Kr. 34 ♦ 44.�ahrgaag
1. Seilage öes vorwärts
5re!tag, 21. Januar 1427
Nachklänge zum Düppelkauf. Die Stadtverordtteteuversammlutig beschließt die Untergrundbahn nach Lichtenberg.
Den Bau der Untergrundbahn nach Lichtenberg genehmigte gestern die Stadtverordnetenversammlung noch dem Vor- schlag des Ausschusses, und zwar ohne nochmalige Erörterung. Dagegen gab es längere Auseinandersetzungen noch bei der Nachtrags- vorläge zum Ankauf des Gutes Düppel, die aus dem Aus- schuh zurückkam. Hier hielt Genosse Dr. L o h m a n n erneute A b- rechnung mit Stadtrat Busch, dem Grundstücksdezernenten des Magistrats. Daß die Nachtragsvorlage überhaupt nötig wurde, ist Schuld des Herrn Busch, der über einen der wichtigsten Punkte die Stadtverordneten in der von ihm ausgearbeiteten Vorlage im Unklaren gelassen hatte. Wie die sozialdemokratische Frak- tion sich künftig zu ihm stellen will, sagte Genosse Adolph Hoff- mann ihm mit täller RückHaltlosigkeit. Der gestern gefaßt« Stadt- verordnetenbeschiuß bedeutet übrigens noch nicht den endgültigen Erwerb, sondern nur ein Kaufangebot der Stadt. Wie die Gegenseite, der Vermittler Hiller, sich dazu verhalten wird, muß abgewartet werden. m In der gestern abgehaltenen Stadtverordnetensitzung wurde nach der Erledigung geschäftlicher Angelegenheiten die zweite Be- ratung der Vorlage über den Bau der Untergrundbahn nach Lichtenberg vorgenommen. Genosse k rille berichtete von den Verhandlungen des Ausschusies, der die Annohme der Vorlage empfahl. Schwarz <D. Vp.) gab namens seiner Freunde die Erklärung ab, daß sie der Vorlage nicht zustimmen könnten, ehe nicht ein eingehender Finanzierungsplan vorliege. Die Linke des Hauses stimmte dem Ausschußbefchluß zu. nach dem mit dem Daufofort begonnen werden soll und wegen der Finanzierung vom Magistrat alsbald eine Vorlage erwartet wird. Ein Antrag der sozialdemo- k r a t i sch e n Fraktion, der die Bewilligung weiterer Mittel zur Fortführung der Schulkindcrspeisung forderte, wurde angenommen. Nochmals Sie Grippe! Die bei dem gegenwärtigen Wetter unausbleiblichen Erkältungs- crkrankungen, die von einer sensationslüsternen Presse zu einer „großen Grippeepidemie" aufgebauscht wurden, gaben den Kommu- nisten Veranlassung, in mehreren Anträgen allerlei Maßnahmen gegen die Erkrankungen zu fördern. Der Stadtmedizinalrat Prof. Dr. o. Drigalski bekräftigte feine Ausführungen von voriger Woche auf das nachdrücklichste, indem er die Grippeepidemie als ein Gemisch von Erkältungskrankheiten und von Influenza bezeichnete, die bei dem feit Monaten herrschenden schlechten Wetter absolut nichts Außergewöhnliches fei. Die Nachrichten über eine Grippewelle, die aus Spanien und Frankreich im Anzüge sei, seien von der hygieni- schen Abteilung des Völkerbundes nach eingehenden Untersuchungen als Tatarennachrichten bezeichnet worden und all« Anzeichen in Deutschland lassen diese Kennzeichnung als richtig erscheinen. So- bald das Wetter wieder besser sein wird, werden auch die Er- käl-ungskrankheiten oerschwinden und damit die Aufregung in der Bevölkerung. Der Stadtmedizinalrot gab dann noch den