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2. Heilage öes vorwärts

donnerstag. IS. März 1927

Sozialpolitik im Reichstag. Ter deutschnationale Arbeitervertreter gegen den Achtstundentag.

Vizepräsident Graefe eröffnete die-k?«strige Reichstags- s i tz u n g mit der vom Haufe mit Veifal! aufgenommenen Mit- tcilung, daß das Befinden des Präsidenten Lobe sich wesentlich gebessert habe und daß er sich jetzt außer Gefahr befinde. Der Vizepräsident bittet um die Ermächtigung, dem Genesenden die Glückwünsche des Hauses übermitteln zu dürfen, und spricht die Hofs- nung aus, daß bald wieder der Tag kommen werde, wo der Prä- fident wieder im Reichstage erscheinen könne.(Beifall.) Die zweite Lesuiig des Haushalts des Reichsarbeits- Ministeriums wird fortgesetzt. Abg. Lambach (Dnat.) wendet sich gegen die Bestrebungen, das Reichsarbeitsministerium abzubauen. Die sozialpolitische Gesetz- gebung müsse einheitlich gestaltet und die gleichberechtigte Ein- gliederung der Arbeitnehmer in das politische, wirtschaftliche und soziale Leben gesichert werden. Dem Problem der Erwerbs- l o s i g k e i t könne nur zu Leibe gegangen werden, wenn der beut- schen Landwirtschast in entscheidender Weise geholfen werde. In anderen Ländern, z. B. In Italien , habe man erkannt, daß nicht nur Beschäftigung, sondern auch Nahrung beschafft werden müsse. Solange das bei uns nickst geschehe, sei auch die Arbeitslosen- Versicherung nicht lebensfähig. Die Selb st Hilfe dürfe durch die obligatorische Arbeitslosenversicherung nicht erdrosielt werden. Der durch die Kriegsoerluste verursachte Aussall in den mittleren Lebensjahren und die Verlängerung der durchschnittlichen Lebensdauer werde zu Beitragserhöhungen in der Altersversicherung in den nächsten Jahren führen. Der Redner wendet sich gegen den schematischen Achtstundentag, mit dem man nur das Wirtschaftsleben vergewaltigen würde. Der große Streik in England habe gezeigt, daß wir mit unserem Schlichtungswesen aus dem rechten Wege seien. Man solle aber den Kreis der tarif- fähigen Gewerkschaften weiter ziehen und auch den neugebildeten Organisationen die Möglichkeit geben, ihre Daseins- berechtig, mg zu beweisen. Die internationale Sozialpolitik sei bis- her unbefriedigend gewesen. Dem deutschen Arbeitnehmer im Aus- lande müsse die Sicherheit gegeben werden, daß er den von ihm gewünschten Arbeitsplatz einnehmen könne. Die deutschen Konsulate müßten sich seiner in dieser Beziehung mehr als bisher annehmen. Abg. Erkelenz (Dem.) vermißt die Mitarbeit des Reichswirt- fchaftsrats und des Reichswirtschaftsministeriums bei der Ratio- nalisierung der Betriebe. Wöhrend das Reichskuratorium für Wirt- fchaftlichkeit sich dieser Aufgabe mit großem Fleiß und Geschicklichkeit annehme, sei bei den führenden Staatsmännern die propagandistische Mitarbeit zu vermissen. Da die Rationalisierung vorüber- gehend die Arbeitslosigkeit vermehre, müsse der Ar­beiterschaft die wirtschaftliche Bedeutung dieser Maßnahme klar- gemacht werden. Der gute Wille der Arbeiter sei bei der Modern!- sierung der Betriebe von großer Bedeutung und könne auf die Dauer nur hergestellt werden, wenn die Vorteile der Rationalisierung auch den Arbeitnehmern zugute kämen. In d>eser Hinsicht seien von den rationalisierten Industrien die nötigen Maßnahmen noch nicht gc- troffen worden. Der nötige Absah könne nur gesichert werden, wenn die kauf. kraft der Bevölkerung mindestens ebenso steige wie die Pro- duktionsvermehroag. Auch hier fehle die zielbewußte propagandistische Arbeit des Reichs- wirtschafts- und des Reichsarbeitsministers: beide sollten sich über die Weiterfühning der Rationalisierung, über die Preis- und L o h n g e st a l t u n a, die sich aus ihr ergebe, und über die plan- mäßigen Weg«, wie die erforderlichen Lohnsteigerungen ohne Streik und Aussperrungen durchgeführt werden können, Rechenschaft ab­legen. Es fei nicht gelungen, beim Arbellszeilnolgeseh zwischen

