Abendausgabe

Nr. 47 44. Jahrgang Ausgabe B Nr. 23

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Vorwärts

Berliner Volksblatt

10 Pfennig

Freitag

28. Januar 1927

Berlag und Anzetgenabtettung: Gefchäftszett 8 bts 5 Uhr Berleger: Borwärts- Berlag GmbH. Berlin SW 68, Cindenstraße 3 Fernsprecher: Dönhoff 292-297

Zentralorgan der Sozialdemokratifchen Partei Deutschlands

Der Kampf um die kasse.

Wer wird Finanzminister im Bürgerblock?

Der Kampf um die Ministerseffel tobt weiter. Seit 114 Uhr schachern die vom Reichspräsidenten zur Regierungsbildung zu gelaffenen Parteien über die endgültige Berteilung, find aber noch nicht zum Abschluß gekommen. Die Deutsche Volkspartei will sich mit nur zwei Ministersesseln nicht begnügen und verlangt deshalb auch das Reichsverfehrsminifterium, das den Deutschnationalen schon zugesagt war. Sie würden es schließlich hergeben, wenn sie dafür das Reichsfinanzministerium befämen, worauf aber das Zentrum unter feinen Umständen ein­gehen will.

So ist der Blan aufgetaucht, als vierten Minifterpoften den Deutschnationalen für das aufzugebende Verkehrsministe. rium eine Vizekanzlerftelle einzuräumen. In der Tat ist ja ein anderer Weg nicht zu sehen, auf dem man fomohl der Deutschen Bolkspartei drei und den Deutschnationalen vier Stimmen im Rabi­nett geben tönnte, wenn das Zentrum auf seinen drei Sigen be­harrt und der unvermeidliche Geßler nicht einem offiziellen Deutsch nationalen Blaß machen soll.

mahnend in den Dhren.

Bizefanzler soll aber durchaus nicht Herr Wallraf werden, denn er ist katholisch, und sowohl die Deutschnationalen wie die Deutsche Bolkspartei wollen das fatholische Element in der Reichs­regierung nicht noch weiter gestärkt fehen. So sehr die Deutsch­nationalen an fich fleritalen Tendenzen geneigt find, so flingt den älteren unter ihnen doch noch das schöne Wort des bieberen Jordan v. Kröcher über die„ ollen infamichten Jefuwitter" and Die Richtlinien biegen sich. Der Streit um die Auslegung der Richtlinien beginnt. Der Streit um die Richtlinien im Bürgerblod tommt schon in Gang. Die Hugenberg- Presse schwört die Richtlinien ab und legt fie obendrein noch echt hugenbergisch aus. Der Nacht Tag" hatte behauptet, daß die Anerkennung der Locarnopolitif nur dem Ausland gegenüber gelte, aber nicht berfaffungsrechtlich. Bekanntlich war der Bater dieser Formel einst Graf Westarv.

Gegen diese Auslegung erflärt die Tägliche Rund fchau":

Wir haben bereits in unserer gestrigen Morgenausgabe darauf hingewiesen, daß die Anerkennung der Locarno Ber träge, wie sie in den Richtlinien ausgesprochen ist, durch eine protokollarisch festgelegte Interpretation er. gänzt wird. In dieser Interpretation ist ausdrücklich unter 3ustimmung ber deutschnationalen Unter.

händler festgestellt worden, daß die Anerkennung der 20 carno- Berträge nicht nur staatsrechtliche Bedeutung dem Auslande gegenüber, sondern auch die ver­faffungsrechtliche Anerkennung in sich schließen soll. Die Deutschnationalen erkennen damit nachträglich an, daß die An­nahme der Locarno - Berträge im Reichstag mit einer verfassungs­rechtlich gültigen Mehrheit erfolgt ist. An dieser flaren Interpretation läßt sich nicht drehen und nicht deuteln. Diese Tatsache muß auch der Nachtausgabe des„ Tag" bekannt sein. Man fann Deshalb die gegenteilige Behauptung nur als eine groberre führung bezeichnen."

Die JLP. an Tschen.