guten Rat. die Bevölkerung möge im Verkehr miteinander ein wenig mehr Vorsicht üben. An Orten, wo größer« Menschenmassen zusammen seien, in der Straßenbahn und in der Hochbahn, huste und niese man sich gegenseitig ohne jede Rücksichtnahme an und wundere sich dann, daß sich die Erkältungskrankheiten ausbreiten. Im übrigen teilt« der Redner mit, daß sich die bisher getroffenen Maßnahmen ol« durchaus genügend erwiesen. Angenommen wurde lediglich der Antrag der Kommunisten, der Schutzmaßnahmen für das Krankenpflegepersonal forderte. Ein weiterer Antrag, der allerlei„umfassende Maßnahmen zur Abwehr des Umsich- greifens der Grippe" forderte, wurde mit Rücksicht auf die wieder- holten Erklärungen des Stadtmedizinalrats abgelehnt.— Eine längere Debatte gab es dann bei der Beratung der Ausschußbe- schlüsse wegen des
Ankaufs von Düppel-Dreilinden. Nach der Berichterstattung durch den Genossen Gutschmidt, erhob Genosse Lohmann nochmals Beschwerde über die mehr als merk- würdige Behandlung der ganzen Kaufgelegenheit durch den Magistrat und das Grundstücksdezernat des Stadtrats Busch. Di« Sozialdemokraten würden dem Ankauf gern auch in der zweiten Beratung zustimmen, sind aber nicht in der Lage, aus etwa noch einmal abgeänderte Bedingungen durch den Verkäufer einzu- gehen. Stadto. Merten(Dem.) stellte einige Anfragen an den Magistrat in der Angelegenheit. Er fragte, ob es richtig sei, daß der derzeitige Pächter vdn Düppel, Bernau . Nutznießer seines Pacht- Vertrages bleibe, so daß also über das Gut Düppel Berlin vor- läufig nicht verfügen könnte. Merten fragte weiter, ob es wahr sei, daß aus dem Gelände ein Areal von 20l> Morgen herausgenommen sei und zur Parzellierung verwandt wurde? Stadtrat Busch teilte mit, daß allerdigs der Pächter dableibe, und zwar für die Anzahl von Iahren, die sein Vertrag noch gelte und daß er pro Morgen und Jahr«inen halben Zentner Roggen Pacht zahle. Auf dem Parzellengelände säßen die Siedler bereits seit Iahren, diese könnten natürlich Anspruch auf den ihnen zustehenden Rechtsschutz erheben. Allerdings verheimliche die ursprüngliche Vorlage in dieser Hinsicht absolut nichts. Nach längeren Ausführungen der Stadtv. Schwenk(Komm.), velhleffsea(Dnat.), Birk(Z.) und Schwarz(D Dp.), der die Vorlage ablehnte, erhob Stadtv. Genosse hoffmann an den Magistrat die Forderung, daß bei den noch nötig werdenden Verhandlungen wegen des Kaufabschlusses nicht wieder Stadtrat Busch mitwirke. gegen den, wie bereits zum Ausdruck gebracht sei, die sozial- demokratische Fraktion schwer st e Bedenken habe, sondern andere Unterhändler. Der Oberbürgermeister Löß bemerkte dazu, daß für die Verhandlungen bereits eine besonders sachver- ständig« Kommission vom Magistrat eingesetzt sei. In der Abstim- mung wurde dann der vom„Vorwärts" bereits gestern abend mitgeteilte Beschluß des Haushaltsausschusses gutgeheißen.