Sonntag 23. Januar 1927
Unterhaltung unö ÄAiffen
Seilage öes vorwärts
Erwachen. Von Heinz Eisgruber.
Wie ein Mensch zum Bewußtsein erwacht, zur klaren Erkenntnis seiner Lage unö der Rolle, die er im Getriebe des Lebens, der Gc- sellschaft. des Staates spielt, geschieht aus tausendfach verschiedene Weise. Der kleinen Anna Bergner, einem schmächrieen armen Mädchen. dos Gelegenheitsaushilfen in fremden Haushalten besorgte, geschah es beim Schuhputzen. Bisher hatte Anna so vor sich hingclebt, stumpf und dumpf, weder zufrieden noch unzufrieden, eingesponnen von einem dichten Retz von Pflichten, Sorgen, Abhängigkeiten, Mühen und hier und da einem Schnippelchcu Freude von ziemlich banalem Glanz. Herr schaften dienen, der Mutter Helsen , die kleinen Geschwister versorgen, Kartosfeln essen, in einer stickigen Dachkammer auf den erlösenden Schlaf warten und alle Monate einmal in einein ärmlichen Kleid und etwas schiefgetretenen Schuhen zum Tanz gehen: das war der graue Kreislauf ihrer kleinen Welt. Gestern hatte sie iit einein vornehmen Haushalt eine Aushilft stelle auf acht Tage bekommen. Heute stand sie in einer Kammer dieses Haushalts und putzte Schuhe. Sie„putzte Schuhe" ist ja eigentlich nicht der richtige Ausdruck, denn es handelte sich nicht uin gewöhnliche Schuhe, die man zuerst mit einer rauhen Bürste ab schruppte, um sie dann mit Schuhcreme oder aar mit Schuhwichse wie ihr Vater sie benutzte, der, che er arbeitslos wurde, Geschirr- führer in einer Brauerei war— zu behandeln und durch heftiges Bürsten dann zum Hochglanz zu bringen. Nein, es handelt« sich um die Schuhe dar gnädigen Frau. Die Schuhe der gnädigen Frau waren kein« Schthe, sondern Gedichte. Ein ganzes Regal von Gedichten. Hauchzarte, flimmernde, in allen Farben leuchtende und glühende Kostbarkeiten.' Man konnte sie mit dem Begriff„Putzen überhaupt nicht in Zusammenhang bringen: sie waren sa auch von dem Begrisf„Schmutz" meilenweit entfernt, eine ganze Welt waren sie davon entfernt. Sie wurden nicht geputzt, sondern ein wenig ge- schminkt und gepudert und mit weichen Tüchlein und zarten Pinsel» chen vorsichtig betupft, wie die gnädige Frau selbst auch. Anna stand vor diesen Schuhen wie vor einem Märchenwunder. Gewiß, sie hatte schon herrliche Schuhe gesehen, ähnlich diesem sofianledernen. mit bunten Steinchen besetzten, den sie eben in den Händen hielt. In den Schaufenstern der Schuhläden. Und auch gestern, als ihr die Zofe der gnädigen Frau Unterricht im Behandeln dieser Wunderdinge an Hand eines grünfchimmerndeu Schlangen. haut» und eines goldenen Brokatfchühchens gab. Sie wußte auch, daß es reiche Menschen gab, die so etwas kaufen und trogen durften. Aber sie hatte niemals daran gedacht, daß es Menschen gab, die diese Kostbarkeiten gleich zu Dutzenden besaßen. Diese über, ras cher.de Tatsache drang im Angesicht der Nähe und Greisbarkeit dieser Herrlichkeiten so heftig auf sie ein. daß sie verwirrt und ganz- lich ans dem Gleichgewicht geworfen davor stand. Sie sann darüber nach, wozu man so viele Schuhe brauchen könne. Sie wußte nichts von den Gepflogenheiten der Gesellschaft der Reichen, nichts von den Regeln, die sie sich gleich Kartenspielregeln gegeben hatte und gleich göttlichen Gesetzen achtete. Sie kannte dieses Spiel derer, die Geld und also Zeit haben, nicht, und verstand nicht, daß man mehr Schuhe haben und brauchen keine als ein Paar derber für den Wochentag und ein Paar besicrer für den Sonntag. Und so pochten hart und dumpf Und vergebens diese zwanzig Paar golden, silbern und bunt glitzernden Wunderschühchen an ihre stumpfe Phantasie. Anna schreckte