Bolle Solidarität der Labour Party für China . Condon, 28. Januar. ( WEB.) Die Unabhängige Ar­beiterpartei hat dem fantonefifchen Außenminister Ifchen ein Telegramm gefandt, in dem sie für die Zurückziehung der brifischen Streitkräfte aus chinesischen Gebieten und Gewäffern ein­tritt und der erfolgten Erklärung der Arbeiterpartei voll zuftimmt. „ Um eine vereinte Opposition gegen die imperialistische Politik der Regierung gegenüber China herbeizuführen", hat die Unabhängige Arbeiterpartei eine für den 6. Februar von ihr anberaumte Ber­fammlung abgefagt und beschloffen, mit der Arbeiterpartet und dem Generalrat des Gewerkschaftstongreffes bei einer am selben Abend veranstalteten Berfammlung mifzuwirken.

Der Außenminifter der Kantonregierung, Tschen, ist ein Auslandchinese; er stammt von der Insel Trinidad in Mittelamerika und spricht englisch fast besser als chinesisch. Mit feinem rollen Namen heißt er Ju Schen Tschen, und aus den beiden Borfilben haben die Engländer das ähnlich ausgesprochene erlische„ Eugen" gemacht, so daß sie den Minister furzweg Eugen er lische„ Eugen" gemacht, so daß sie den Minister furzweg Eugen 2schen nennen.

Tichen über Großbritanniens Verantwortung. London , 28. Januar. ( WTB.) Der Berich'erstatter bes Daily Telegraph " in Schanghai meldet: Der fantonesische Außenminister Then erklärte, Großbritannien beabsichtige, durch Truppenzu­fammenziehung in Schanghai eine Atmosphäre zu schaffen, die zu einer Kriegserflärung Großbritanniens an die re­volutionären Heere führen könne. Großbritannien müsse daher die Berantwortung für irgendwelche bedauerliche Zwischenfälle in der Bukunft übernehmen. Der Berichterstatter bemerkt, die Meldungen

Es geht damit los, daß die Organe der Regierungs­parteien, die sich am nächsten stehen, sich grobe Irreführung" Dormerfen. Das ist ein ehrlicher Handel!

Die Ausbeutungsfünfte der deutschnationalen Preffe werden verständlich, wenn man die Entrüftung aus dem Lager Im Deutschen Tageblatt" tobt ein Politicus": der unentwegten Böllischen über die Deutschnationalen lieft. Der Berrattommt ans Licht:

Zunächst wird noch einmal verlangt, daß die Deutschnationalen die einfache Mehrheit für Locarno verfaffungsrechtlich anerkennen, und dann wird von ihnen die Preisgabe felbst deffen verlangt, was ihnen die Weimarer Berfassung gelassen hat. Sie dürfen nicht einmal auf streng verfaffungs. mäßigem Wege die Republik ändern wollen, ja, fie dürfen zu dem zwed nicht einmal einen Antrag stellen. Sie werden geworfen, aber sie feilschen ja auch noch, nicht etwa um die an Händen und Füßen gebunden in die Stlaperei Breisgabe ihrer Grundfäge( die ist längst vollzogen), aber sie wollen, wie bie Prostituierten ganz allgemein, möglichst gut bezahlt werden. Sie machen ihre Breis­gabe davon abhängig, daß fünf von ihren Leuten an die minifterielle Futtertrippe fommen. Drei find ihnen für eine so gelungene politische Hurerei nicht genug, und darin mögen sie recht

haben."

Ein letzter verzweifelter Appell des„ Deutschen Tageblatts" gilt den Konservativen:

Bische Junter? Will der preußische Jamfer diese Berleug Wo bleiben die Konservativen? Wo bleibt der preu nung feiner ganzen historischen Tat wirklich auf sich nehmen? Wo bleiben die deutschnationalen Frontsoldaten des taifer. lichen Heeres? Bollen fie wirklich den Reichsbannerrefruten das Feld laffen?"

linien hinweginterpretieren, um die Konkurrenz von ganz Da muß die deutschnationale Breffe allerdings die Richt rechts zu entfräften. Es wird gelogen, daß sich die Richt linien biegen!

Die Mehrheit des Bürgerblocks.

Die Regierung des Bürgerblods verfügt aus eigener Kraft nur über eine ganz tnappe Mehrheit. Der Reichstag hat 493 Ab­geordnete. Davon entfallen auf:

der

Deutschnationale Zentrum Bolkspartei

Bayr. Bollspartei

110

69

51

19

249 Abgeordnete

Die Mehrheit beträgt also nur zwei Stimmen, so daß Bürgerblock auf die Dauer nur auf dem Rüden der Wirt Ichaftspartet( 21 Mandate) regieren tann. Die Opposition setzt sich zusammen aus: Sozialdemokraten Kommunisten Demokraten Böllische.

