Einzelbild herunterladen
 

Abendausgabe

Nr. 3944. Jahrgang

Ausgabe B Nr. 19

10 Pfennig

24. Januar 1927

= Vorwärts=

Bezugsbedingungen und Anzeigenpreise

Find in der Morgenausgabe angegeben

Redattion: Sw. 68, Lindenstraße 3

Fernsprecher: Dönhoff 292- 292

Tel.- Adresse: Sozialdemokrat Berlin Berliner  

Volksblaff

Berlag und Anzeigenabteilung: Geschäftszeit 8% bis 5 Uhr Berleger: Borwärts- Berlag GmbH. Berlin   S. 68, Fernsprecher: Dönhoff 292- 297

Zentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands

R

Gewerkschaften gegen Bürgerblock.

Eine Kundgebung Leiparts. Her mit dem Achtstundentag!

-

München  , 23. Januar.  ( Eigener Drahtbericht.) Am Sonntag fand in Augsburg   eine start besuchte Gau- und Bezirksleiter tonferenz des ADGB.  , Bezirk Bayern  , statt, in deren Mittelpunkt ein Referat des Bundesvorsitzenden, Genossen Leipart, stand.

Genosse Leipart nahm u. a. auch zu den politischen Er­eignissen in Berlin   Stellung und bemerkte, was dort geschehe, sei der Versuch, eine Regierung unter Ausschluß der Arbeiterschaft zu bilden. Man müsse sich fragen, ob der Reichspräsident fich deffen bewußt gewesen sei, daß sein: Rundgebung

eine direkte Berhöhnung der Arbeiterschaft

darstelle. Diese Kundgebung habe die Kluft zwischen Arbeiterschaft

und Bürgertum wieder weit aufgerissen. Herr Scholz und

seine Freunde hätten zweifellos die gegenwärtige Regierungsfrise heraufbeschworen, weil sie Furcht hatten, daß die Wiedereinfüh­rung des Achtffundentages im Reichstag   Aussicht auf Erfolg haben fönne. Die letzte Proflamation des Zentrums enthalte leider kein Wort mehr von dem Achtstundentag. Die Gewerkschaften werden aber darauf nicht verzichten. Leipart machte u. a. auch die

Es wird verhandelt.

Grundlage ein Regierungsprogramm, nicht das Zentrumsmanifeft.

Heute vormittag haben die gefchäftsführenden Reichminister Marg, Brauns und Strefemann die Verhandlun gen mit den Deutschnationalen aufgenommen und zwar auf der Grundlage eines Regierungsprogramms, das gestern reffortmäßig" entworfen worden ist.

Darin wird außenpolitisch die Fortsehung der Locarnopolitit, der loyalen Mitarbeit im Völkerbund   in der Art der bisherigen Außenpolitif gefordert; innerpolitisch find zur Reichswehrfrage die vier Punkte der Regierungserklärung vom 17. Dezember v. 3., die Reichstanzler Marg damals im Reichs­tag verlejen hat, Gegenstand der Berhandlungen; ferner nimmt der innerpolitische Teil des Programmentwurfs den Schuh der Republit vor verleumderischen Angriffen, die Anerkennung der Symbole der Republit und geeignete Maßnahmen gegen Organisationen in Aussicht, die auf gewaltsamen Wege einen Umfturz herbeiführen wollen. Auch sozialpolitische Vorschläge find Gegenstand der Berhandlungen.

Die Deuffchnationalen haben zu den Verhandlungen eine Kom­mission entfandt, die aus Graf West arp, Minister a. D. wall­raf, Treviranus, v. Goldader und Rippel besteht. Am Nachmittag wird der Reichskanzler den Vertretern der Sozialdemokratischen Partei den Programmentwurf zur Kenntnis bringen.

Englands neuer Chinakrieg.

Immer größere Rüstungen.

Condon, 24. Januar.  ( Eigener Drahtbericht.) Die mili tärischen Maßnahmen der englischen   Regierung zu einer China­expedition werden immer umfangreicher. Nicht nur, daß am Sonn­abend weitere Regimenter nach China   beordert wurden,

erfreuliche Feststellung, daß der Mitgliederrüdgang bei den freien Gewerkschaften zum Stillstand gekommen ist, und daß bereits Anzeichen eines Aufstiegs bemerkbar seien.

o

Jn Zukunft dürfe Deutschland   nicht regiert werden von dem Willen zur sozialen Ungerechtigkeit und der Entkräftung der Arbeiterklaffe.

