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Nr. 104 44. Jahrgang

1. Beilage ües Vorwärts

Donnerstag, Z.März 1927

Kolonie �Sorgenfrei"...

So wohnt man inSorgenfrei".

Wir Berliner haben eine große, unglückliche Liebe: Die Liebe zur Natur, von der uns eine steinerne Schranke trennt, eine Schranke, die mit jedem Jahr dicker und höher wird. Und mit jedem Jahr wird dies« Schranke für einen schmalen Geldbeutel un- überwindlicher. Richtigraus" kommt so eine vielköpfige Arbeiter- samilie oft das ganze Jahr hindurch nicht, wenn sie nicht ihre Laube" hat. Und diese Laubenkolonien, die in dichtem Gürtel an der Peripherie Berlins liegen, die immer ein Lieblingsspielzeug des Berliner Proletariats waren, dieseRittergüter" von wenigen Quadratmetern, sie bieten jedem Zufallsbesucher im Sommer noch das gleiche Bild: Frohe Menschen, lustige Kinder, Farbe und Leben überall. Aber man muß einmal jetzt, in winterlicher Zeit, hinaus- gehen, um zu sehen, wieviel sich hier in denVillenkolonien" der kleinen Leute verändert hat, um zu merken, welches Elend jetzt so eine bunte Kulisie verdeckt..., , Sorgenfrei. Auch von den Laubenkolonien gilt das alte Berliner Wort:Et jibt sone und solche." Schief und krumm sind die aus Kistenbrettern, Dachpapperesten und verrostetem Wellblech zusammengehauenen Lauben, offen wie auf der stachen Hand stehen die Parzellen, von keinem gemeinsamen Zaun umschlosien. Nur eins verbindet sie meist: Ein wunderschöner Name, ein Name freilich, der oft so paßt, wiedie Faust aus» Aug«". Flach aus dem Brachseld liegtWald- frieden" und dort, wo jämmerlichstes Elend haust, nennt man sich Sorgenfrei". wer wohnt, wie wohnt man nun inSorgenfrei"? Wohnlauben da» kannten wir schon imnier: aber das ist doch etwas Neue«: Jetzt gibt es Laubenmieter, und gerade die bewohnen nicht etwa die festen, soliden WohMauben, sondern die zugigsten und wackeligsten Lauben, die der Bermieter absolut nicht dazu für ge- eignet halten würde, da s e l b st den Winter über auszuhalten. Aber zum Vermieten an andere sind sie gut genug, und vor allem eins: Sie bringen hohen wietzlns, eine wiete, mit der derhauspafcha" oft vielleicht seine eigene, schöne und warme Wohnung völlig be­zahlen kann. Aber die Bewucherten, von ihren eigenen Klassen- genosien ausgenutzten und ausgepreßten Mieter zahlen geduldig und schweigen..., denn: die Laubenkolonie war ja ihre letzte Zuflucht, undman muß ja noch zufrieden sein, daß die Leute uns das hergeben", meint eine junge Frau, die im ehemaligen Stall ihres Wirtes wohnt. Dabei sind diese Mieter kein Lumpenproletariat, keineMüllkutenindianer". Ach nein, es sind ordentliche Mieter, wie sie kein Hausagrarier bester lyünschen könnte.... Da ist die erste