B

•

131

45

32

15

228 Abgeordnete

Die Wirtschaftspartei hat dem Bürgerblod wohlwollende Neu­tralität zugesichert. Marg hat damit eine Mehrheit für ein Ver trauensvotum. Aber von wem?

über Friedensbedingungen der Rantonefen würden in der Mehrzahl als Propaganda aufgefaßt, die den 3wed verfolge, die Loyalität gegenüber Marschall Suntfchuangfang zu schwächen. Außerdem melbet der Berichterstatter, daß die Haltung der Japaner fowie die Darle gung der Politit der Vereinigten Staaten Großbritannien in den Augen der Chinesen als den Hauptangreifer Chinas darstelle. Oppofitionsanträge im Unterhans.

London , 28. Januar. ( BTB.) Wie verlautet, beabsichtigt die Arbeiterpartei, bei der Unterhausdebatte über die Antwort cuf die Thronrede als wichtigsten Abänderungsantrag einen Antrag einzubringen, der sich mit den militärischen Borberei tungen Englands in Shanghai befaßt.

Die Entwaffnungsverhandlungen.

Zwiesprache Foch- Pawels.

Paris , 28 Januar.( Eigener Drahtbericht) Das Interalliierte Militärfomitee hat gestern wiederum eine Sigung abgehalten, in der Diskussion eingriff und mit dem deutschen General v. Bawels längere zum erstenmal der den Vorsitz führende Marschall Foch mit in die Aussprachen hatte. Die Disfuffon wird heute fortgelegt werden. Man glaubt, daß die deutsche Delegation von Berlin telegraphisch neue Inftruftionen anfordern wird. In der Frage des Rüflungs materials ist ein Kompromiß zustande gekommen, das die Botschafterkonferenz nur noch zu ratifizieren haben wird. Hingegen sind in der Frage der Ost fest ungen noch zahl reiche Detailfragen zu regeln, insbesondere die Frage der Garantien, die Deutschland übernehmen soll, da auch fämt liche Königsberger Befestigungswerfe als un­erlaubt anzusehen seien.

"

Italien Lehrmeister!?

Antwort eines italienischen Sozialisten an den ehemals liberalen Winston Churchill .

Aus Kreisen des italienischen Sozialismus erhalten wir folgenden Brief: Den Worten Winston Churchills zufolge hat Italien für ganz Europa ein wertvolles Beispiel geliefert durch die faschistische Methode des Kampfes gegen den Umsturz. Daß der Umsturz in Italien Borbilde- fchon aufammengebrochen war, ehe der - will fagen: die kommunistische Bewegung nach russischem Faschismus zu Macht und Einfluß gekommen, daß die neue, auf Gewaltattion geftüßte Bewegung sich vorwiegend aus enttäuschten Ueberläufern des Kommunismus rekrutierte, die aus dem Dienst der proletarischen Diktatur in Den einträglicheren der plutokratischen übertraten, ist wohl tatsächlich und geschichtlich wichtig, aber für den Gedanken­gang des englischen Ministers belanglos. Das Hauptgewicht liegt hier in dem Gedanken, daß Italien durch sein Experiment fönnte man sich mit Churchill verständigen, wenn auch in der ganzen Welt einen Dienst erwiesen habe. Und darüber anderem Sinne, als er es gemeint hat. In der Schmach und in dem Jammer des italienischen Lebens tönnte es tatsächlid) ein Troft sein, zu denken, daß all das Schwere und Unwürdige, das über das italienische Bolt gekommen ist, wenigstens den andern Böltern eine Lehre wird, daß das furchtbare Experiment wenigftens andern zum Nutzen gereicht.

Das heutige Italien fann wirklich den Völkern Europas ein Lehrmeister sein, denn seine Tagesgeschichte ruft diefen Völkern zu: verteidigt eure Freiheit, hütet eure Rechte, wacht eifersüchtig selbst über den Buchstaben der gewissen Grade großartiges Experiment des Paternalismus, Prozedur. Der Faschismus ift im Grunde ein bis zu einem bes väterlichen Diktators, der züchtigt und belohnt, des Staates als Schullehrer, als Kinderfrau.