Anlernehmern und Arbeitern eine Verständigung herbeizuführen. wenn hier nicht schleunigst eine Umkehr erfolge, so werde Deutsch­ land bald von schweren sozialen kämpfen. Streiks und Aussperrun- gen erschüttert werden. Abg. Beier-Dresden (Wirtsch. V.) warnt vor einer lieber- spanirung der Sozialpolitik. Bedauerlich sei, daß die Anstedlung von Erwerbslosen an Zwistigkeiten zwischen Reich und Preußen scheitere. Man solle nicht der Reichsbahn durch Kanalbauten Kon- kurrenz machen, sonder» lieber die Arbeitslosen bei Straßenbahn- bauten beschäftigen. Staatliche Lehrwerkstätten, wie sie die Sozial- demokraten fordern, könnten keine Facharbeiter heranziehen. Staat und Gemeinden sollten Handwerk und Gewerbe durch Aufträge unterstützen. Dadurch würde auch Beschäftigung für Lehrlinge ge- schaffen werden. Die Mietzinsfteuer dürfe nicht für Berwaltungs- ausgaben verwendet werden, sie müsse zum Teil auch den Haus- bcsigern für Instandsetzungsarbeiten zur Verfügung gestellt werden. Abg. Schwarzer(Bayer. V.) versichert, daß mit der neuen Re- gierungsbilduna die Sozialpolitik nicht zum Stillstand kommen werde. Der Haushalt des Arbeitsministeriums habe sich ja auch gegen das Vorjahr nickst verschlechtert, und der Minister sei der- selbe geblieben wie unter der alten Koalition. Die Arbeitslosenver- Schern ng und die jetzt bald zur Beratung stehende Erhöhung der noalidenrenten seien übrigens alle Forderungen nicht einer, sondern sämtlicher Parteien. Solange wir keinen Wohnungsüberschuß haben, könne von einem Abbau der Zwangswirtschaft nicht die Rede sein. Der private Wohnungsbau komme jetzt langsam wieder in Gang. aber ohne den gemeinnützigen Wohnungsbau sei die Wohnungsnot nicht zu beheben. Die Erhöhung der Mieten werde eine Verschlechterung der Lebenshaltung breiter Massen bringen, aber auf die Dauer lasse sich die Miete in ihrer jetzigen Hol)« nicht aufrechterhalten. Die Länder müßten einen Teil der Mehrbelastung der Mieter zum Bau von Wohnungen vcr- wenden. Der Radikalismus habe leider nicht nur bei den Arbeitern, sondern auch bei den Angestellten und dem Mittelstand Fortschritte gemacht. Das sei darauf zurückzuführen, daß große Volksschichten heute schlechter leben als vor dem Kriege. Um so mehr müsie des- halb für den Ausbau der Sozialpolitik geschehen. Damit ist die ollgemeine Aussprache geschlossen. Die Einzel- beratung des Haushalts des Reickst-arbeitsministertums wird um 6)4 Uhr auf Donnerstag nachmlltag 2 Uhr oertagt. �lufwertungsfragen im Reichstage. Unterbrochene Verhandlungen. Gestern nachmittag traten die Führer der Regierungsparteien Im Reichstage zu einer Besprechung zusammen, die sich in der Hauptsache damit befaßt«, bis zu welcher Grenze die Auf« wertungsbestimmungen vor allem für die Altbesitzer günstiger gestaltet werden können. Die Verhandlungen, die sich im Ansangsstadium befinden, sollten eine Verständigung zwischen den Regierungsparteien herbeiführen, um dann mit der Regierung selbst einen Weg zur Erfüllung der dringendsten Wünsche zu finden. Wie jedoch bei dem Charakter der Rcchtsblockregierung nicht anders zu erwarten war, wurden die Aufwertungsverhandlungen sofort nach Beginn wieder abgebrochen. Es wurde davon gesprochen, daß die Regierung selbst vielleicht eine Vorlage darüber einbringen wird.