In mehreren einstimmig gefaßten Resolutionen wurden die Maßnahmen der Gewerkschaftsleitung gutgeheißen und die vollstän­dige Beseitigung der Ueberarbeit und die generelle Einführung des Achtstundentages gefordert.

Ein Antrag der sozialdemokratischen Landtagsfraktion. Für das Notgesetz über die Arbeitszeit. folgenden Antrag gestellt: Die sozialdemokratische Fraktion des Preußischen Landtags hat

suchen, bei der Reichsregierung dafür einzutreten, daß schleunigt Der Landtag wolle beschließen, das Staatsministerium zu er durch ein Notgefeß die Arbeitszeit im Reiche gemäß dem Washingtoner Abkommen und den Londoner   Ver­einbarungen der Arbeitsminister geregelt wird.

Nizza   dem Redakteur Sacci, der die Anzeige erstattete, gegenüber gestellt werden.

Wie mittags gemeldet wird, hat die Gegenüberstellung eine vollständige Klärung nicht ergeben.

Garibaldi   will Amerika   beglücken. gebis Paris  , 24. Januar.  ( WTB.) Wie die Blätter melden, hat Ricciotti Garibaldi  , der am Donnerstag Frankreich   verlassen muß, die Absicht, nach Amerika   zu reisen, wo er mit seinem Bruder Peppino Garibaldi   zusammenarbeiten will.

Opposition in Litauen  .

Jun

Grinius zum Parteipräses gewählt. Kowno  , 23. Januar.  ( Eigener Drahtbericht.) Das Zentral. komitee der litauischen Volkspartei hat zum Vorsitzenden den ge­stürzten Präsidenten von Litauen   Dr. Grinius   gewählt. Das Zen. traffomitee beschloß, im Interesse der Demokratie den Kampf gegen das Putschregime aufzunehmen.

Keine sozialistische Vermittlungskonferenz in Riga  . In unserer Morgenausgabe vom 9. d. M. hatten wir unter der Ueberschrift Lettisch- sozialistische Bermittlung" eine Meldung der " Telegraphen- Union" von Riga   wiedergegeben, die von einer für das Frühjahr geplante lettisch polnisch litauische Sozialistentonferenz in Riga   zur Beilegung des litauisch polnischen Konflitts spreche und zu deren Vorbereitung ein Ber­treter der polnischen Sozialdemokraten eingetroffen wäre. Dem gegenüber teilt uns der Vorstand der Sozialdemokratischen Bartei Lettlands   mit, daß diese Meldung vollkommen aus der Luft ge­griffen sei. Richtig ist nur, daß Ende Dezember v. J. das Bor. standsmitglied der PPS., Genosse Cholowto, in Riga   meilte, um nähere Information über den Butsch in Kowno   einzuholen, da in Warschau   die unsinnigsten Gerüchte im Umlauf waren.

ist die Einstellung des Urlaubs für sämtliche Regimenter Leon Blum   für sofortige Rheinlandräumung

Nordenglands und Schofflands angeordnet worden. Der fozialistijdje " Daily Herald" fordert die Regierung heute auf, die unruhig gewordene Bevölkerung Englands über die geplanten Maßnahmen gegen China   aufzuklären; er warnt vor militärischer Demonftrationspolifit zur Unterstützung der Diplomatie.

Ruffische Truppenverstärkung.

London  , 24. Januar.  ( BTB.) Daily Telegraph  " berichtet, von japanischer Seite werde gemeldet, die russischen Truppen an ber mandshurischen Grenze würden verstärkt, was eine Bes drohung Muldens darstelle. Die Truppen des Marschalls Sunt­schuanfang, welche bei Lanchi, 100 Meilen südwestlich von Schanghai  , eine Niederlage erfitten hätten, feien auf dem Rückzug. Dieses Ereignis zusammen mit dem drohenden Streif der Elettrizitätsarbeiter mache die Lage in Schanghai  

schlimmer.

Die verurteilten Katalonier.

Auch im franzöfifchen Interesse.