Sobald das Gewaltwerf getan war, ermöglicht durch die tattische Unfähigkeit und die theoretische Berbohrtheit des egoismus der intellektuellen Schichten des Bürgertums und Proletariats, durch die Prinzipienlosigkeit und den Klaffen­durch die ängstliche Selbstaufgabe der Monarchie, hat man die innere Politit auf das Motto abgestimmt: ihr braucht teine Freiheit; ihr braucht nur eine Regie rung, die gut für euch sorgt. Und dann hat man die Freiheit abgebaut, sehr systematisch. durch schrittweises Abschnüren, so daß die habsburgische und die bourbonische Wirtschaft im Vergleich zu dem Ergebnis wahre Tummelplätze der Volks­willfür waren. Daß es teine Breßfreiheit, fein Bersammlungsrecht, tein Roalitionsrecht, teine tommunale Selbstverwaltung mehr gibt, find nur die augenfälligften Neuerungen" des Regimes.

Man tann jeben Beamten, neuerdings auch jeden ichter, feines Amtes entheben, wegen megen politischer Angehörigen des Berfemten ausgedehnt werden. Selbst das Infompatibilität" und die Maßregelung fann auch auf die Personal der italienischen Handelsflotte wird auf seine politische Stubenreinheit hin einer Revision unterworfen. Der italienische Bürger fann feinen Kindern nicht den Namen geben, der ihm paßt; der Staatsanwalt hat das Recht, jeden Bornamen zu beanstanden und amtlich zu vertauschen, wenn er eine revolutionäre Anspielung enthält. Der vom Ministe­rium des Innern nicht autorisierte Besiz faschistischer Partei­abzeichen wird mit Gefängnis beftraft, so daß man heute dem Gegner nicht, wie früher, Waffen oder Sprengstoffe ins Haus Schmuggelt, sondern denselben Zweck durch eine Handvoll faschistischer Parteiabzeichen( vom Bolte wegen ihrer Form Wanzen genannt) erreicht Es fönnen dabei bis fünf Jahre Zuchthaus und 10 000 Lire Buße herauskommen. Ohne Polizeierlaubnis darf man richt mehr für einen Bedürf­tigen Geld sammeln. Rückständige Bußen fönnen in Haft verwandelt werden, was offenbar darauf abzielt. die Leute ins Gefängnis zu bringen, die mittellos sind und sich weigern, die durch den Steuererheber einzutreibenden Beiträge zu den faschistischen Rorporationen zu bezahlen. Am grellſten tritt aber die Rechtlosigkeit des Bürgers zu Tage bei der Anwendung der Polizeimaßregeln gegen die Umstürzler". Die Lifte der aus politischen Gründen Verschickten ist streng geheim. Man hat eine tonventionelle Zahl von 522 angegeben, die aber gar nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat. Dabei gefällt sich die Breffe noch in einer zartfühlenden Berauidung der politisch Verschickten mit den verschickten Buhältern, Kokain­verfäufern, Besikern öffentlicher Häuser, Bagabunden usw., welche Berouidung ihren praktischen Ausdruck bei dem gemein­famen Transport mit gemeinsamen Handschellen gefunden hat. Nun man glücklich soweit ist, daß die Freiheit offiziell zu den Toten gerechnet wird und nur noch umgeht wie ein Gefren't. beginnt man mit der Volks­alles für das Bolt, nich's durch bas Bolt" joll Anwendung beglüd ng. Das alte, dem Konfuzius zugeschriebene Wort finden und die Fremden finden das rührend von Winston Churchill angefangen und finden vor allem. daß es für die taliener fo vorzüglich vaßt. Denn für den richtigen Touristen ist eben der Einwohner nur ein deforativer Zusaz zur Landschaft: er findet, die Italiener sind wie Kinder: zer­lumpt, malerisch, sorglos, und das gute Herz des Touristen frohlockt darüber, daß iemand von oben für diese Kinder sorgt, streng und liebevoll. In seiner eigener Heimat Hand aufs Herz, Minister Churchill ! möchte er ja diese Zustände nicht. nicht Kinder statt Männern, nicht den Schulmeister mit der