auf, als sie die Stimme der Zofe hörte und be- gann in fieberhafter Erregung zu hantieren. Sie wußte nicht, ob sie sich freuen oder ob sie weinen sollte. Sie hätte sich gern vor die Schuhe hingelegt, um sie anzuschauen. Oder noch lieber hätte sie alle angezogen. Sie schlüpfte auch einmal schnell in einen hinein und wunderte sich, daß sie plötzlich solch zarten, hübschen Fuß hatte. Ats sie ihn wieder auszog, empfand sie ein Gefühl, als würde ihr die Haut heruntergezogen. Ihre eigene Haut. Und ein ganz dummer Gedanke schoß ihr durch den Kopf: diese Schuhe sind ja aus meiner Haut gemocht. Das war natürlich sehr dumm, dachte Anna und arbeitete wieder eifrig. Sie mußte Geld verdienen und'fleißig sein. E» war ja nicht viel, was sie verdiente, gerade genug, um nicht zu verhungern. Um so weniger durfte sie das Wenige aufs Spiel setzen. Und sie schminkte und puderte selbstoergesien die zwanzig Paar Wunder- schuhe der gnädigen Frau. Als Anna spät abends nach Hause ging, da schwebten ihr noch immer die Goldschuhe im Kopfe herum. Aber als sie in ihrer Stube cwr und die drei Geschwister hingen an ihr und wollten zu essen haben, als sie den Topf mit der dicken Suppe aufs Feuer setzte. als die Mutter vom Zeiwngsaustragen zurückkam, als sie die Schlaf- kammer wischte, da zogen die goldenen Schuh - fort und nur die graue Wirklichkeit ihrer kleinen hatten Welt blieb da. In einem Armeleutehaushalt hatte man keine Zeit, über Gold und Silber, Schlangen- und Krokodilleder, über Brokat und Seide nachzudenken. Da kam man spät von der Arbeit nach Hause und muhte dann den eigenen vernachlässigten Haushall in Ordnung bbingen, kochen, waschen, flicken, fegen, rechnen und sorgen. Auch Anna kochte an diesem Abend; dann wischte sie die Kammer rein, dann wusch sie noch Strümpfe, flickte eine Bubenhose und dann... Dann putzte sie die Schuhe. Sie stand am Treppeichaussenster und fuhr mit einer hatten Bürste über die Sprünge und Flicken ihrer oerbeulten, alten Schuhe. Und da geschah es, daß ihr Hirn plötzlich intensiv zu denken, zu arbeiten anfing, geschah es, daß Anna erwachte. Warum, sagte sie plötzlich ganz laut und seltsam, stehe ich nachts am Fenster im 4. Stock eine» unschönen Hauses und putze alte, häßliche Sckmhe, nachdem ich schon tagsüber Schuhe geputzt habe, die jemand anderem gehören? Warum putze ich so viele Schuhe und ziehe alte häßliche an, und warum zieht die gnädige Frau schöne Schuhe an. obwohl sie keine Schuhe putzt? Darf man keine Schuhe putzen, um schöne Schuhe anziehen zu dürfen? Wenn die gnädige Frau Schuhe putzen müßt«, könnt« sie dann keine schönen Schuhe mehr anziehen!? Warum müssen nicht olle Schuhe putzen und dürfen trotzdem schöne Schuhe anziehen? Mein« Hände sind rauh und hart, weil ich die Schuhe der anderen putzen muß. Ich habe meine Haut für die Schuhe der anderen hingegeben, die keine Schuhe putzen. Sie besann sich einen Augenblick. Ja, ja. ja: die schönen Schuhe der gnädigen Frau waren aus ihrer Haut gemacht! Und aus der Haut derer, die gleich ihr für andere Schuhe putzen und Schuhe machten und dafür in stinkigen Mietkaferneu>wohnen mußten. Sie fühlte sich plötzlich all denen nahe und verwandt und verbunden, die wie sie arbeiteten und hungerten und die ihr bisher gleichgültig gewesen waren, wenn sie sie nicht gar gehaßt oder verachtet hatte.
Der hinüenbürgerblock.
Der hiadenbüigerbloik:.Also nach hiudenburg. meinem Papa, verkrete ich jeht auch die berechkigkea Zuleresseu der Arbeileri"
.Aber sagt, welches find denn eure berechiigieu Znkeressen?-
.3«. mit so unberechtigten Forderungen dürft Zhr natürlich nicht kommen!"