— Die Wirtschaftsparteiler hatten im Oktober v. I. einen Antrag ge- stellt, nach dem ein Vertrag aufgehoben werden soll, der den Bezug von Bekleidungsstücken für die Für- sorge berechtigten durch die Firma Sklarek vorschreibt. Stadtv. Schalldach(D. Vp.) betonte, daß der Antrag unerfüllbar sei, da geschlossene Verträge gehalten werden müßten. Die wahren Ab- sichten der Wirtschaftler bei der Einreichung ihres Antrages ent- hüllte Genosse heilmann: Er trat ebenfalls dafür ein, daß die Ver- träge gehalten werden. Zudem bestehen keinerlei Bedenken gegen die Firma Sklarek. Sie habe bisher kaufmännisch einwandfrei ge- arbeitet und in bezug auf die von ihr gewährten Lohn- und Arbeitsbedingungen lägen keine Differenzen vor. Seit Iahren sei die Firma durchaus tariftreu, jedenfalls tariftreuer als andere Firmen, die sich an Stelle von Sklarek setzen möchten. Genosse Heitmann brachte eine Anzahl von Briefen dieser sich bewerbenden Firmen zur Verlesung, die das einwandfrei bewiesen. Stadto. Gaebel(Komm.) betonte, daß von einer Aufhebung der Rundoerfügung, die den Bezug der Kleidungsstücke regelt, keine Rede sein könne. Der Antrag wurde mit den Stimmen der Linken abgelehnt.._ Große Gahnhofspläae am tvannfee. Futzgängertunncl zum Dampfer. Der BahnhofWannfee.fürden Berliner Hauptausgangs- pforte zu Ausflügen in die westliche Umgebung, soll in diesem Jahr« von Grund auf umgestaltet werden. Bei dem starken Verkehr, der sich hier an den Sonntagen und auch an Wochentagen, besonders Sonnabends, entwickelte, tonnte man von einer geregelten Verkehrsabwicklung kaum nach sprechen. Ferner war das Um- steigen zwischen den Zügen der Wannseebahn und der Stadtbahn sowie den Fern- und Vorortzügen nach Beelitz — Sangerhauscn treppab, treppauf recht unbequem. Hier wird der Umbau be- sonders für den bedeutenden Umsteigevcrkehr zwischen Stadtbahn
und Wannseebahn eine angenehme Erleichterung schaffen. Der mit der Wannseebahn von Berlin ankommende Reisende kann dann auf demselben Bahnsteig in den von der Stadtbahn kam- Menden Potsdamer Vorortzug zur Weiterfahrt einsteigen. In der umgekehrten Richtung von Potsdam geht das Umsteigen auf dem zweiten, danebenliegenüen Bahnsteig in der gleichen bequemen Weise vor sich. Ein dritter, sich weiter anschließender Bahnsteig dient dem Verkehr für die Vorortzüge nach Beelitz und für die Fernzüge der Wetzlarer Bahn, während die Vorortzüge noch Stahns- dorf-Friedhof auf dem ersten Bahnsteig abfahren bzw. auf dem Esten Bahnsteig ankommen, so daß für diese Verbindung das Um- >en gleichfalls sehr bequem ist. An Stelle des alten, seitlich neben Zugang liegenden Bahnhofsgebäudes wird ein vollkommen neues Empfangsgebäude aufgeführt, dessen geräumige Ein- gangshalle unmittelbar in den Zugangstunnel zu den Bahnsteigen sührt. Di« im Grundriß achteckig gestaltete Eingangshalle erhält drei vereinigte Fahrkavtengeber und Sperren, sogenannte „Possimeter", die in ähnlicher Ausführung bereits auf den Berliner Schnellbahnen teilweise eingeführt sutd, und außerdem etwa acht Referoeschalter, die bei starkem Andrang geöffnet werden. Westlich der Eingangshall« liegen die Restaurations- und Warteräume, nach Osten sind die Räume für die Gepäckabfertigung und den Bahnhofs- dienst angeordnet. Die Loge der neuen Bahnsteige, in der gleichen Höhe wie die zurzeit bestehenden, ist.so gewählt, daß der