Nr. 26+ 44. Jahrgang
1. Beilage des Vorwärts
In der Wiesenburg
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Sonntag, 16. Januar 1927
das Asyl als ihre einzige Heimat" ansehen. Alles löffelt die Abendsuppe Knochenbrühe mit Mehl gedict, zu der eine dide Scheibe Brot gegeben wird. Wenn das Brot nur besser wäre! Manchmal ist es so sauer, daß die armen Teufel vor Magenbeschwerden teine Ruhe finden können ift Suppe und Brot einmal beffer, so tommen die meisten mit der Bitte um eine fleine Bugabe"; denn für viele, ach, gar viele ist die Asylsuppe und die Scheibe trockenen Brotes die einzige Kost des ganzen Tages.
Kapitel von der Reinlichkeit.
500 Nachtgäste hat das Frauenasyl durchschnittlich. Und für diese 500 stehen ganze fünfzehn Waschschüsseln zur Verfügung! Bewedt mird um fünf; um sieben sollen alle das Asyl verlassen haben. Da tommt die Reinlichkeit oft recht schlecht meg, besonders wenn die Handtücher wieder mal fnapp waren. Denn dann werden einfach die benutzten noch einmal ausgegeben. Kein Wunder, menn so viele der Insafsinnen an Geschwüren und Ausschlägen erfranken, auch die, die sich nach besten Kräften sauber halten wollen. Das Schlimmste aber ist das Bad und die Entlausung. Im Baderaum stehen neun Steinbadewannen. Behäbig fist davor an einem Tisch die Bademutter", eine hilfsweise angestellte Schnitterin. Aber hier badet man nicht nur, hier wird auch gleich große Wäsc in der Badewanne gehalten, nicht nur die eigene Wäsche, sondern auch die des„ Bräutigams", der drüben in der Balme logiert. Weder vor noch nach dem Baden oder Waschen werden die Bannen irgendwie gereinigt, der fleine Klecks grüner Seife, der auf Verlangen perabfolgt wird, reicht gerade zur Reinigung des Körpers, und die Bademutter", eine ehemalige Schnitterin, denkt gar nicht daran, Anweisungen zum Reinigen der Wannen zu geben, geschweige denn, fich zu erheben und sich von dem Zustand der Bannen zu über= zeugen. Es gibt teine Brausen, und das falte und heiße Wasser strömt gesondert aus zmei Hähnen, so daß man in Gefahr gerät, sich schwer zu verbrühen, wenn man aus Furcht vor Hautfrankheiten oder Läufen fein Wannenbad nimmt, sondern sich nur abseifen will. Nach dem Baden( schon vorher murde die Wäsche auf Läufe untersucht) foigt die Prozedur des Kämmens. Und wahrhaftig! Die Redensart non der„ alljemeinen Lauseharke" mird Wirklichkeit!
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Das Haus der unglücklichen Frauen.
Die Wiesenburg"! Das war, vor Jahren, gelobtes Land für| es noch eine Verpflegungsmarte, und nun ist der Weg frei elle Obdachlosen. Wer es irgend wagen konnte, versuchte dort menigstens für drei Nächte einmal unterzukommen, um sich von semem ständigen Quartier, dem übel berufenen„ Hotel zur Balme", zu erholen. Das von unserem Genossen Baul Singer gegründete und geförderte Asyl in der Wiesenstraße gehörte dem Asylverein für Obdachlose" und stand nicht unter städtischer Regie. Ein alter Runde fonnte geradezu ins Schwärmen tommen, wenn er von den Bundern der Wiesenburg " sprach. Und ganze Feldzugspläne wurden geschmiedet, um einmal für furze Zeit in die Wiesenburg" zu kommen. Nun hat die Stadt Berlin auch die„ Wiesenburg" übernommen und hat sie neu hergerichtet. Das Frauenob dach ist aus den alten Räumen in der Fröbelstraße hierher verlegt worden
Die Aufnahme.
Naß und müde von den weiten Wegen im falten Winterregen figen die Frauen in der Sammelstelle; erst um 5 Uhr nachmittags wird das Asyt geöffnet, und um 5 Uhr steht schon eine ganze Schlange vor der niederen Tür, die zu dem Schalter des Pförtners führt. Jede„ Neue" muß sich durch Legitimationspapiere ausweisen; über die anderen, die feit Mitte 1925 schon einmal im Asyl nächtigten, wird mit Hilfe einer Kartothef genau Buch geführt; die ständigen Gäste der Stadt Berlin müssen an jedem Abend ihren Badeschein vorzeigen, denn es ist strenger Befehl:„ Jede soll in der Woche einmal baden und sich auf Ungeziefer untersuchen lassen! Dann gibt
Die Wunder der Klara van Haag.
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Von Johannes Buchholz.
