fTr. 16 ♦ 44. Jahrgang
1. Heilage Ües Vorwärts
vlenstag, 11. Januar 1927
Zillen im Winterquartier.
Wenige Wochen vor Weihnachten beziehen die Zillen auch in Berlin ihr Winterquartier. Zwischen der Fischer- und Waisenbrücke und draußen an der Oberbaumbrücke liegen viele von ihnen. Don sind die schwerfälligen Schleppkähne an den Pfählen festgemacht und warten, bis alle Wasserwege wieder fahrbar sind, um Anfang März mit neuer Ladung auf Fahrt zu gehen.«Zu Berg" und.zu Tal" fahren sie, nach Hamburg , Lübeck und Nach den pommerschen Häfen, die Elbe aufwäNs bis nach Böhmen , bald vom Schlepp. Kämpfer gezogen, bald durch Staken oder Treideln fortbewegt oder vom Wind getrieben, der sich in den rasch gesetzten Segeln fängt. Transportiert werden Bretter, Mauersteine, Kohlen Getreide, Me- talle! Obst bringen eigentlich nur die Zillen aus Böhmen . Die Transportgenossenschast in Berlin , die in Lübeck , Stettin , Magde- bürg Geschäftsstellen hat, nimmt die Aufträge entgegen, die nach der Reihenfolge, in der sich die Schisser eintragen lassen, oergeben werden. Der vergangene Sommer brachte ein lebhafteres Geschäft, da infolge des englischen Streiks viel Kohle ausgeführt wurde. Dann kann sich der Schiffer soviel ersparen, daß er mit seiner Familie die tote Zeit ini Winter überdauert. Die Arbeit beschränkt sich dann auf eine gründliche Reinigung des ganzen Kahnes, der mit seiner 41 Meter Länge und nahezu 6 Meter Breite immerhin zu schaffen gibt. Mit Schrubber, Besen und Gießkanne rückt man dem von den letzten Ladungen zurückgebliebenen Staub zuleibe. In der kleinen Wo h n k a j ü t e am Heck des Kahnes wäscht die Frau für die oft vielköpfige Familie. Pom Deck fällt spärliches Licht durch die Glasluke. An den Wänden sind hinter einem Bor» hang übereinander die Betten angeordnet. Ein Tisch und ein kleiner Eisenofen vervollständigen die Einrichtung. Der an die Wohnkajüte anstoßende leere Laderaum wirkt wie ein langgestreckter Tanzsaal.
Don den auf Deck befindlichen Pumpen laufen Rohrleitungen unter den Boden dieses Laderaumes. Zur Aufnahme der drei Mastbäume dienen große Gestelle mit Ausnehmungen und eisernen Halbringen. In einem geräumigen Kasten lagern säuberlich zusammengerollt die Segel, während man die 2 4 Meter hohen Masten in Stettin zur Aufbewahrung zurückgelassen hat. Große Schissslompen mit vorschriftsmäßigen roten und grünen Scheiben stehen in einer Ecke. Durch ein Türchen, das der Eingang einer Hunde- Hütte zu sein scheint, windet man sich in die.Junggesellen- wohnung" am Bug. Hier hausen die Bootsleute. Manche von ihnen besuchen den Winterkurs für Schiffer in Charlottenburg , um sich das Steuermannspatent zu. erwerben. Andere schnitzen klein- Schiffsmodelle und malen kleine Oelbilder, auf denen stolze Segelschiffe im Kampf mit mächtigen Meereswogen zu sehen sind und anderes mehr. Viele sind aber auch in die Heimat gefahren, um irgendwo Arbeit zu finden, die hinweg helfen soll über die lange Zeit des Winters. Sie wirken dann als Tagelöhner, als Zimmerleute, sie arbeiten beim Bauer, zuweilen auch aus eigenem Grund und Boden. Dann bauen und werken sie, um das ärmliche Haus in wohnlichem Zustand zu erhalten. Oben auf Deck hat man die S ch i e b e st a k e n mit einer Leine verbunden und hochgestellt, und lustig flattert die Wäsche im Wind. Neben dem mächtigen Steuerruder schaukelt leise das Beiboot, von der benachbarten Zille bellt ein Spitz herüber, und manche Antenne auf Deck beweist, daß auch der Schiffer mit den technischen Errungenschaften seiner Zeit Schritt hält— vorausgesetzt, daß sie nicht viel kosten. Um- braust vom Großstadtverkehr, schlafen die Zillen. Fast scheint es, als sähe man einen Schiffsfriedhof, in dem sich die allen, abgenutzten Kähne zur großen Ruhe versammelt hätten.