vor- handene Zugangstunnel unter ihrer Mitte zu liegen kommt. Bon dem Tunnel führen dann Treppen zu beiden Seiten auf die Bahn- steige. Der für das südlich des Bahnhofs liegende Wohngebiet an der Dveilinden- und Nibelungenftvaße wichtige Zugang'wird erweitert und mit einer Zohlfperre ausgerüstet, so daß in Zukunft nicht mehr der umständliche Weg durch den Tunnel bis zum Bahn- hofsgebäude notwendig ist. lim den Umsteigeverkehr nach Potsdam so bequem wie möglich zu geftasten, muß im Bahnhof Rikolasse« aus dem Gleis von Grunewald ein neues Gleis ab- gezweigt werden. Dieses Gleis liegt in seinem weiteren Verlauf neben den Gleisen der Wannseebahn und läuft parallel mit ihnen in den Bahnhos Wannfee ein, so daß fegliche Kreuzung vermieden wird. Bei der Elektrifisterung der Wannseebahn soll noch ein n eu e r Ab sie ll b a h n h o s mit Wagenschuppen zwischen den Bahnhöfen Wannsee und Nikolassee errichtet werden. Im Zusammenhang mit diesen Ilmbauarbeiten muß die an dem Dahnhof entlangführende Hauptverkehrsstraße, die Bahnhof. st r a ß e. vor dem neuen Bahnhofsgebäude nach Norden zurück- weichen und wird in schlankem Zuge durch die Anlagen hindurch- geführt. Die Stadt Berlin rechnet für die nächsten Jahre mit einer Vcroier- oder Verfünffachung des Automobilverkehrs nach Wannsee , zumal an Sonntagen. Mit Rücksicht hierauf wird die Straße in zwei Fahrbahnen von je 8 Meter Breite für jode der beiden Richtungen aufgeteilt. Ferner ist ein Fußgängertunnel unter den beiden Straßen geplant, der die Fortsetzung des Bahnsteigtunnels bildet, und ein weiterer Fußgängertunnel unter der Stmße an dem Zugang zur Dampferanlegestelle. Dadurch wird den mit der Eisen- bahn und den Dampfern ankommenden Reisenden das gefährlich« Ueberfchreiten des Fahrdammes erspart und vielen Unglücksfüllen vorgebeugt werden. Mit den Vorarbeiten ist bereits begonnen. Man hofft, das neu« Bahnhofsgebäude voraussichtlich noch in diesent Jahre dem Verkehr übergeben zu können. Die Kosten dieser, fin den Berliner Ausflugsoerkehr bedeutuno-wollen �Umgestaltung find in ihrem ersten Ausbau mit 2 Millionen Mark veranschlagt. Erweiterungsbau für die Reichskanzlei. Wie bereits bekannt, wird im diesjährigen Reichshaushaltsplon eine erst« Baurate von 200 000 Mark zur Errichtung eines Cr- Weiterungsbaues für die Reichskanzlei auf dem freien Grundstück Wilhelmstraße 78 angefordert. Der Reichsrat Hai dieser Anforderung der Reichsregierung bereits zugestimmt: die Be- rarungen des Haushaltsausschusses des Reichstages über diesen Etat- onsatz sind für die nächste Zeit zu erwarten. Um nach erfolgter Zustimmung des Reichstags ungesäumt mit der Ausführung be- ginnen zu können, hat im Auftrage des Reichskanzlers der Staats- jekretär in der Reichskanzlei mit den erforderlichen Borarbeiten vor einiger Zell bereits begonnen. Um zu einer der Bedeutung de- Bauvorhabens entsprechenden einwandfreien Lösung zu kommen, ist an- die Veranstaltung eines Preisausschreibens, zu dem eine Reihe prominentester deutscher Architekten hinzugezogen werden soll, und die Einsetzung eines entsprechenden Preisnchterkollcgiums gedacht.
