Vertreter der englischen Textilarbeiterorganisation, Karl Schrader , der Vertreter der deutschen , die Sekretärin Miß Shaw und ich, der Dolmetscher. Bon den Wundern dieses tropischen Märchenlandes haben andere erzählt. Wir sind hierher gesandt, um die Lage und das Leben der Arbeiter zu studieren, von ihnen soll auch hier zuerst die Rede sein.
Joshi, der indische Gewerkschaftsführer, empfing uns mit einer Delegation an der Landungsbrücke. Er dürfte etwa 50 Jahre alt sein, war ursprünglich Lehrer und wurde später Generalsekretär der„ Servants of India", einer übers ganze Land verbreiteten bürgerlichen philantropischen Gesellschaft, die sich auch sozialreformerisch betätigt und mit den Gewerkschaften in fachlicher und persönlicher Berbindung sehr enger Art steht. Sie stellt der Gewerkschaftsbewegung eine Reihe von Führern. Auch Joshi selbst versteht sein gewerfschaftliches Führeramt als Beauftragter und besoldeter Beamter der Servants of India". Der Gewerkschaftsbewegung dient Joshi, wie alle intellektuellen Führer, ehrenamtlich. In der gesetzgebenden Bersammlung, dem Barlament Indiens , ist er der einzige Sprecher der Arbeiterschaft, und zwar nicht als gewählter, sondern von der Regierung ernannter Abgeordneter. Ein Wahlrecht zum zentralen Barlament hat die indische Arbeiterschaft bis heute nicht, denn das Recht der Stimmabgabe ist an einen Benſus von 2000 Rupien jährliches Einkommen gebunden, während selbst die höchsten Arbeiterlöhne 700 Rupien schwerlich übersteigen.
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Die aus der Arbeiterschaft selbst hervorgegangenen Gewerkschaftsführer sind noch sehr gering an Zahl, was begreiflich ist, wenn man bedenkt, daß selbst nur ein ganz fieiner Bruchteil der Arbeiter die Heimatsprache zu lesen und zu schreiben versteht, indeffen zum Führeramt und dem damit verbundenen Umgang mit Unternehmern, Behörden und Regierung notwendig auch die Kenntnis des Englischen gehört. Diese illiteracy"( Amalphabethentum) bezeichnet Joshi überhaupt als das schlimmste der zahlreichen und schweren sozialen Uebel hier zu Lande. Nicht nur wird dadurch das Zusammenarbeiten zwischen Europäern und Indern in den Werkstätten erschwert und eine Quelle bedauerlicher Mßverständnisse und unaufhörlicher Beschwerden geschaffen: die Unkenntnis des Lesens und Schreibens erschwert auch das berufliche Fortkommen der wirklich tüchtigen und qualifizierten brannen Arbeiter in mechanischen Wert. stätten usw., wo das Schreiben von Bestellzetteln, Lesen von