Nr. 130 ♦ 44. Jahrgang ------------------
7. Heilage ües Vorwärts
5reitag, IS. März 1927
Sind fünf Jahrzehnte gleich dahingefloffen, Noch mußt fürsorglich du die Knospe hüten, Mein Volk, vor giftigen Reaktionssturms Wüten Wie vor des Pöbelwahnes eisigen Schloffen! Noch darfst du nicht auf treuer Wacht ermatten, Vis sich der heilige Kelch will ganz erschließen, Bis reif die Frucht, prangt in der Morgensonne... Und rafft uns gleich dahin der Fürst des Schatten, LH' wir geschaut des Erntetages Wonne: Sein Licht wird freier Enkel Schare « graben! Und fast noch ergreifender muten uns die Inschriften auf den Grabsteinen unserer Vorkämpfer an, wenn wir beispielsweise die schlichten Zeilen lesen: Der hell'gen Freiheit galt sein schnell Erblassen, Er wird sie uns als Erbteil hinterlassen. Im Kamps« für des Volkes Freiheit sterben. So heißt das Testament, nach dem wir erben. „Der heil'gen Freiheit galt fein schnell Erblassen!" Ja, so war
es in der Tat! Finsterste Reaktion hatte vor 1848 seit dem ge- brochenen Königswort aus den Freiheitskriegen über Preußen ge° lastet, und Heinrich Heine konnte über das aormarjliche Berlin
Die alten— Es war am 13. März 1898, als km Reichstag des verflossenen deutschen Kaisertums die Vertreter der Linken in ehrenden Worten der fünfzigjährigen Wiederkehr der Revolutionstage von 1848 ge- dachten und die Toten der Kämpfer jener blutigen Märzwoche rühmten. Ein Vertreter der Reaktion aber fand in dieser Sitzung des deutschen Parlaments die traurige Unverfrorenheit, davon zu sprechen, daß nur„ausländisches Gesindel" damals, 1848,' den Kampf gegen Thron und Altar und alles, was drum und dran hängt, geführt habe. Es ist bezeichnend, daß dieser Junker emen Namen trug, der gerade damals, acht Jahre nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes, in Deutschland besonders üblen Klang hatte und ausnahmsweise berüchtigt war: Der Herr' hieß nämlich von Puttkamer . Unser Genosse August Bebel war es, der, zusammen mit dem Fortschrittler Munckel, der reaktionären Frechheit mit einer Schärfe entgegentrat, die in diesem Falle wirklich einzig angemessen war. Und wenn wir freudigen Bekenner der deutschen Freiheit heute wiederum an den Gräbern unserer Toten aus den Straßenkämpfen vom März 1848 stehen und in Ehrfurcht und Dankbarkeit unsere Kränze mit roten und schwarzrotgoldenen Schleifen niederlegen, dann erinnern wir uns vielleicht jenes anmaßenden Wortes aus Junker- niund. Uiid wir schreiten die Grabstätten entlang und können fest- stellen: Unter den 18S Toten auf dem Ehrenselde der Revolution von 1843 finden wir 132 Handwerksgesellen und Arbeiter, 15 kauf- männische Angestellte, 9 Handwertslnetster, 5 selbständige Kausleute, 7 Frauen, 6 Akademiker, 2 Künstler, 5 Beamte. 1 Gastwirt, 1 Kind, 1 Taubstummen und 1 Unbekannten. Diese 185 Toten sind bis auf ganz wenige Ausnahmen alle a u s Berlin selbst gebürtig. Die Reaktion log schon damals genau so frech, wie sie zwanzig Jahre später über die Revolution vom November 1918 log und hausieren ging mit dem Märchen vom Dolchstoß in den Rücken des siegreich kämpfenden Heeres! Viel- leicht oeranlaßte gerade die Ueberheblichkeit des Rückschritts den fort- schrittlichen Dichter Richard Schmidt-Cabanis in jenen Erinnerungstagen des Jahres 1898, den' Kämpfern des ersten heut- schen März diese tiefempfundenen Verse zu widmen Aus schlichtem Keime sind dereinst entsprossen Des deutschen Freiheitsbaumes goldene Blüten. Doch ob manch warme Strahlen sie umglühten— Noch hat sich nicht ihr voller Duft ergossen.