Die Vunöer öer Klara van Haag. 681 Bon Johannes Bnchholtz. Aus dem Dänischen übersetzt von Erwin Magnus . „Meine Anficht vom Vater hat sich geändert," sagte Hedwig still. „Wann denn?". � < Hedwig beugte den Kopf. .Heute," sagte sie. Dann richtete sie ihren weichen Mädchenkörper auf und schritt- zu Iohan hinüber, der sich gegen den weißen Tür- rahmen lehnte. Sie schlang ihre Hände um seinen Nacken, beugte seine Stirn zu ihrem Mund herab und sagte, während ihre Augen sich mit Tränen füllten: „Wer die Sonne in seinen Händen hält, sollte wohl ein wenig Sonnenschein für andere übrig haben!" Da erhielt Frau van Haag den Glauben, daß Hedwig dasselbe wie sie, ja, vielleicht noch mehr ausrichten konnte. Es war ihr klar, daß eine Staubwolke von Klatsch sich erheben würde, wenn sie chren Fuß nach Knarreby setzte, ohne das Zollamt zu betreten. Man konnte nie wissen, was Herr van Haag unternehmen würde, der Form wegen. Hed- wigs neue Ansicht kam ihr daher als eine doppelte Freude. Sie blieben alle drei zusammen bis zum Abendzuge. Die beiden Frauen stritten sich sanft um Iohan. Frau van Haag wollte, daß er mit Hedwig nach Knarreby reiste, aber Hedwig bestand darauf, daß er die wenigen Tage bis zu Frau van Haags Abreise nach dem Süden bei ihr bliebe. Hedwig gewann. Als der Acht-Uhr-Zug aus der Bahnhofshalle lärmte, blieben Johan und Frau Klara stehen. Unter den Dutzenden wehender Taschentücher folgten ihre Augen nur einem. Lange knirschte es noch in den Schienen. Der Einschnitt zwischen den Bahnsteigen lag wie ein offenes Grab da. Alle Leute waren aufgebrochen. Johan und Frau Klara rissen sich los und gingen mit. Sie schlugen langsam den Weg nach Bester- bro ein. �. Johan wandte seinen Wlkmgerhals, damit der Lärm ihm nicht die Worte nahm, und sagte: „Wir wollen uns nächstes Jahr in Rom treffen, nicht wahr, Frau van Haag. Wir wollen glücklich miteinander in Rom sein." Frau van Haag sah ihm in die Augen. Ihr Blick war weitumfassend und unerschütterlich.
„Nein," sagte sie.„Nein, Johan. Sie dürfen nicht da- von sprechen, mich in Rom zu treffen. Heute habe ich einen großen Kummer gehabt— aber eine weit größere Freude. Ich will jedes von ihnen in eine Hand nehmen und in die Berge, in die Einsamkeit mit ihnen gehen." Die Leute in der Straße schrien und riefen von allen Seiten. Johan und Frau Klara wurden bald von rechts, bald von links gepufft und gedrückt. Aber es war, als ginge Frau Klara schon einsam zwischen stillen Bergen. Johan hörte jedes Zittern in ihrer schönen Stimme. Die Worte nahmen die Form ausgereifter dunkler Trauben an, wie er fand. „Ich will fortgehen und mich in den Bergen verstecken. so gut, daß niemand mich wiederfindet. Vielleicht kann ich meinen Kohf über einen Stein heben und Ihnen und Hedwig folgen— aber ihr dürft nicht nach mir suchen. Es ist meine Hoffnung, daß Frau van Haags Geschichte heute zu einem guten Abschluß gebracht ist." So sprach die gute Gnädige. Johan runzelte die Stirn und schwieg. Er fand, er hätte kein Recht zu sprechen. 