Paris  , 24. Januar.  ( Eig. Bericht.) Im ,, Bopulaire" beschäftigt sich Léon Blum   an leitender Stelle, mit der Frage der Rheinland  räumung und spricht sich kategorisch, und zwar, wie er ausbrück­lich betont, im französischen   Intereffe, in erster Linie für die so fortige Räumung der Rheinlande aus. Die Besetzung des Rhein  . landes sei weder für die Sicherheit Frankreichs   wichtig noch im Interesse der deutschen   Zahlungen, die für Frankreich   wünschens­wert wären. Das militärische Recht eines Siegerstaates sei zwar das alte Recht, das aber der internationalen Auffaffung entgegen gesetzt und spartanisch den Besiegten niederzuhalten suche. In fi. nanzieller Hinsicht habe die Befehung Frankreichs   auch keinen Vorteil gebracht, im Gegenteil habe die Besetzung des Rhein­landes und des Ruhrgebiets ungeheure Summen verschlun­gen. Während Frankreich   sogar die Ruhr befeßte, sei die deutsche  Schuldenzahlung langsam eingeschränkt worden. Die Besetzung hat in Deutschland   wie in Frankreich   zur Wiederaufnahme der Beziehun­gen der beiden Völker einen unvereinbaren Geifteszustand unter­die Sprache zu eigen machen, die z. B. Wellington   1815 Frankreich  gegenüber oder Manteuffel 1871 Frankreich   gegenüber für ange bracht hielt, die beide sagten, im Falle daß Frankreich   die Kriegs­fchuld abzahle, um so schneller werde die Besetzung des französischen  Gebiets aufgehoben. Eine derartige Auffassung widerspreche dia metral der Auffassung, die das republikanische Frankreich   von der Liquidierung einer Kriegsschuld haben müsse. Locarno   habe die einzige wahre Sicherheitsgarantie für Frankreich  geschaffen. Man müsse sie nur in die Praxis umsehen und sich be­mühen, die internationale Kontrolle zu organisieren. Das sei die einzige Garantie der französischen   Sicherheit, die die sozia listische Partei annehmen könne. Sie werde sie sobald als möglich auf der Kammertribüne verteidigen.

Ausweisnug aus Frankreich  . Garibaldi   zunächst raus! halten. Im übrigen dürfe Frankreich   sich unter teinen Umständen Neue Lockspitelverhaftung.

Paris  , 24. Januar.  ( Eigener Drahtbericht.) Innenminiffer Sarraut   hat einen Ausweifungsbefehl gegen die im Katalonier­prozeß Berurteilten unterzeichnet; ihnen allen ist ein Monat Frist gewährt, der Lodspiel Garibaldi aber muß binnen dreier Tage Frankreich   verlassen. Ja Nizza   wurde am Sonnabend auf Grund der Anzeige eines Redakteurs des Pariser Corriere degli Italiani" ein tallener Canovi verhaftet, der ein Attentat auf Mussolini   zuffandezubringen versucht hat. Das Becher des Berhafteten ergab, daß er ein italienischer Polizeispiel ist, der das Attentat propagierte, um die Berhaftung der Attentäter and ihrer Hinfermänner" herbeizuführen. Canovi joll heute in

Lindenstraße a

Die Mutter klagt an?

Tragödie eines Kindes.

Bon Klara Bohm- Schuch.

In Bremen   starb am 1. Juni 1924 ein noch nicht ganz fiebenzehnjähriges Mädchen an...?, ich weiß nicht, was als Todesurfache auf dem Totenschein steht. Aber sie starb, nachdem sie über zwei Monate auf der Geschlechts­trantenabteilung des städtischen Krankenhauses an Syphilis   behandelt, 14 Salvarsanspritzen bekommen, alle Folgen dieser Kur durchgemacht und acht Tage vor ihrem Tode zu ihren Eltern zurückgebracht worden war. Diese Eltern find arme Proletarier, Bater Schuhmacher, Mutter Blätterin, die noch vier jüngere Kinder haben. Die ganze Familie hing in unendlicher Liebe aneinander, und der Quell diefes Glückse, trotz aller Armut, war die Mutter.

Diese Frau verliert an den Folgen einer gräßlichen Sie ist halb irrfinnig vor Schmerz und Selbstqual. Hat fie Krankheit, deren Namen sie bis dahin faum fannte, ihr begabtes, schönes, 3ur Dirne gestempeltes Kind. es doch bei aller opferbereiten Liebe und Muttergüte nicht vermocht, ihr Kind vor einem furchtbaren Schicksal zu behüten, leben mit der heranreifenden Tochter zu besprechen. Mutter­weil sie nicht den Mut hatte, die Wahrheit über das Geschlechts­fein war dieser Frau Lebenserfüllung, höchstes Glück und doch spricht sie nicht zu ihren Kindern über die heilige Schöpferkraft im Menschen, weil sie über das Triebtierhafte nicht sprechen tann. Wie diese arme Schustersfrau stehen Tausende der liebendsten Mütter ratlos vor ihrer heiligsten Aufgabe. Selbst das Erlebnis der Mutterschaft ist nicht start genug, um Vor­urteile und falsche Scham zu ertöten. Bis sich das Schicksal in unerbittlicher Logit erfüllt und die Mütter ihre Kinder Derlieren; seelisch oder förperlich.