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Aus dem Dänischen übersetzt von Ermin Magnus. ,, Sollte ich mich nicht mehr über ihn freuen können, als an dem Tage, als ich von ihm ging? Unmöglich. Ist damit alles gesagt? Mein Wille ist stärker als mein Herz, und ich mill nicht noch einmal das Leben meiner Mutter leben. Dazu wäre es nämlich gekommen. Ich spürte es an mir selbst, daß ich entweder gehen und ihm den Rücken fehren oder mich ihm zu Füßen werfen mußte, dort, wo er stand, im Boot, barhaupt, goldhaarig, herrlich, aber mit den Augen eines Teufels und Tyrannen. Einen solchen Menschen gibt es nicht noch einmal in der Welt. Liebe Frau van Haag, ich fühle mich über alle Menschen erhaben über Sie auch wenn ich daran denke, daß er mich die fünf Minuten, oder wie lange es war, liebte. Aber warum liebte er mich? Weil ich stolz war. Wozu machte seine Liebe mich? Zum Sklaven. Können Sie nun verstehen, daß mein Weg auch jezt von ihm fortgehen daß ich ihm den Rüden kehren muß. Kalt wie ein Stein und mit dem Feuer von fünfminutenlanger Liebe inwendig!"
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Am Abend famen sie nach Ropenhagen, fuhren ins Hotel, badeten, aßen und gingen ins Theater. Die folgenden Tage waren sie fast ausschließlich von dem Besuch der Geschäfte in Anspruch genommen. Frau van Haag stürzte sich in die Modeherrlichkeiten wie ein Schwimmer ins Meer. Sie hatte jezt Geld, und sie gedachte es nicht in der Erde zu vergraben. Ihr Wunsch war, daß der Wahnsinn auch Hedwig anstecken follte. Sobald das Mädchen etwas ungewöhnlich lange mit einem weichen Stoff zwischen den Händen stehen blieb, drang Frau van Haag in fie, ob sie es haben wollte, wieviel Meter. Wollte sie nicht merkwürdiger Mensch
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Nein Hedwig schüttelte den Kopf. Doch ließ sie natürlich einen Augenblic später ihren Unterarm durch eine Seide schimmern, die aus Seemaffer gemacht schien. Auch das Seewasser wollte sie nicht befizen, aber ein Kleid aus schwarzem Atlas mit eingewebten Veilchen wurde ihr Schicksal. Sie verschwand darin wie eine Biene in der Blüte, und als ihr Kopf hervortauchte, und sie sich im Spiegel sah, lachte sie und ließ die Wimpern zittern.
Frou van Haag fegte fich in einen Korbsessel, sagte meit meg: Sond schöpfte tief Luft.
Jept war auch Hedwig verloren. Sie fant in die Knie vor Lackschuhen mit vieredigen Spitzen und beugte sich anbachtsvoll unter phantastischen Hüten,
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der
Weg ins Asyl. Wie angenehm wirken die hellen, bunten Säle! In der Mitte liegt die große Speisehalle, von der die meisten der Schlaffäle durch die offenen Türbogen zu übersehen sind. Jeder der Schlaffäle enthält 46 Drahtpritschen; jede ist von der Nebenständig benutzten Pritsche liegen zwei Drellafen. Reue" müssen sich pritsche durch einen schmalen Zwischenraum getrennt, und auf jeder von der Saalschwester frische Decken geben und ein Bett anweisen lassen. Die Saalschwester das ist auch eine neue Einrichtung, denn im alten Frauenasyl gab es überhaupt teine meiblichen Auffichtspersonen. Freilich, die Saalschwester ist lediglich Aufsichtsperson, und genau so wenig wie in der Fröbelstraße wird hier dafür gesorgt, daß unter den Insassinnen des Asyls einigermaßen gesondert wird. Noch immer liegen die Neulinge zwischen den alten Asyliſtinnen und das sind leider nicht nur Schnitterinnen und Arbeitsloje. Denn wenn auch viele verzweifelt gegen das Elend fämpfen, das fie ins Lumpenproletariat herabzieht, viele, viele sind schon in dieser letzten Schicht des Elends gelandet. Und so liegen zwischen den anderen schmierig und verlauft alte, unsagbar schmutzige Zumpenpalete, Kanalpennen", deren einziges Gepäc aus einer zerrissenen Tasche mit den unvermeidlichen Konservenbüchsen für Drippbier" und erbettelte Speisereste besteht. Im Mittelraum sizen an den schmalen Tischen nur die, die Schicksal oder freundschaftliche Zuneigung miteinander verbindet, Schnitterinnen, Polen und Deutsche gesondert, Verkäuferinnen, die frampshaft noch den Schein bürgerlicher Wohlanständigkeit aufrechterhalten oder die Alten, die noch nicht reif für das Hospital sind, die aber längst
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So wurde sie eine Prinzession in Kleidern, und als die beiden Damen am nächsten Bormittag in Sonne und Derefundsfrische vom Hotel zur Ausstellung gingen, wandten alle Menschen die Köpfe nach ihnen; die Leute räumten mit den Augen ein, daß der liebe Gott sich hier Mühe gegeben und eine glückliche Hand gehabt hatte, und daß die beiden Damen selbst seinem Werke Ehre machten.
Jegt trennen wir uns," sagte Frau van Haag, als fie ihr Ziel erreichten.
,, Warum?" sagte Hedwig enttäuscht.
,, Um jeder seinem eigenen Drang zu folgen. Auf Wieder sehen."