Anna stand am Treppenfenster und schaute in den gähnenden Abgrund de« Lichtschachtes, der eigentlich ein Dunkelhertsschacht war. Eine namenlose Angst kam über sie. daß ihr ganzes Leben solche Finsternis sein würde. Angst, Bitternis und Verzweiflung stürzten auf sie ein. Die dunkle Tiefe lockte sie an, griff nach ihr. Dott in der dunklen Ties« würde das Glück des Nichtmehrwissens sein. Anna schwankte, taumelte.... Nun könnte die Geschichte der Anna Bergner so enden, wie hunderte solcher Leben in Wirklichkeit enden. In der Morgenzeitung würde man dann eine kleine Lokalnotiz finden: Gestern abend verunglückte ein zwanzigjähriges Dienstmädchen tödlich, indem es beim Schuhereinigen aus dem Treppenhausfenster ihrer im 4. Stock gelegenen elterlichen Wohnung in der Elendsgasse Nr. 173 in den Hof hinabstürzte. So könitte die Geschichte enden, ohne ins Unwirkllche zu ent gleiten. Wissen wir denn, wieviele von den Frauen und Mädchen. die anscheinend unfreiwillig den Tod finden, ihn in Wirklichkeit ge sucht haben, weil in ihr Leben zu wenig Glanz und zu viel Elend gefallen war! Weil der häßliche und ungerechte Gesellschoftoapparat ihnen alle Freude und Kraft aus Leib und Seele gesogen hatte. Und weil ihnen nicht rechtzeitig die Erkenntnis wurde, daß ihr Schick- sal kein Einzelschicksal, sondern das von Millionen Lebensgenossen war. Anna Bergner wurde diese Erkenntnis, ehe aus ihrem Taumeln ein Stürzen ward. Ihr sich langsam vorneigendes Gesicht gewahtte plötzlich viele, viele schwache Lichter, die ringsum aus dem Dunkel des Schachtes'sich ihr entgegenstreckten. Sie kamen aus den hundett Proletarierwohnungen der Mietkaserne. Sie waren wie Hände, die ihr Hilfe anboten. Und ihr natürlicher, junger Lebenswille nahm diese Hilfe an. Anna hielt sich am Fensterrahmen fest. Sie stürzte nicht und taumelte nicht mehr. Ein beglückendes Bewußtsein überkam sie: das Glücks- gefühl, nicht allein zu sein. Sie schritt den Treppenabsatz hinab und ging zu den Geschw-istern, die sie küßte, inniger und wärmer als sie es je getan hatte. Denn sie küßte in ihnen Millionen �Lebens- und Leidens» und Kampfgenossen.
�Terraffen/ Kulturpolitische Studie von Hans Hilmar, Hamburg . Der Seniiramis schwebende Gatten in, alten Babylon? Die gigantischen Barockbauten der Schloßterrasse über Heidcl- berg? Die Drühlschc Tettasse zu Dresden , genannt„der Balkon Europas "» Oder gar die Tettaise des modernen Kurhotels von Helligen- dämm im Angesicht des sonnigen Oftseegestades? Immer ist mit dem Wort„Terrasse" die Idee des Hohen, Luftigen, Sonnigen, der weiten Fernsicht und der blumigen Garten- architektur verknüpft. Aber solches olles ist hier nicht gemeint! Gemeint sind die Homburger„Terrassen", die Wohnplätze der kleinen Leute, der Unteren Zehntausend, der Proletarier,— Hinterhöfe, tief versteckt in den Abgründen zwischen den Häuserblocks hoher Mietskasernen, jenes dunstige, finstere M'lieu, welches uns die Vaukultur der letzten Iahrzehnie yor dem großen Kriege hinterlassen hat. Dabei- ist an die wesentlich älteren Wohnguattierc der sogenannten Gängeviertel innerhalb der Hamburger City gar nicht gedacht, welche ja nun bald ganz von der Bildsläche verschwinden sollen und es gewiß schon wären, wenn der Krieg nicht gekommen wäre. Die Wohnungen der„Terrassen" aber, welche durchweg 29 bis 30 Jahre stehen, also aus der Zeit stammen, als das Deutsche Reich auf der Höhe seiner Macht und seines Reichtums stand, diese„Ten rasten" sind noch längst nicht baufällig und abbruchreif und müssen solange bewohnt werden, bis das Ideal, die Großstadt in Form von Gariensiedlungcn weit in das, offene Land hinauszuschieben, auch für die breite Mass« zur Tat wird. Und das hat noch gute Wellet In den großen, oden Stadtteilen unserer Vorstädte, in Elms- büttel, Barmbek , Rochenburgsott und Hammerbrok, da strecken sich