7ahrgaag

WehrmachtunöSozialöemokratie Das neue Buch von Julius Deutsch . Von Hermann Schützinger. In dem Augenblick, in dem der Bürgerblock glaubte, die Wehrfeindlichkeit" der deutschen Sozialdemokratie zu einer grundlegenden Umstellung der deutschen und der europäischen Politik benutzen zu müssen, erscheint im I. H. W. Dietz-Verlag eine Broschüre des ehemaligen deutschösterreichischen Wehr- Ministers Julius Deutsch (Wehrmacht und Sozialdemo- lratie"), die mit schlagenden Worten alle die Redensarten Geßlcrs und Reinhardts von der utopisch-pazifisti- schen Verseuchung der deutschen Sozialdemo- k r a t i e abtut und über die Grundsätze der modernen sozial- demokratischen Wehrpolitik Klarheit schafft. Justus Deutsch ist nicht irgendwer. Er hat als Offizer der Gilten öcherreichifch-ungarifchen Armee zusammen mit Otto «auer das österreichische 3l) OOO-Mann-Heer aus dem Boden .stampft und ihm nach seinen Rücktritt aus dem Wehr- Ministerium bis auf den heustgen Tag alsParlaments- kommissar für das Heerwesen" seinen republikanischen Eha- rakter gewahrt. Als Führer dersRepublikanischen Schutz- bundes" hat er mit dem deutschen Reichsbanner* und den Wehrpolistkern des republikanischen Deutschland , vor allem mit Paul L ö b«, engste Fühlung bewahrt und nicht zum erstenmal fein Wort mit allem Nachdruck in die deutsche Reichswehrdebatte geworfen. Julius Deutsch rechnet zunächst mit dem Schlagwort ab, die internationale Sozialdemokratie habe seit ihrem Bestehen nur imknochenerweichenden Pazifismus" geschwelgt und überall dieLandesverteidigung" sabotiert. Gewiß, argu- mentiert Deutsch, die gefühlsmäßige Abneigung des Prole- tariats gegen den kapitalistischen Interessen- und Eroberung?- krieg war zu allen Zeiten außerordentlich groß und hat sich auf internastonalen Meetings und Kongressen unzweideutig durchzusetzen gewußt. Daneben aber hat die Sozialdemokraste mit ihren führenden Köpfen m Deutschland (Bebel), Oester- reich(Viktor Adler ) und Frankreich (Jean Iaurds) höchst reale sozialdemokratische Wehr Politik gemacht, die Miliz gefordert und die internationale Abrüstung verlangt. Nie- mals aber fei sie, seit dem ersten internationalen Arbeiter- kongreß zu Paris im Jahre 188S, vom Prinzip einer Vernunft- gemäßenLandesverteidigung" und von einer höchst nüchter- nen Betrachtung der militärpolitischen, zwischenstaatlichen Gegebenheiten abgewichen! Auch die Weglassimg der Absätze über die p r o l e t a- rischeWehrhaftigkeit" im österreichischen Linzer und im deutschen Heidelberger Programm bedeute keineswegs einen Berztcht der Sozialdemokraste auf jede Art von Landes- Verteidigung oder jede Art proletarischen Selbstschutzes Im Bürgerkrieg. Obwohl sich Julius Deustch ziemlich unver- hohlen angesichts der hoffnungslosen, europäischen Entwaff» nungsmisere für die Uebergangszeit bis zur Festigung des tnlernationalen Rechts auf den Standpunkt der M i l i z stellt und ihr einen besonderen Wert auch für innerposttische Macht- kämpfe beimißt, bekennt er doch, daß die FrageMiliz oder Söldnerheer" bei den militärpolitischen Bedingungen des B'rsailler Vertrages nur im Zusammenhang mit der gesamt- europäischen Abrüstung von der nächsten Generatton gelöst werden wird. Die Sozilademokratie verurteile in der heustgen. unge- klärten militärpolitischen Lage weder denWehrgedanken" an sich, noch ein bestimmtes Wehrsystem: .Wenn«kr von Militarismus reden, meinen wir kein bestimmtes Wehrsystem. Wir verstehen unter Militarismus das Bestreben der Militärs, über ihr engeres Fachgebiet hinaus zu greifen und, anstatt dem Staate zu dienen, ihn zu beherrschen. Wo die zivile Verwaltung von militärischen Einflüssen nicht bewahrt ist. wo dl« Militär»«ine geselkschaftlich« Sonderstellung bekleiden und Vorrechte genießen, wo die Leitung des Staates unter dem Drucks militärischer Kommandostellen steht, dort gibt es einen Militarismus. Die Abwehr des Milltarlsmus ist für die Sozialdemokratie eine Selbstverständlichkeit. Aber ihr Kampf gegen den Militarismus braucht und soll keine Ablehnung des Militärs sein. So entschlosien die Sozialdemokratie gegen olle militaristischen Bestrebungen kämpfen muß, so falsch wäre es, wenn sie einem Volk« zumuten wollte, nicht militant, nicht wehrhaft zu fein." Im übrigen zieht Julius Deutsch die Folgerungen aus der Gestaltung der deutschen und der österreichischen Wehr- Politik der letzten Jahre, indem er die Forderung erhebt: Das sozialdemokrastsche Proletariat muß im Zeitalter der faschistischen und der kommunistischen Diktaturw e h r h a f t" sein! Die Wehrmacht der von der Sozialdemokratie mitge­tragenen Republik muß vom politischen Einfluß des durch- weg antidemokratischen Offizierskorps losgelöst und h u n- dertprozentig republikanisch fein: lieber keine Bestimmung des österreichischen Wehrgesetzes jam- mern die Reaktionäre mehr als über die, die den Soldaten die politischen Rechte sichert. Ihr Schmerz ist zu ver- stehen, denn der Soldat mit politischen Rechten ist ein ganz anderer Mensch, al» der, den die Reaktton für ihre Zwecke benötigt. Die