In dem Fall des fleinen Bremer   Mädels hatte der Tod gezogen. Schmerz und Liebe der Mutter waren zu start. nicht( wie sonst wohl immer in diesen Fällen) den Schlußstric) was sie an dem lebenden Kinde verschuldet, mußte am toten gefühnt werden. Nicht umsonst durfte das Opfer dieses blühenden Lebens gewesen sein, es sollte erschüttern, um­wälzen; es sollte zum Segen werden für die Lebenden und zur Ehre für die Tote.

Und so erschien die Darstellung dieses Schicksals vor einigen Wochen als Buch, unter dem Titel: Bom Leben Ursulinerinnenklosters in Haselünne  , in dem Verlag von getötet", herausgegeben von M. J. Breme. Oberin des Herder u. Co. in Freiburg   i. Br. Herder u. Co. in Freiburg   i. Br.

In Tagebuchblättern, beginnend am 20. Mai 1922, endend am 9. Mai 1924, gibt ein Rind Kunde von der Entwicklung in zwei Lebensjahren, die für die meisten Proletarierkinder, darüber hinaus aber wohl für die meisten jungen Menschen, entscheidend sind. Niemand kann dieses Buch lesen, ohne, aufgewühlt, tiefft erschüttert zu sein. Nicht nur von dem tragischen Geschic, das sich vorbereitet, entwickelt, erfüllt, sondern ebenso sehr von der natürlichen Kindlichkeit, mit der alle Freude hingenommen, alles Schöne und Gute erträumt wird, obwohl das Kind ganz klar und helläugig in ihrem proletarischen Alltag steht. Und dann wächst die Sehn­fucht nach Schönheit und Bollendung des eigenen Lebens, nad tommen die Gedanken um die Liebe; ein Garten voll weißer Berstehen des Unverstandenen in der eigenen Bruſt. Röschen ist die Liebe zu den Eltern und Geschwistern und ein Meer roter Rosen die Liebe zum Manne. Daneben steht die Liebe zur Natur und Kunst in unendlicher Zartheit und Anmut. Was Mufit einem feinen Menschen geben fann, ist faum je so schön und schlicht ausgedrückt worden, wie in diesen Broletarierlebens ein junger Mensch empor, entwickelt sich an Blättern. So herrlich blüht in Arbeit und Sorge eines

Da

Leib und Seele zu ahnender Pracht, wird bewundert und beneidet, begeht einen tollen Jugendstreich( sie fährt heimlich mit einem anderen Mädel nach Berlin   und schreibt aus Angst den Eltern nicht), tommt durch die bereite Liebe proletarischer Menschen( Onkel und Tante König und Else Ring) am Abgrund Dor bei, gerät in die Hände der Polizei( die zum Schuh berufen ist) und wird vernichtet!

Im ersten Berhör vor der Bremer Polizei wird dem faum sechzehnjährigen Mädel gesagt, daß sie in Berlin   mit Herren geschlechtlich verkehrt haben müsse, sie solle sagen, was fie dafür bekommen hätte usw. In dem Buch steht zu diesem Berhör: Er( der Beamte) scheint kein Kind zu haben, sonst tönnte er wohl kaum ein fünfzehnjähriges Mädchen solche ,, So wurde ich über den Zwed meines Da­Worte lehren. feins aufgeklärt." Und dann: Wie qualvoll ist es, wenn man der Deffentlichkeit preisgegeben ist. Ich laufe Spieß­ruten.

Nun beginnt ein tolles Spiel dieses Lebens, auf und ab geht es in unschuldigen Freuden und verderbenden Lockungen. Dirnen, von denen Grete Mach an nicht weiß, daß sie es sind, werden ihre Gefährtinnen; gute und böse Menschen ziehen sie in ihren Kreis. Die Eltern lieben ihr fleißiges Kind, sind stolz, daß es Verehrer aus anderen Lebenstreifen hat, find arglos und sträflich gutmütig. In ein Kupplernest wird sie geschleppt, in dem auch ein hoher Bolizeibeamter verkehrt, dem sie nur mit Gewalt entrissen werden kann, als fie fich gegen ihre Schändung wehrt. Und als die Mutter an diesem Abend, als sie zitternd weinend im Bett liegt, bittet, ihr doch zu sagen, was jie auf dem Herzen hat, sagt sie: Mutti, ich fann nicht. Ich fanns dir nicht sagen. Müssen denn alle Menschen so unglücklich sein, oder bin nur ich zum Unglüd geboren? Mutti, mir fann niemand helfen." Und