Der �lrzt auf üer Anklagebank. Ei« Mißgriff der Justizbehörde zum 2t8. Ein 21jähriges junges Mädchen R. lernt in München in befreundeter Familie einen russischen Leutnant a. D., nennen wir ihn o. K., kennen. Es entstehen Beziehungen, die nicht ohne Folgen bleiben. Das junge Ding fühlt sich derart elend, daß es einen Arzt aufsuchen muh. Die Mittel, die dieser ihr zur Behebung ihrer Beschwerden gibt, nutzen nichts, v. K-, dem sie ihren Zustand offen- bart, erklärt kurzerhand: die Frucht muß weg. Auch sie ist dieser Ansicht, da v. K. sie nun doch nicht heiraten will, obgleich er es ihr versprochen hatte. Beide beschliehen, nach Berlin zu fahren, da o. K. hier einen bekannten russischen Arzt hat. Der Arzt untersucht die R., lehnt jedoch seinerseits jeden Eingriff ab und nennt den jungen Leuten einen Frauenarzr. Dieser ist bereit, den Eingriff vorzunehmen, falls das ärztliche Attest eines seiner Kollegen die Fruchtabtreibung als ärztlich angezeigt bescheinigen würde. Er hatte seinerseits einen Lungenspitzenkatarrh und basedoide Erschcinun- gen festgestellt, bei denen das Austragen der Frucht für die Mutter eine Gefahr bedeuten tonnte. Die Aerztin , zu der der Frauenarzt die R. schickte, bestätigte auch ihrerseits, daß hier ein Abort angezeigt wäre, falls eine innere Therapie keinen Erfolg haben würde. Da die Frucht schon vier Monate alt war, somit jeder weitere Aufschub des operativen Eingriffs eine Erhöhung der Gefahr für die Patten- tin bedeuten mußte, eine schnelle Behebung des Lungenspitzenkatarrhs und der basedoiden Erscheinungen jedoch nicht zu erhoffen war, nahm der Arzt in einem Berliner Sanatorium unter der üblichen Assistenz von Krankenschwestern den Eingriff entsprechend den Regeln der ärzllichen 5kunst vor. Alles verlief gut und das Mädchen kehrte nach München zurück. In München erzählte sie ihren Bekannten von der Operation. So wurde der Fall auch einem Menschen bekannt, der äuf die R. schlecht zu sprechen war. Er erstattete bei der Polizei Anzeige t die Folge war eine Anklage geaen die R., gegen den Leutnant a. D. v. K., gegen den Berliner Arzt und gegen eine Bekannte der R. Die ersten drei hatten sich vor dem Schössengericht Schöne- b e r g zu verantworten. Der eirrzige, der den operativen Eingriff nicht für angebracht erklärte, war der Münchener Gerichtsarzt. Da- gegen waren bekannte Berliner Aerzte, die als Sachverständige er- schienen waren, ar-ic Med.-Rat Dr. Stürmer, Pros. Glaser, Prof. Nagel, Prof. Abel, Prof. S i e b m a n n. c i n st i m m> g der Ansicht, daß der operative Eingriff unter allen Um- ständen angezeigt gewesen war. und daß die Unterlassung des Ein- grifss womöglich zu einem tödlichen Ausgang für die Mutter hätte führen können. So blieb dem Staatsanwalt nichts anderes übrig, als von seinem Strafantrag abzusehen. Mit voller Berechtigung führte Rechtsanwalt Dr. Klee, der den Berliner Arzt verteidigte, aus, daß eine derartige Praxis der Staatsanwaltschaft, gegen Aerzte vorzugehen, die in Erfüllung ihrer beruflichen Pflicht bei Schwangerschaften operattve Eingriffe vornehmen, zur Folge haben würde, daß die Aerzte sich in Zukunft scheuen würden, die Opera- tionen vorzunehmen und es vorziehen würden, die P a t i e n- tinnen ihrem Schicksal zu überlassen. Das Gericht sprach die Angeklagten frei.