Ratticm möchte so wie in der Zeit der Monarchie durch das Offi- zierskorps über willen- und rechtlose Soldaten herrschen können. Der von ihr ersehnte sogenannteunpolitische" Soldat ist der entrechtete, versklavte, seinen Offizieren völlig au»- geliefert« und eben deshalb zu jedem polttijchen Mißbrauch benutzbare Waffenträger. Die Verleihung der politischen Rechte an die Soldaten bedeutet m ihrem Ergebnis eine Cntpolittsierung der Wehrmacht, nämlich eine Vorbeugung gegen ihren Mißbrauch zu politischen Zwecken." Das Fiasko der deutschen republikanischen Wehrpolitik aber führt Deutsch auf die antimilita- ristische Haltung der deutschen Arbeiterschaft, die dem Ruf Noskes nicht gefolgt sei, und auf gewisse Regiefehler im Resiort des ersten Reichswehrministers zurück. Es mag völlig dahingestellt bleiben, wie derRuf Roskes" an das deutsche Proletariat hätte herangebracht wer- den müssen. Fest steht, daß die im Jahre 1920 noch 200 000 Mann starke Reichswehr noch etwa 100 000 ehemaligeKa- pitulanten", d. h. durchweg den unteren Voltsschichten ent- stammende Männer enthielt, die zusammen mit ihren meist polltisch völlig indifferenten Berufsgenossen ebenso einen republikanischen Kern der deutschen Wehrmacht hätten bilden können wie in Oesterreich die Militär- technische Esite des Proletariats. Erst die in Deutsch - land viel schwerer zu meisterndeOffiziersherrschaft", die Zerschlagung desReichsverbandec der Berufssoldaten" und die Entwindung der staatsbürgerlichen Rechte der Reichs- wehrsoldaten unter dem zweiten Wehrminister schufen das Vakuum", den luftleeren Raum, in dem Geßlers Reichs- wehr entstand und die Armee der deutschen Revolution zer- rann.

Ein wchtiges Gebiet schneidet Justus Deutsch zum Schluß noch an, die organische Verbundenheit von Wehrgedanken und Proletariat für jede Art von Landesverteidigung und die militärische Wertlosigkeit jeder Armee im Maschinenzeitalter der Gegenwart ohne die Mithilfe der Arbeiterschaft: Ein Hunderttau sendmann. Heer fft nach der bisher üblich gewesenen und noch immer und besonders in Deutschland sorgsam gehegten Art militärischer Betätigung« i n R i ch t s. Es wäre aber«ine gar nicht so unbrauchbare Waffe, wenn es als ein Jndustrieheer aufgebaut werden würde. Ein so kleines Heer wie die deutsche Reichswehr dürft« sich nicht den Luxus leisten, den Großteil seiner Mannschaft zu einer Infanterie und das noch dazu in veralteter Form auszubilden... Das Streben der Reichswehr müßte vielmehr dahin zielen, ein technisches Heer zu werden, denn darm allein kann seine Zukunft liegen. Man kann mit Fug und Recht sehr verschiedener Meinung darüber sein, ob Deutschland überhaupt einen militärischen Schutz braucht. Aber man soll uns nicht einzureden suchen, daß das, was Deutschland heute an Militär besitzt, in dieser Beziehung irgendwie in Betracht käme. Ganz anders lägen u-nseres Erachtens die Ding«, wenn die deutsche Reichswehr , anstatt sich als ein Kader zu organisieren, dem im Kriegsfall« allerlei reaktionäre vaterländische Verbände anzugsiedern sind, sich al» ein Kader für«in Industrieheer betrachtete. So ohnmächtig die deutsche Reichewehr einem äußeren Feinde gegenüber ist, wenn sie sich auf die vaterländischen Ver- bände stützt, so mächtig könnt« sie sein, wenn die industrielle Arbeit zu ihrer Unterslützung bereitstünde." In dem Augenblick, in dem sich der Bürgerblock anschickt» deutsche Politik" gegen die deutsche Arbeiterklasse zu machen, kann man ihm nicht deutlich genug den Gedanken unseres österreichischen Genossen unter die Augen rücken.

b1ütenr«ine Kleidung, Darum schicken Sie bitte die zum Färben, chemisch Reinigen oder Waschen gewählten Stücke unverzüglich In die nächste Filiale oder Annahmestelle der

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