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Abendausgabe

Nr. 1944. Jahrgang Ausgabe B Nr. 9

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Tel.- Adreffe: Sozialdemokrat Berlin

Vorwärts

Berliner Volksblaff

10 Pfennig

Mittwoch

12. Januar 1927

Berlag und Anzeigenabteilung: Geschäftszett bts 5 Uhr Berleger: Borwärts- Berlag GmbH. Berlin S. 68, Lindenstraße 3 Fernsprecher: Dönhoff 292- 297

Zentralorgan der Sozialdemokratifchen Partei Deutschlands

Die Gewerkschaften bei Curtius.

Der Besitzbürgerblockkanzler will die Arbeiterverbände einfangen. Heute mittag hat die schon angekündigte Besprechung des von| tag, namentlich für Betriebe, in denen mit giftigen Stoffen ge­Hindenburg mit der Regierungsbildung betrauten Reichswirtschafts- arbeitet wird. minifters Curtius mit den Bertretern sämtlicher gewert

schaftlichen Spizenverbände stattgefunden. Bon den

Weiter wurde die Frage der Ueberstunden und der Sonn­tagsruhe behandelt. In der Arbeitslosenversicherung verlangen die Gewerkschaften eine stärkere Staffelung der Unterstützungsfäße. freien Gewerkschaften nahmen an der Besprechung u. a. feil die Genoffen Spliedt und Erdmann vom Allgemeinen Deut- wurde mit besonderer Sorge hingewiesen. Hierzu murde eine be­Auf das Wiederanwachsen des Arbeitslofenbeeres schen Gewerkschaftsband und Stehr und Schweiher vom Afschleunigte Arbeitsbeschaffung, namentlich in der Nähe der Bund. Curtius, der den Auftrag und die Absicht hat, eine Besik- Großstädte durch Bereitstellung entsprechender Mittel und eine bürgerblodregierung zu bilden, hielt es für notwendig, ftärkere Ausnutzung des Russengeschäftes als dringend notwendig um den Schein zu wahren, die Bertreter der Arbeiter- und Ange- bezeichnet. ftelltenverbände zur Stellungnahme zu feinem Regierungsprogramm einzuladen und ihnen zu versichern, daß er durchaus keine arbeiter­feindliche Politik zu machen gedente.

Die Gewerkschaften brachten übereinstimmend zum Ausdruck, daß für sie der springende Punkt diefer gegenwärtigen Krise die Frage der Sozialpolitik und ganz besonder das Notgefeh über die Arbeitszeit, d. h. die Sicherung des Achtstundentages fein würde. Herr Curtius nahm diese Erklärung zur Kenntnis. Daß er die Wünsche der Gewerkschaften nicht zu erfüllen gedenkt, ist sowohl ihm wie den Gewerkschaften be­kannt und daraus dürfte fich die weitere Stellungnahme der Arbeiter und Angestelltenverbände von selbst ergeben.

Ein parlamentarisches Nachrichtenbureau meldet über die Ber­handlungen:

Reichswirtschaftsminister Dr. Curtius empfing die Führer der drei Gewerkschaftsrichtungen getrennt und zwar als erste die Bertreter der christlichen Gewerkschaften Baltrusch, Brost und Otte. Dabei wurde festgestellt, daß diese Besprechungen feinen politischen Charakter haben, da die politische Seite der Regierungsbildung den parlamentarischen Instanzen zufällt.

Die Bertreter der Gewerkschaften trugen die Forderungen vor, die sie an die fünftige Reichsregierung stellen. Unter den sozial­politischen Forderungen wurde besonders die Notwendigkeit einer tragbaren 3wischenlösung der Arbeitszeit frage unterstrichen, da das Arbeitsschutzgesetz bis zu seiner Ver­

Eine ausreichende Bertretung der Arbeitnehmer in den Wirtschaftskammern sowie auf der im Mai stattfindenden Weltwirtschaftskonferenz wurde ebenfalls perlangt. Schließlich wurden auch noch die Fragen des Wohnungsbaues und der Dr. Curtius ging in seiner Erwiderung auf die einzelnen Punkte ein. Dabei teilte er mit, daß das Wohnungsbauprogramm für 1927 bereits vorliege und daß Hoffnung bestehe, auch für die weiteren nächsten Jahre zu einer Berständigung zu gelangen.

3ollpolitik behandelt.

In den Fragen des Kartellmesens hält er es für münschenswert, zunächst die Ergebnisse des Enqueteausschusses ab= zuwarten.