Hedwig faufte sich einen Katalog und ging durch den Eingang links. Die Gnädige mar rechts gegangen.
Whart
Hedwig will fast in die Erde sinten, so überraschend und heftig ist ihr Eindrud.
Hör', der Kleine Belt murmelt und der Wind raschelt in dem langen, braungebrannten Gras und in den langen Nadeln der Kiefern. Der alte Mann kniet auf dem Boden; sein Haar flattert wie eine ungefämmte Franse um die Glaze. Unter feinen langen, mageren, ineinandergerungenen Händen liegt ein fleiner Haufen meißer, halbdurchsichtiger Steinesein Opfer für Gott .
Ueber dem ganzen ruht ein seltsamer Nebel. der den Beschauer ein Gefühl von alten, alten Tagen aufzwingt.
Aber es ist nicht dieser Nebel, auch nicht das wehmütige Schlagen der Wellen, das Hedwig zu Boden zieht, obwohl sie nie die blanke Leinwand in dem Maße zu Leben umigefchaffen gefehen hat Nein, es ist das Gesicht des Mannes. Oh, du alter Mann, wie hast du doch von dem bitteren Tront des Lebens trinken müssen, ehe deine Stirn fo elend gefurcht, dein Mund in Tränen versteinert wurde. Meine Hand hebt sich und will deine Wange streicheln, aber mein Fuß flieht vor dir, alter Mann. Deine Augen haben mich erschreckt, Mädchen bange werde. Wie hast du deine Lebenskraft verfluchen müssen, die dich überleben ließ. daß fie dir langsamen Feuer der Erfahrung die Augen aus dem Kopf
Außer ihnen schienen nicht mehr als zwei Menschen auf der ganzen Ausstellung zu sein. Ein alter, feiner Mann ging stili mit, flatterndem, weißem Haar über den Kokosläufer. Eine vom Zahn der Zeit halb verzehrte Lehrerin hielt sich im Abstand eines Bilderrahmens vor ihm und stürzte jedes mal, menn er näherglitt, mit verfolgten Augen weiter. Bei der Tombola las ein blaffes Mädchen von der roten Pimper- deine guten Augen haben so viel Leid gesehen, daß ich armes
nelle.
Hedwig setzte sich auf ein gelbes Sofa und blätterte in ihrem Katalog. Sie las die tindischen Bildernamen. 3mei Rühe" stand bort. Drei bunte Rühe" stand darunter. Jetzt sprang der Katalog bei Johan Fors auf. Alter Mann im Walde." Junge Schwedin im Winde." Nymphen auf einer Lichtung im Walde." zwölf Bilder auf der Ausstellung.
Nadide Frau." Johan hatte
Hedwig schlug das Buch zu und stand auf. Sie wollte. sich nicht selbst belügen; sie mar gekommen, um die Bilder von Johan Fors zu sehn. Nicht, um auf einem gelben Sofa zu fizen und die zwei oder drei Kühe anzusehen. Das Herz schlug schief und unordentlich in ihr. Es interessierte sie zu fehen, was aus dem Manne geworden war.
Sie holte den Alten und die Weltliche wieder ein; ein Instinkt fagte ihr, wo Johan feinen Blaz hatte.
Jeht war sie da, in einem ftattlichen hellen Saal; gerade der Tür gegenüber hing ein großes Bild mit Wald und Waffer und einer zusammengefauerten Gestalt, offenbar Johans Hauptwerk ,, Der alte Mann", von dem die Zeitun gen so viel schrieben.
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Hedmig trat näher. Sieh das Wasser ist der Kleine Belt , der Wald ist der dunkle Bergfiefernhain auf der Knarrebyer Düne und der alte Mann ist ja ihr Bater. Es iſt, als hebe er jetzt den Kopf und sähe sie mit seinem brennenden Blick an
brannten.
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Hedwig stand vor dem Bild und mar nicht mie lebendig. Aber jetzt näherten sich Stimmen. Eine übertrieben füße Stimme, die die Worte buchstabierte ach, es war wohl die Lehrerin Re- stau- rant, sagte sie. Eine andere Stimme sagte ja und jawohl, und das meiß ich nicht genau, eine Mannesstimme.
Hedwig blätterte in ihrem Katalog, sie fonnte weitergehen, wenn die beiden vorüber waren. Sie sah mit einem furzen Blid auf, ja, es war die Lehrerin aber der Mann mar nicht der alte, feine Herr Hedwigs Herz blieb stehen und machte dann einen Sprung vorwärts aber ihr Gehirn funktionierte einigermaßen und stellte fest, daß hier Johan Fors in einer Unterhaltung mit der Lehrerin tom. Jezt begegnete er ihrem Blick. Sowohl in ihm wie in Hedwig gab es einen mächtige Rud.
Die Lehrerin sagte zu Hedwig: ,, Entschuldigen Sie, sind Sie herum gewesen?"
Herum?" sagte Hedwig.
Ja, ich bin mindestens zmeimal herum gewesen, aber ich habe nicht das Restaurant gefunden. Der Herr ist auch herum gemesen, hat aber auch meder Kaffee noch fonft eimos bekommen."
( Fortsetzung folgt.)