die meisten der staubigen, nüchternen, baumlojen Straßen schnür- gerade ins Leere hinein, so daß die Linien der Rinnsteine, der«mmer kleiner werdenden Gaslaternen und die Kanten der monotonen, dachlosen Etagenhäuser in einem fernen Punkt perspektivisch zu- sammeiilaufen. Ab und zu ist von der Straße aus durch das Erd- geschoß eines Vorderhauses ein Tunnel gebaut. Seine dunkle. stinkige Oeffnung ist quadratisch in die Hausfassade geschnitten, itavz inj tat gifchnitten, ohne diesem Loch irgend vekoratiuen oder archiiek- tönischen Rahmen zu geben- Rur zuweilen steht darüber-geteert.jv schwarzen Lettem:„Terrasse Rr. 11" oder ähnlich. Und talch ein Loch, solch ein dunkler, stinkiger Tunnel—(stinkig. weil mancher Passant von der Straße hereintritt, die Wände als Bedürfnisanstalt zu benutzen!)— führt nun aus den Hinterhof, in die„Tettassc", wo die kleinen Leute wohnen, die Proletarier. Man kommt herein wie in einen riesigen steinernen Sarg, von welchem der Deckel fehlt und denkt an die Katakomben, in welchen die ersten Christen heimlich hausen mußten. Der erste Eindruck, den man empfängt, ist tosender Lärm einer Menge spielender Kinder. Di« Akustik aus diesem steinernen Schalltrichter ist natürlich ganz ausgezeichnet! Don irgendeiner architektonischen oder überhaupt baulichen Idee ist hier nicht zu reden, es herrscht die abstrakteste Mathematik des bloßen Nutzens. Ein kubischer Raum aus Stein und seelenlosem Zement, letzterer vorherrschend, weil er am billigsten ist. Es ist Mittag- Jetzt steht die Sonne theoretisch im Zenith. Wer sie selbst ist nicht zu sehen. Das schwache Licht, welches von ihr überhaupt in dieses tiefe Verließ fällt, ist nur reflektiert von den kchwarzgeteerten-tiinterwändcn der fünf- oder sechsstöckigen Vorder- Häuser, die eine solche„Terrasse" eng umschließen. Denn die Innen- räume der Häuserblocks wurden ja nur deshalb mit den Terrassen» Wohnungen bebaut, um auch diese Quadratmeter produktiv zu machen, nämlich für das investierte Kapital des Bodenspekulanten! liier unten gibt es nur matten Schimmer, nur den Abglanz des ewigen Lichts Nie wird ein direkter Sonnenstrahl hierherein Leben und Freude bringen, das ist gewiß! Auch wird hier nie ein srscher, forscher Wind gesunde Luft hindurchpusten, und die aus dem ge- pferchten Zuiammcnhausen der Menschen unausbleiblich entstehenden Dünste bleiben hier stecken, sich kondensierend an den Wänden der Wohnungen und in den Lungen der Kinder. Und Flora und Fauna? Irgend die geringste Flora ist hier gänzlich ausgeschlossen, denn in dieser großen zementenen Kloake ist von der Mutter Erde nirgends auch nur ein Ouadratzentimeier frei- gelassen, auf welchem ein hcrgewehter Unkrautsamen Wurzel schlagen könnte. Und die Tierwelt? Hier ist noch niemals der Frühling rai, qzner Drossel eingeflötet worden, noch fand je ein Finkenpaa'r Platz zum Restbauen. Einige Spatzen höchstens werden im Winter durch Hunger hereingetrieben, zu betteln. Auch hält man in emigen Stuben Kanarienvögel, diese traurigen Surrogate der freien Natur. Aber sie singen hier nicht und gehen über kurz oder lang elendiglich zugrunde. Katzen allerdings gibt es hier in Masse, noch ihnen stinkt jeder Hausflur so eklig penetrant. Sie schleichen hier in jeder Gestalt herum, in jeder nur denkbaren Rassenmischung und füllen die Nächte mit ihrem grausigen Liebcsgcjaule Aber ohne Katzen würden Mäuse und Ratten zu» Plage werden und deshalb hält jede Familie m der „Terrasse" eine Katze und pflegt sie mit Liebe, und den Katzen wird hier eine kultische Verebrung zuteil, wie sie nur bei den allen Aegypten , gewesen ist(Man sieht, daß doch der Sinn aller Religion im Nutzen des Menschen wurzell!) Einst ließ ein Mann seine Katze, welcher er überdrüssig war, durch den städtischen Abdeckereiwagen zur Tötung abholen. Jedoch die Katze im Sack schrie so lämmerlich, daß die Nachborn das Verbrechen merkten. Da war die Katze ge- rettet und der Mann wäre fast gelyncht worden. Don nun an hicll jeder ihn. für einen Unmenschen, dem alles Böse zuzutrauen sei. Aus der moralischen Gemeinschaft der„Terrasie" blieb er ausgeschlossen. Welche Menschen und von welcher Art leben hier? Es muß eine andere Rasse von Menschen sein als die in den Vorderhäusern und Villen, denn dort weiß man so gut wie nichts von ihnen. Die „Tettasse" nimmt sicherlich den größten Teil der überschüssigen Be- völkerung der ländlichen Provinzen auf, besonders Mecklenburgs— (Hammerbrok wird ja auch die Hauptstadt Mecklenburgs-genannt!)— und der Elbmarschen . Diese Kolonisten kommen hierher als ent- wurzelte Helorcn und heimatlose Parias ohne irgendwelchen Besitz als den ihrer Arbeitstrast, ihrer Genügsamkeit und chrer Gesundheit, welch letztere beretts in de? zweiten Generation von der Großstadt obsorbtett zu werden pflegt.