Im Anschluß an die christlichen empfing Dr. Curtius die Ver­treter der Freien Gemertschaften und eine Stunde später die Vertreter des Gewerkschaftsringes.

Die Unternehmer bei Curtius.

Dr. Curtius hat die Vertreter der Unternehmerverbände für morgen, eventuell übermorgen zu einer Besprechung eingeladen. Es könnte sein, daß diese Besprechung durch das Scheitern der Mission Curtius überholt wird.

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Ein juristisches Oberhaus?

Eine Erwiderung.

Von Dr. Gustav Radbruch .

Genosse Kurt Rosenberg hat hier vor nicht langer 3eit( ,, Borwärts" vom 18. November 1926, Morgenausgabe) den Entwurf eines Gejeges über die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Vorschriften des Reichsrechts" kritisch besprochen. Das geplante Ge= fetz ist für unser gesamtes Verfassungsleben so wichtig, daß es wird, noch einmal auf die aufgeworfenen Fragen zurückzu­jegt, nach Erscheinen der Begründung des Entwurses, nötig kommen.

Gerichten die Möglichkeit zu nehmen, die Anlaß und wesentlichste Aufgabe des Entwurfes ist, den Verfassungsmäßigteit ordnungsmäßig ver­tündeter Reichsgesehe in Frage zu ziehen. Während sich im kaiserlichen Deutschland die Gerichte niemals das Recht angemaßt hatten, die Verfassungsmäßigkeit mit der kaiserlichen Unterschrift versehener Reichsgesetze anzuzweifeln, glaubt das Reichsgericht die Unterschrift des republikanischen Reichspräsidenten und der Gegenzeichnung republikanischer Minister nicht die gleiche, jeden Einwand gegen die Ber­faffungsmäßigkeit des verkündeten Gesetzes abschneidende Kraft zuerkennen zu sollen. Jedes Gericht soll fähig sein, die Verfassungsmäßigkeit von Reichsgesehen nachzuprüfen! Dabei fann ein Gericht zu einem anderen Ergebnis tommen als ein anderes Gericht und so ein Tohumabohu der Rechtsunsicher­heit hervorgerufen werden! Schlimmer: der Justiz wird er­möglicht, die Absichten des Parlaments planvoll zunichte zu machen, also zum Schaden der Staatsautorität einen erbitter­ten Kampf zwischen der rechtsprechenden und der gesetzgeben­den Gemalt zu entfesseln! Angesichts der vielberufenen Ber­trauensfrise der Justiz" fann den Gerichten dieses neu ange­maßte Recht am allerwenigsten belassen werden. Ich weiß mich deshalb mit dem Genossen Rosenberg einig, wenn ich die Absicht des Entwurfes warm begrüße, dieser gefährlichen Rechtsanmaßung allereheftens ein Ende zu sehen.

Die Verhandlungen unterbrochen. Der Entwurf will das Prüfungsrecht, das es den ein­Die parlamentarischen Verhandlungen über die Regie zentrieren. Genosse Rosenberg hat diesen Vorschlag des Ent­zelnen Gerichten nimmt, im Staatsgerichtshof ton­rungsbildung find bis zur Entscheidung der Zentrumsfraktion wurfes bekämpft; er hat ihn dahin gekennzeichnet, daß der verschoben worden. wirklichung noch längere Zeit in Anspruch nehmen dürfte. Die bisschen Bresse hält es für höchstwahrscheinlich, daß die Zen- Willensäußerung zu annullieren; er ist der Ansicht, das ord­Der dem Zentrum nahestehende Reichsdienst der Deut- Staatsgerichtshof wie ein juristisches Oberhaus" über die gefeßgebenden Organe gestellt werde, fähig, deren her bekanntgewordenen Absichten der Parteien über die Aenderung trumsfraktion sich dem Zwischenbeschluß des Fraktionsvor- nungsmäßig verkündete Gesetz dürfe überhaupt keiner Nach­der Arbeitszeitverordnung gehen den Gewerkschaften nicht standes anschließen merde. meit genug. Vor allem verlangen sie die dreigeteilte In diesem Falle würde der Versuch des Reichswirtschafts­Schicht in der Schwerindustrie und den Acht stunden- ministers Curtius gescheitert sein.

Washingtons Gewaltpolitik.

Die ,, Neutralisierung" Nicaraguas .

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Scharfe Proteste in Washington selbst.