— Der Mißgriff der Staatsanwaltschaft ist aber dadurch nicht aus der Welt geschafft. Der Freisvruch sollte ihr für die Zukunft als Warnung dienen. Nachtüienft in üen Kassenambulatorien. Die Schwierigkeiten, die zu überwinden sind, ehe man nachts ärztlichen Beistand erhält, sind bekannt. Diel« Aerzte lassen sich erst die Honorierung sicherstellen, es ist sogar schon vorgekommen, daß sich der Herr Doktor verleugnen lieh. Da die Aerzte der wenigen Rettungsstellen meist überlastet sind und deshalb die Wache nicht verlassen können, ist schon mancher Patient gestorben, der noch hätte gerettet werden können. Erst dieser Tage wurde in dem Brand - sttftungsprozeß Fuchs an Gerichtsstatt festgestellt, daß die Frau des verunglückten Kellermeisters Klante die ganze Nacht nach einem Kassenarzt herumlief, der bereit gewesen wäre, zu ihrem schwer- kranken Mann zu kommen. Infolge des Fehlens jeder ärztlichen Hilfe ist dieser dann verstorben. Um dieser offenkundigen Notlage der versicherten Bevölkerung abzuhelfen, haben die Berliner Kassenambulatorien stän- digen Nachtdien st eingerichtet. Dieser Nachtdienst darf aber nach dem letzten Schiedsspruch nur den Familienangehörigen und den Versicherten zugute kommen, die sich in der Behandlung der Ambulatorien befinden. Die standestreuen Aerzte haben auch hier wieder den Sieg über die Interessen der versicherten Bevölkerung davongetragen, indem das Schiedsamt nur den Versicherten die Möglichkeit zuerkannt, in t*r Nacht ärztlich« Hilfe zu erhalten.
Die Wunöer der Klara van Haag. 59] TJoa Johannes Buchholh. Aus dem Dänischen übersetzt von Erwin Magnus . Eine Woche später kam Hedwig unangemeldet heim. Die Mutter war bestürzt, sie sowohl in den Kleidern wie in der Sprache in eine Dame verwandelt zu sehen, und wagte nicht, sie an sich zu ziehen, sondern blieb vor ihr stehen und weinte. Der Vater hingegen strahlte vor Willkommenfreude. Er legte alle Arbeit beiseite, um bei ihr zu sitzen, mit ihr zu reden und sie anzusehen. Donnerwetter, was für eine Tochter man auf seine alten Tage bekommen hat, sagte er mehrmals bewundernd.'Hedwig fühlte einen Stich vom Trotz der Kind- heit in sich, als sie ihn sah, aber das verschwand schnell. Sie waren ja beide jetzt neutral. Während sie seine Bewunderung einkassierte, war auch keine Zeit für anderes. „Du hast dich wirtlich oerändert," sagte er lächelnd. „Du auch." „Ach, zu meinem Vorteil?" „Glaubst du, etwas anderes wäre möglich gewesen," sagte sie nachdenklich, aber dann lachten sie beide und waren gute Freunde. Hedwig ließ ihn alles erzählen, was sie im voraus aus den kurzen Briefen der Mutter wußte. Am meisten von der Gnädigen, die das Glück über das Haus ausgeschüttet hatte, über Sioerts Ehe und den Ziegeleihandel. Ueber letzteres sprach er weiter, und. während er seine eigenen Worte an- hörte, ging etwas in ihm vor. Den ganzen Winter hatte er sich tot gewünscht. War es da nicht rein zum Erstaunen, daß er sich jetzt die Ziegelei als ein großartiges Unternehmen schildern hörte, das ihm bisher täglich Freude verschafft hatte und ihnen zudem bald großen Reichtum verschaffen sollte! Er log sich glücklich und war in dieser Stunde glücklich. „Und du sollst wahrlich deinen Anteil haben, mein Kind. Wenn der Brand fertig ist und das Geld hereinzuströmen beginnt. Wahrlich sollst du das. Eine Aussteuer sollst du haben. Bist du verheiratet?" „Nein," sagte sie und wurde etwas düsterer. Aber es eficl ihr doch, daß er ein wenig intim und väterlich war. ur: Bist du verheiratet? sagte er.