vermietete Laube. Ein dicker Junge mit messingblonden Locken spielt am Drnhtzaun, ein sauberes, ordentlich gehaltenes Kind. Die Mutter gestattet gern den Eintritt. Zuerst kommen wir in die Küche, sie ist ungefähr 1,20 mal 2,S0 Meter groß; gekocht und gelebt aber wird imWohnzimmer", denn man will doch einen Raum richtig wann haben,und dazu gehört bei solcher Bretterlaube allerhand�, meint die junge Frau. Sie zahlen sür die Laube, die aus der Küche und der zirka 2.50 mal 2,50 Meter großenWohnstube" besteht, 20 Mark Miete monatlich.Was sollten wir denn anders machen, wir sind nun schon fünf Jahre beim Wohnungsamt in Potsdam eingetrogen l Und wir haben alles andere versucht; ich bin mit meinem Mann und dem Kind auf Landarbeit gegangen, aber wir konnten die schwere Arbeit beide nicht vertragen, da wurden wir eMlassen. Dann habe ich Stellung angenommen, mein Mann ging in Schlafstelle, und das Kind haben wir ins Kinderheim gegeben. Aber wir konnten die 68 Mark Pflegegeld monatlich nicht erübrigen, und man will doch auch nicht immer getrennt sein. So sind wir hier hergezogen und sind noch froh, daß wir gerade dies« Laube haben, denn sie ist wenigstens dicht. In der Nacht wird es ja trotzdem recht kalt, und das Kind muß immer im Trikot schlafen, aber unsere Laube ist noch die beste! Mein Mann? Er ist Metalldreher, aber schon lange arbeitslos, wir haben die Unterstützung und täglich einen Liter Milch für das Kind, da ist die Miete immer eine schwere Last: aber die anderen Lauben sind noch teurer oder viel schlechter." Und man sieht es der Wohnstube wirklich an. wieviel Fleiß und Liebe hier am Werke war, um selbst au» der Lauben wohnung ein Heim zu machen. Den Schrank au» rohen Brettern(wenn wir mal Geld übrig haben, wird er auch gestrichen", entschuldigt die junge Frau), das Kinderbett hat der Mann selbst gebaut. Außerdem steht noch ein Bett, ein« schmale Chaiselongue und ein Stuhl in der Stube, aber alles ist blank und sauber. Ein paar Parzellen weiter haust w einer Laub« ein Ehepaar mit zwei Kindern, zwei Mädchen von 4)4 und 2X Jahren. Die Laub« ist nicht ganz so groß wie die erste, auch inStube" und Küche geteilt. Ein Kinderbett, ein Bett für die Eltern, ein Tischchen das sind alle Möbel. Der Mann ist Kutscher, er hat 40 Mark wöchentlich netto.Aber dafür kriegen wir doch keine Wohnung," erzählt die Frau:wir sind vor ein paar Jahren erst zugezogen, weil mein Mann dachte, hier Arbeit zu kriegen. Dann habe ich eine Portierstelle genommen, und wir hatten ein kleines Zimmer, aber es war kein Ofen drin. Da hat der Hauswirt gesagt, wenn ich viermal auf die 10 Mark Barlohn verzichten will, läßt er mir einen Ofen setzen. Ich war einverstanden, aber nachher sollte ich weiter ohne Barlohn arbeiten, und wie ich das nicht machte, wurden wir exmittiert. Da war ich froh, daß wir die Laube kriegten, denn

wir haben ja keinen Anspruch beim Wohnungsamt! Bloß sie ist zu teuer: 5 Mark die Woche(22,60 Mark im Monat), un sie is so lökerig...." Und wahrhaftig, sie ist verfluchtlökerig"! Der Fußboden ist nur teilweise gepflastert, über der Tür ist ein fast hand­breiter Spall, an der Seite, wo das große Bett steht, fehlt außen die Dachpappe, wenn es regnet, ist die ganze Wand feucht, und durch die Fenster zieht es, so daß die Gardinen wehen. Aber der geschäfts- tüchtige Besitzer ließ sich von den vorigen Mietern sogar 28 Mark monatliche Miete zahlen, wie die Nachbarn oersichern. Die Frau, die das alles gleichmütig erzählt, ist hochschwanger: sie hat schon für die letzt« Nacht mit ihrer Entbindung gerechnet, und sie will hier entbinden!Wo soll ich denn hin mit die Kinder..., ich habe doch keinen, der hier für sie sorgt...." Und so soll hier in der zugigen Laube, wo jeder Tropfen Wasser demAbessinier" abgequält werden muß, wo große Töpfe zum Sterilisieren, wo sogar die notwendige Beleuchtung fehlt, ein Kind geboren werden. Da aber steht noch«in... ja, Laube ist dafür entschieden zuviel gesagt. Das Dach ist nur noch einer Seite hin abgeschrägt, und die ganzen Matze sind viel kleiner als bei den anderen Lauben, und unter den Kolonisten heißt dieseKabache" derStall". Früher scheint sie auch dazu gedient zu haben, denn derHerr ijauswirt" hat für sich selbst noch eine pompöse Brettervilla auf der Parzelle� hier haust ein Brautpaar. Sie sind noch nicht standesamtlich getraut, und so werden sie allgemein nur so bezeichnet. Denn unser Proletariat steckt voll bürgerlicher Rückstände.... Beide sind arbeitslos, und zusammen haben sie nun 24 Mark Unterstützung in der Woche.Da- von kann man sich kein Zimmer für 30 Mark leisten," meint der junge Mann.Möbel haben wir ja noch nicht recht...." Und wirklich, hier besteht das ganze Meublemenl der Stube aus den zwei Bettstellen und einem Tisch. Mehr hätte aber auch nicht Platz, und die Küche ist durch den kleinen Küchenschrank vollkommen ausgefüllt. Durch alle Fugen bläst der Wind, und es sind sogar fingerbreite Lücken in den Wänden. Das Dach über derKüche" mußte der Mieter erst selbst mit Dachpappe flicken, denn der Belag fehlte gänzlich. Jetzt legt der junge Mann imSchlafzimmer" einen doppelten Dachboden, um die schlimmste Kötte abzuwehren: zu den langen Brettern für Doppelwände reicht das Geld noch nicht. Alle diese Verbesserungen macht der junge Mann aber nicht etwa an seinem Eigentum, denn für diesenWindpalast" haben die jungen Leute ihremHausagrarier" 18 Mark monatliche Miete zu zahlen. Aber es wird ja nicht für ewig sein." meint die junge Frau hoff- nungsvoll....