Managua , 12. Januar. ( WTB.) Amerikanische Marine-| tapitals zur Wiederherstellung gesunder Wirtschaftsverhältnisse,

den, nicht von den Gerichten und ebensowenig von einer an prüfung feiner Verfassungsmäßigkeit mehr unterzogen wer= deren Stelle. Hier weiche ich von ihm ab: bei Ausschluß jeder Nachprüfungsmöglichkeit würde die Reichstagsmehrheit und die mit ihr politisch gleichgerichtete Reichsregierung die Möglichkeit haben, sich ungehemmt über die grundrechtlichen Beschränkungen der Gesetzgebung hinwegzusehen. Weil jede Partei einmal zu der durch eine solche Verfassungsverlegung benachteiligten Minderheit gehören kann, hat jede Partei das

gleiche Intereffe daran, daß gegen ordnungsmäßig verkündete, aber verfassungswidrig beschlossene Gesetze die Möglichkeit einer Machprüfung eröffnet werde.

fruppen find den Fluß Escondido 60 englische Meilen hinaufge- und fein Staat tann es sich daher leiften, Amerita zu verschnupfen. einig: die Nachprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen

im Innern Nicaraguas eine neutrale zone zu errichten. Eine andere neutrale Zone ift an der Mündung des Wawa vorbereitet worden. Im Gebiet des Wawa haben viele amerikanische Mahagonigesellschaften ihren Sih.

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Mit unübertrefflichem 3ynismus jetzt die Regierung Coolidge ihre Interventionstätigkeit in Nicaragua zugunsten des geschlagenen Usurpators Diaz fort. Auch gegen Merifo verstärkt sich der amerikanische Druck, und Washington geht sogar dazu über, die Vorbereitungen zu einer revolutionären Bewegung katholischer Fanatiker gegen die Regierung Calles auf eigenem Boden nicht nur zu dulden, sondern sogar zu fördern. Zur Ehre der amerikanischen Nation muß zwar festgestellt werden, daß eine starke Opposition sich gegen diese imperialistische Politit geltend macht und vor scharfen Angriffen auf Coolidge und auf die ihn beratenden Erdölinteressenten nicht zurückschredt. Aber es scheint, als ob diese Proteste auf die Washingtoner Regierung bisher ebensowenig Eindrud gemacht hätten, wie die Rundgebungen und Warnungen aller lateinamerika nischen Staaten.

Amerika glaubt, daß es sich diese Bergewaltigung, fleinerer Nachbarstaaten erlauben fönne, nachdem ihm in der Vergangenheit alle derartigen Unternehmungen geglückt seien. In der Tat ist die Geschichte der Ausdehnung des nordamerikanischen Einflusses in Mittelamerika nichts anderes als eine lange Rette von bruta len Bergewaltigungen, die mit verlogenen Vorwänden und moralisierenden Redensarten nur schlecht vertuscht werden konnten. So hat es selten einen so frevelhaft angezettelten Krieg gegeben wie den, den die Bereinigten Staaten zur Jahrhundertwende gegen Spanien unter einem ebenso nichtigen wie unwahren Vorwand nom Zaun gebrochen haben, um Portorico einsteden und ein regel rechtes Protektorat über Stuba errichten zu können. Aehnlich ist Washington gegenüber San Domingo, Haiti , Columbien( zur Bil dung einer selbständigen" Republit Banama) vorgegangen und nun versucht es, dieses Spiel gegenüber Nicaragua und Merito fortzusetzen.

Amerita glaubt um so mehr, sich diese Brutalitäten leisten zu können, als es damit rechnet, daß die europäischen Staaten es nicht wagen werden Partei für den Schwachen gegen den Starten zu ergreifen. Alle europäischen Länder schulden den Vereinigten Staaten Gelb, alle benötigen die Hilfe des amerikanischen Finanz­

So lautet wenigstens der Aber sie täuschen sich: Wenn auch die europäischen Regierungen eine Stellungnahme zu den mittelamerikanischen Ereignissen ver meiden werden, so wird die demokratische öffentliche Mei­nung Europas unter Führung der sozialistischen Inter­nationale es sich nicht nehmen lassen, die Dinge beim rechten Namen zu nennen und das Gewissen der Welt gegen die amerita­nische Gewiffenlosigkeit mobil zu machen.