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„So, nicht. Nun, einerlei. Du sollst ein Reitpferd von mir haben, oder was du sonst willst, wenn es gut geht." Er schwieg ein wenig und schmeckte die Worte gleichsam mit der Zunge: Wenn es gut geht. Dann lachte er mit schiefgelegtem Kopf, pickte sie auf den Arm und sagte:„Ja, denn es ist ja ein Wagestück, aus das ich mich eingelassen habe. Eine Ziegelei fast ohne Geld zu kaufen und ganz ohne Geld zu betreiben. O— ein Spiel um Leben oder Tod. Aber ich gewinne. Du. Ich gewinne das Spiel!" Hedwig aß daheim Mittag und sagte dann, daß sie zu Frau van Haag gehen wolle. „Ich gehe mit!" sagte der Vater. „So," sagte Hedwig und hob die Brauen. „Ich meine: erlaubst du, daß ich mitgehe!" Hedwig nickte gnädig, er dürfe gern. Dann gingen Vater und Tochter mitsammen durch die Stadt, und es traf sich, daß sie gerade Herrn van Haag zur Tür von Wangs Hotel hineingehen sahen. Sie sprachen nicht darüber, fühlten aber beide eine große Erleichterung. Gleich darauf waren sie im Zollamt. Sie gingen nach oben und direkt in die Stube. Frau van Haag saß in ihrem Zimmer am Schreibtisch mit einem Kissen hinter dem Rücken, alz sie aber Hedwig sah, sprang sie auf, und es war, als streife sie alle Krankheit ab. Ihre weißen Wangen erhielten jetzt Farbe und sie schloß Hedwig in ihre Arme. Sie sahen sich fest in die Augen und vergaßen für eine Weile Egholm. Aber dann setzten sie sich alle drei dicht zusammen und sprachen von vielerlei. „Sie freuen sich auch mit dem Mädchen, Monsieur Eg- Holm, das kann ich Ihnen ansehen. Oder hat sich gleichzeitig etwas Gutes in der Ziegelei ereignet?" „Ja, auch das," sagte Egholm geheimnisvoll. „Aber der Lehm sei ja nicht gut, meinten Sie neulich." „Nicht gut. Habe ich das gesagt? Der ist herrlich. Sie können selbst eine Probe sehen, vielleicht glauben Sie mir dann. Sehen Sie." Er steckte die Hand in die Tasche und zog sie, mit einer gelben, bröckligen Masse gefüllt, wieder heraus. „Merkwürdig, daß aus so etwas Steine werden können," sagte die Gnädige. Egholm schwieg ein Weilchen und ließ die andern reden:
dann brach er in die Unterhaltung ein. Es war deutlich, daß er über etwas nachgedacht hatte. „Ja," sagte er,„meine Zweifel an der Güte des Lehms haben sich als unbegründet erwiesen. Der Stein hält gut zusammen, und es kann schon als gegeben betrachtet werden, daß alles gut gehen wird. Ich kann nicht anders, ich muß es schon jetzt erzählen, weil Sie ja verreist sind, wenn der Brand vorüber ist." „Nein, Egholm, ich glaube, ich bleibe, bis der Tag über- standen ist." „Ja, ja, aber ich habe, wie gesagt, Sicherheit für einen ausgezeichneten Ausfall." „Meinen Sie wirklich?" „Ich kann gut sagen, daß ich es weiß," sagte Egholm mit fester Stimme. Gleich darauf verabschiedete er sich, und die Gnädige begleitete ihn trotz seiner Proteste ganz bis auf den Korridor hinaus, als sie aber wieder kam, war sie noch stark mit seinen Worten beschäftigt. „Ich weiß nicht," sagt« sie.„ob dein Vater recht hat, aber ich wollte, er hätte es. Ach, Hedwig, könnten wir doch den Mann glücklich machen, gegen den das Leben so schlecht gewesen ist!" „Die Schlechtigkeit hat er an andern gerächt," sagte Hedwig kalt und klar. „Das ist ricktig! Den Urheber konnte er ja nicht treffen. Er hat sich an Mütterchen gerächt, an dir und den andern. Deshalb war er ein unglücklicher Mensch." „Für mich ist Vater eigentlich eher verrückt als un- glücklich." „Unsinn, Hedwig. Er ist in gleich hohem Maße toll und unglücklich." Frau Klara kauerte sich zusammen und sah mit großen Augen auf Hedwig. Ihre Stimme bekam einen zitternden Klang, der den tiefsten Eindruck auf die Zubörerin machte. „Ach— denk einmal richtig, wie schrecklich es ist, mit einem kranken Gehirn geboren zu werden. Wir andern, wir gehen in die Welt hinein mit einem Svarkafsenbuch versehen, auf das wir Geld abheben können. Kaspar Egholm— der Unglückliche— hat kein Sparkassenbuch, sondern eine Tollheit, die an dem Tage ausbricht, als er über einen Stein fällt und mit der Stirn« gegen den Boden schlägt."(Fortsetzung folgt.)