Das sind einige Mieter. Daneben aber wohnen auf dem Gelände noch eine Anzahl von Besitzern. Manche haben aus ihren Lauben richtige Schmuckkästchen gemacht, und einGroßbauer", dessen festes Wohnhaus ein alter Eisenbahnwagen ist, hält sogar zwei Kühe und ist so zumMolkereibcsitzet" und Milchlieferanten für die ganze Gegend geworden. Andere haben ihre Lauben zwar nach' Möglichkeit dicht gemacht, aber drinnen sieht man, daß sich die Be- wohner wirtschaftlich auf dem Abstieg befinden, daß das jahrelange Hausen in derLaube", das es so schwer macht, auch nur die primi- tiosten Kulturbedürfnisse zu befriedigen, sie langsam zuMüllkuten- indianern" degradiert. Alte Frauen, die tagelang nicht mit Wasch-

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Gerichtstag. von Fred Bsrence. eopvrlelit 1925 by Paul Zsolnay , Wie»'

Ich hoffe, daß du mit der Zeit lernen wirft, dann zu schweigen, wenn es am Platz ist... du... bist gemein," murmelte ich zwischen den Zähnen. Was sagst du?" Ich sah, daß er Lust hatte, seinen Sieg vom Morgen aus- zunützen, und daß er imstande gewesen wäre, vor dem Dienst- mädchen mit mir zu raufen. Nur, daß ich ganz still bin." Und ich ging aus der Küche. Er öffnete ein wenig die Tür und schrie auf den Korridor hinaus:Du hast ganz recht, denn sonst... Du weißt ja, daß du es nur zu sagen brauchst, wenn dir etwas nicht paßt." Ich ging ins Speisezimmer zurück und ließ mich auf einen Stuhl fallen: die Stirn an das Fenster gepreßt, versuchte ich nachzudenken. Was hatte sich doch alles seit dem gestrigen Abend zugetragen! Ich wollte mich anklagen, aber ich war nicht schuldig, er hatte die Luft verpestet. Warum nur? Was hatte ich ihm denn getan? Die Tür ging auf, die Mutter trat ein, ich wollte sie herzlich begrüßen, aber ein kaltesdu bist hier" hielt mich zurück. Guten Morgen, Mama, wie hast du geschlafen?" Guten Morgen, ich habe schlecht geschlafen." Bist du nicht wohl?" Wie kann es mir gut gehen, wenn sich hier derartige Szenen abspielen?" Mama, du weißt ja ganz gut, daß ich nicht angefangen habe, gestern hast du selbst den Beweis dafür gehabt." Gut, aber du hättest schweigen müssen, der Vater ist krank und einem Kranken verzeiht man alles." Das ist aber keine Entschuldigung dafür, solche Worte zu gebrauchen: ich habe nämlich gestern abend gehört..." Schweig, ich weiß ja schon lange, daß du ganz herzlos bist, aber jetzt bin ich fest davon überzeugt." Ich blickte ihr starr in die Augen und wollte einen Schrei ausstoßen. Aber ich beherrschte mich, nahm meinen Hut und rief ihr zu:Ich komm« zum Essen nach Hause, Adieu," lief rasch die Treppe hinunter und stürzte auf die Straße.