2 0. Kapitel. Die nächste Nacht. In Egholms kleiner Stube sitzt Heb- wig und spricht mit ihrem Bater. Er ist völlig angekleidet: das ist er seit drei Tagen, trotz aller Bitten und Vorstellungen Annas. Das schwache Licht der Petroleumlampe reicht nur bis zu seiner Brust, aber in dem Halbdunkel darüber erscheint sein fahles Gesicht doppelt groß. Keinen Augenblick findet er Ruhe vor Schmerzen. Beim Sprechen verrenkt er seinen Körper in schiefe Stellungen, die sich jede Minute ändern. Aber seine Stimme ist ganz beherrscht: sähe man ihn nicht, so könnte man glauben, er säße bei einer Arbeit, die durchaus vor Tagesanbruch fertig sein müsse, und führe während der Nacht eine kleine freundliche Unterhaltung mit seiner Tochter. Aber es ist der Tod, von dem er spricht. „Ich bin nicht bange, weißt du. Nicht mehr als die an- deren Male, da ich den Beruf wechselte. Nur unruhig. Ich wurde Photograph, weil ich nicht für die Eisenbahn taugte; ich werde ein toter Mann, weil ich nicht fürs Leben tauge." „Du wirst gesund, Vater, und verrichtest noch Großes. Du machst eine große Erfindung oder holst deine alte Tur- bine hervor. Du sollst sehen— du sollst sehen, es wird schon werden!" „Kann ein zerrissenes Herz zusammenwachsen? Das meine ist, wie gesagt, zerrissen. Ich muß es die ganze Zeit zusammenhalten, und sobald ich nur ein wenig zu stark denke,
fließt das Blut in einem kochend heißen Strom in den Brust- tasten." „Du weißt ja gut, daß das nur ein Gefühl ist, Bater. Sonst wärst du schon lange tot." Der Vater blieb dabei und fuhr fort:„Aber nun fragt es sich, ob ich mich zum Todsein eigne! Was geschieht sonst? Ich taugte nicht zum Kaufmann— da wurde ich Photograph, und als ich dazu nicht mehr taugte, wurde ich Eisenbahner— wozu ich am allerwenigsten taugte. Was wurde ich dann? Wieder Photograph! Kann ich wieder lebendig werden, wenn ich das Totenhandwerk verderbe? Denn ich bin jetzt müde. Ich. ich bin sehr, sehr müde." „Hast du keinen festen Glauben mehr. Vater? Einst glaubtest du stärker als alle anderen Menschen, die ich kannte." Egholm wand sich nach vorn und weitete die Brust. „Nein, nein. Alles ist für mich in Fetzen gegangen. Mein Glaube wie mein Handwerk. Die Iohannisbrüder ver- leidsten mir alle Religion, da wurde ich Atheist. Aber was für ein Atheist! Einer, der heimlich in den Wald ging und Gott opferte. Ich wurde Erfinder, weil ich nicht in die Ding« hereinpaßte, die wir bereits haben. Aber meine Erfindungen taugten nichts, und ich wünschte mich zurück in die alten Tage, dü alles ganz primitiv war." Frau Egholm kam vom Schlafzimmer herein und ließ sich seufzend auf einen Stuhl gleiten. Egholm wandte den Kopf zu ihr hin und sagte:„Gegen Anna, deine Mutter, bin ich ein Tyrann gewesen, aber kein tüchtiger Tyrann." Frau Egholm sprang auf, nahm seine Hand in die ihren und sagte weinend:„Warst du das! Ach nein, Egholmchen, du bist gut gewesen! Lüg' dich jetzt nicht in einer feierlichen Stunde schlecht, wo du so gut gewesen bist." „Gut! Ich?— Wann?" sagte Egholm. „Heute und gestern und immer. Immer!" „Nein, seit Frau van Haag kam, bin ich„gut" gewesen. Aber schlecht gut, wie ich vor ihrer Zeit schlecht böse war." Das verstand Anna nicht ganz. Sie sagte:„Denk daran, daß es heißt:„Richtet nicht!" Das betrifft auch das Urteil über einen selbst." „Die Strafe mag werden, wie sie will. Ich kann zu keinem anderen Resultat kommen." Egholm legte die Arme auf die Banklehne, einen nach jeder Seite; sein Kopf fiel schwer nach vorn, und mit schwacher Stimme fuhr er fort:„Nein, daran denke ich gerade. Könnte ich eine einzige Sache finden, die ich vollkommen getan hätte, dann würde ich leicht sterben, aber eine solche Sache gibt es nicht."(Fortsetzung folgt.)