Die Haltung Ameritas gegen Merito und Nicaragua erklärt zu gleich die Ablehnung, die die feit 1920 in Amerita am Ruder be­findliche Partei sowohl gegen den Bölkerbund wie auch gegen den Haager Schiedsgerichtshof an den Tag gelegt hat. Die Amerikaner wollten vom Völkerbund nichts wissen, weil sie in ihm ein Hindernis für die Verwirklichung ihrer imperialistischen Pläne in Zentralamerika erblickten. Noch deutlicher tritt dieser Vor­bedacht in die Erscheinung, wenn man bedenkt, daß die Vereinigten Staaten sich zwar bereiterklärten, dem Internationalen Schieds­gerichtshof beizutreten, aber nur unter dem Vorbehalt, daß diefer nicht in Angelegenheiten eingreifen dürfe, die die Bereinigten Staaten berühren.

Und diese Regierung ist es, die bei jeder Gelegenheit so von oben herab an die Europäer Friedensmahnungen richtet und das amerikanische Beispiel ihnen als Muster vorhält! Diese Regierung ist es, die immer wieder von Beltabrüftung spricht, zugleich aber, namentlich bei den Arbeiten des vorbereitenden Abrüftungskomitees in Genf , die meisten Hindernisse aufgetürmt hat. Amerika gilt auf den meisten Gebieten als das Land der Weltrekorde: in der Wirtschaft, im Sport, in der Bautechnik usm. Aber auf einem Gebiet fchlägt Washington unbestritten alle Reforde bei weitem: auf dem Gebiete der politischen Seuche lei. Auf die Washingtoner Regie. rung trifft das Wort zu, das der Spötter Heinrich Heine -lange vor der Prohibitionsfarce geprägt hat:

Ich weiß, sie trinken heimlich Wein

und predigen öffentlich Basser."

früheren Direktors der Allgemeinen Industriebant, eines Budapester Die Wiener Bantifandale haben jekt zur Verhaftung des Rechtsanwalts Dr. Sas vary und des Verwaltungsratsmitgliedes Kommerzialrat Dr. Des banber geführt. Sie wurden nach Hinter­legung einer hohen Raution wieder auf freien Fuß gesetzt.

Freilich, insoweit gehe ich mit dem Genossen Rosenberg darf nicht einer rein juristisch besetzten Instanz anvertraut werden. Der vom Entwurf dazu berufene Staatsgerichtshof ſetzt fich ausschließlich aus sieben Richtern zusammen: aus dem Prä­fidenten des Reichsgerichts, drei Reichsgerichtsräten und drei Verwaltungsrichtern, die in Zukunft dem Reichsverwaltungs­gericht, bis zu dessen Gründung aber hohen Landesverwal­tungsgerichten entnommen werden sollen. Gewiß: die Frage der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes ist eine juristische Frage aber sie ist eine juristische Frage, bei der in beson­derem Maße politische Interessen zwar nicht als Richtpunkte, wohl aber als Gegenstand der rechtlichen Würdigung zur Er­örterung stehen. Wir haben uns immer mehr gewöhnt, neben Richtern Bertretern der Parteiintereffen Siß in den Gerichten zu gewähren, zwar nicht Vertretern des individuellen Partei­interesses, wohl aber des Gruppeninteresses, denen es sich eingliedert, und auf diese Weise den Richtern die große sozio­logische Kampflage zu veranschaulichen, deren Einzelfall der besondere Rechtsstreit ist. Diefer beim Arbeitsgericht bewährte Gedanke verlangt auch auf den Staatsgerichtshof Anwendung, soweit er über die Verfassungsmäßigkeit von Reichsgesetzen zu entscheiden hat. Er muß neben Richtern aus Polititern zusammengefeßt sein, und das fann sehr einfach erreicht werden, wenn statt des Staatsgerichtshofs in der Zusammensetzung des§ 18 Nr. 1 des Gesetzes über den Staatsgerichtshof der gemäߧ 3 dieses Gesetzes zusammen­gesetzte Staatsgerichtshof berufen wird, zu dem neben den Richtern zehn Beifiker gehören, die zur Hälfte von Reichstag und Reichsrat gewählt werden, aber Parlamentarier nicht sein dürfen.

Noch manche andere gefährliche Vorschläge des Entwurfs bedürfen der Berichtigung. So halte ich die unbefristete Initiative des Gerichts für eine Entschei dung des Staatsgerichtshofs über die Ver= faffungsmäßigkeit von Reichsgefegen für Staatsgerichtshof sollte auf Verfassungsstreitigkeiten, d. h. überflüffig und schädlich. Das Verfahren vor dem Meinungsverschiedenheiten zwischen den an der Gefeßgebung beteiligten Organen, beschränkt bleiben. Sind Reichspräsident und Reichsregierung, Mehrheit und Minderheit von Reichs­