Schwere Wolken türmen sich auf. Ich irrte durch mehrere Straßen, ohne zu wissen, wohin ich ging. In meinen Schläfen hämmerte es, immer kam der- selbe Gedanke wieder: Was habe ich ihnen denn getan, was habe ich ihnen getan? Endlich wurde ich im Gehen ruhiger. Ohne recht zu wissen, wie, kam ich auf den Quai des Eaux Vives. Ich blieb lange an der Uferböschung stehen, stützte mich auf das Geländer und tat, als wäre ich ganz versunken in den Anblick der Schiffe, die in den Hafen einfuhren und ihn wieder verliehen. In Wirklichkeit sah ich nur das blaue Wasser, das mich auf eigentümliche Weise anzog.Wie gut ließe es.sich da drinnen schlafen...!" Dieser Gedanke fesselte mich und ohne recht zu wissen, was ich eigentlich wollte, verließ ich den Quai und begab mich auf den Molo. Ganz schön ruht man auf Moos und Sand, das saphir- blaue Wasser spült über dich hinweg und treibt dich sanft bis ins Meer..." und plötzlich stand vor mir das Bild eines Ertrunkenen, den man vor einiger Zeit aus dem See gezogen hatte. Ich sah den grünlichen, mit Moos bedeckten Körper, die leeren Augenhöhlen, Fische hatten die Augen gefressen. Ein unbeschreibliches Entsetzen erfaßte den einen Teil meines Wesens, während zugleich der andere rief:Aber man fühlt ja nichts mehr, man weiß nichts mehr, alles ist dann für immer zu Ende!" Ein kleiner Junge stieß mich im Vorübergehen an, er blieb stehen, errötete, zog den Hut und flüsterte:Verzeihen Sie." Ich blickte ihn an und fand, daß er Paul ähnlich sah, lächelte ihm zu und dieses Lächeln stellte mir Paul vor Augen. Eine unvernünftige Begierde, Paul sofort wiederzusehen, hatte mich ergriffen. Ich vergaß alles Böse, ich wollte ihn sehen, sofort mußte ich meinen Bruder, mein Kind sehen. Das Leben schien mir wieder schön und heiter. Ich beschleunigte meine Schritte. An einer Straßenbiegung sah ich die Patin. Ich grüßte und sie winkte mir zu. Wohin läufst du?" Ich gehe nach Hause, es ist bald Esienszeit." Seit wann speist ihr so bald?" Verwirrt sah ich auf die Uhr, es war noch nicht zwölf. Darf ich Sic begleiten?" Wenn du Lust und Zeit hast, kannst du selbstverständlich ein Stück Wegs mit mir gehen." Wir gingen ein paar Schritte nebenainander, ohne zu sprechen.

Wo ist Paul?" Er ist zu Hause geblieben." Warum hast du ihn nicht mitgenommen?" Ich schwieg. Jacques, du hast etwas auf d?m Herzen. Was ist denn geschehen? Etwas mit deinem Vater?" Er ist ein Schuft," rief ich unwillkürlich. Da teilst du mir nichts Neues mit, aber warum sagst du das jetzt. Sonntag habe ich noch euer gutes Einvernehmen bewundert." Da erzählte ich ihr alles. Die Patin hörte aufmerksam zu, ohne mich zu unterbrechen. Als ich geendet hatte, sagte sie mir:Das ist noch schlimmer, als ich dachte. Dein Vater ist krank, hast du das vergessen?" Sie entschuldigen ihn auch?" Nein, du täuschest dich, ich beurteile ihn strenger als irgend jemand, ich will nur feststellen..." Ich atmete erleichtert auf. Alle diese Sorgen und Aufregimgcn haben deine Mutter mehr heruntergebracht, als die Entbehrungen. Andr6 ist eifersüchtig, er neidet dir dein: Stellung als Oberhaupt der Familie, es ist leicht einzusehen, daß sich alle gegen dich und auf feiten deines Vaters stellen, im Augenblick, wo der Vater gegen dich Partei ergreift." Das sind ja schöne Aussichten, was soll ich aber tun?" Geduld haben." Mutlos ließ ich die Zlrme sinken. Nicht wahr, du hast Paul und Alice sehr lieb?" Das wissen Sie selbst." So ertrage alles wegen der beiden Kinder. Glaub' mir die großen Sieger der Zukunft sind die, die warten können." Wir waren vor ihrer Wohnung angekommen, sie reichte mir die Hand und ich ging langsam nach Hause. Ich schwor mir zu, ihrem Rat zu folgen und die Fassung nicht zu verlieren, was immer auch geschehen möge. Bevor ich die Tür öffnete, bemühte ich mich, ganz unbefangen auszusehen. Ich ging in die Küche, wo Alice Gemüse anrichtete, als sie mich sah, lächelte sie mir lieb zu. ,T)a bist du ja endlich!" Endlich?" Ja. wir sind schon bei Tisch, das Essen ist kaum fertig. Mama wollte ans dich warten, aber Papa verlangte, daß man sofort auftrage und natürlich hat Andrä zu ihm gehalten." (Fortsetzung folgt.)