das bittere Urteil fällen, Berlin sei gar keine Stadt, sondern ein Ort, in dem Berliner zusammenkämen. Dies Berlin , das doch schon damals eine Großstadt von 41X1 IM Einwohnern und die Hauplftadt einer europäischen Großmacht war, stand hinter allen anderen Metropolen jener Zeit weit zurück. Man denk« doch nur einmal daran, daß in einer Epoche, in der in Weimar der Riese Goethe noch lebte und in Hamburg ein H e b b e l, in Wien em Grillparzer aus- tauchte, in Berlin der Dramatiker R a u p a ch, der nach P l a t e n seine Werke„schmierte, wie man Stiefel schmiert", und der süßlich- verquollene Romanschriftsteller C l a u r e n die erste Violine spielten. Dieses Land hatte damals noch nicht die Spur einer Volksvertretung, dafür aber eine bis aufs kleinste durchorganisierte und in ihrer Art ganz vortreffliche politische Polizei. Und unter Friedrich Wil- ' elm IV.. diesem ausgesprochenen geistigen Verwandten Wil - elms II. unter den Hohenzollern , dessen Regierungsantritt man be- grüßt hatte, der aber nachher in seinem überspannten Romantizis- mus und in seiner krankhaften Vorstellung von der Macht des wahn- witzigen Gottesgnadentums alles nur noch schlechter machte als sein unfähiger Vorgänger, mußte der Freiheitsdrang des geknebelten Volkes zur Entladung kommen. Und der rheinische Revolutionär Robert Blum , der nachher, am 9. November 1848, in Wien von den schwarzgelben Horden Wittgensteins ermordet wurde, hatte Recht, wenn er in der Frankfurter Pauls-Kirche sagte:„Man wirft mitunter schielend« Blicke auf einzelne Parteien und Personen und sagt, daß sie die Anarchie, die Wühlerei und. wer weiß, was, wollen. Meine Partei läßt sich den Vorwurf der Wühlerei gern gefallen: sie hat gewühlt ein Menschenalter lang, mit Hintansetzung von Gut und Blut: sie hat den Boden ausgehöhlt, auf dem die Tyrannei stand, bis sie fallen mußte, und Sie, meine Herren, säßen nicht hier, wenn nicht gewühlt worden wäre!" Ach. die Tyrannei schien n ur gefallen zu sein. Ein halbes Jahr später erhob sie sich frecher als je zuvor: In der Pfalz und in Baden wütete die Soldateska des Kartätschenprinzen und in»Uni garn mordeten die Kosaken des Zaren Nikolaus Romanow . Und an alles, was nachher kam, an Bismarcks Blut- und Eisenpolitik, an das Sozialistengesetz, an dep Größenwahn Wilhelms II. und das Grausen des Weltkrieges, mahnen uns die Gräber im Friedrichs- Hain, die uns berichten von den toten revolutionären Kämpfern aus dem November 1918. Ja, siebzig Jahre noch währte die Monarchie, bis sie endlich und endgültig wie ein Kartenhaus zusammenfiel. " Heute haben wir eine demokratisch« Republik , und wir Prole- tarier, wir sozialistischen Republikaner sind fest entschlossen, sie unter allen Umständen und jeder Fährnis zum Trotz zu erhalten und zu schützen. Denken wir noch einmal zurück an 1848, so finden wir, daß schon damals die entschiedenen Republikaner in unserem Lager standen. Sagte doch ein Friedrich Hecker schon am 5. März 1848:
— und die neuen Gräber. „Jet) will die Freiheit, die ganze Freiheit für alle, aber keine Freiheit nur für die Privilegierten oder für die Reichen: ich bin, wenn ich es mit einem Worte bekennen soll, Sozialdemokrat!" Tritt uns aber die Reaktion entgegen, so rufen wir ihr zu:„Hütet euch! Wir sind, wenn wir es mit einem Worte bekennen sollen. Sozial- demokraten!" Denn das Wort Ferdinand Freiligraths, das er die Toten der Märztage den Lebenden zurufen läßt, soll nicht umsonst erklungen sein: J0 steht g e r ü st e t! Seid bereit! O schaffet, daß die Erde, Darin wir liegen st rock und starr, ganz eine freie werde!" Der Todesfall im Krankenhaus Gitfchiner Straße. Zu den Meldungen über den Tod der Köchin Martha K r a n e r t im Krankenhaus GitfchinerStraße teilt das Bezirks- omt Kreuzberg , dem das Krankenhaus untersteht, folgendes mit:„Am 31. Dezember 1926 wurde eine Hausangestellte, Fräulein Martha K. in das Krankenhaus Gitscbiner Straße aufgenommen. Sie hatte seit längerer Zeit an Herzbeschwerden gelitten. Die Unter- � fuchung ergab einen sogenannten kombinierten Herzkläp- p e n f e h l e r. Außerdem fanden sich bei ihr die untrüglichen Zeichen schwerer syphilitischer Verände rungen des Zentral- Nervensystems. Wie es in derartigen Fällen üblich ist, war die darauf angestellte sogenannte Wassermannsche Blutreaktion stark positiv. Außerdem wurde noch eine zweite Reaktion vorgenommen, die gleichfalls positiv ausfiel. Diese Reaktionen wurden in der bat- teriologifch-serologischen Abteilung des Krankenhauses am Urban unter Leitung des Abteilungsdirektors ausgesührt. Fräulein K. wurde darauf vom Arzt mitgeteilt, daß sie an einer Syphilis leide, die unbedingt einer entsprechenden Kur bedürfe. Hiermit war sie e i n v e r st a n d e n. Die Kur wurde unter Beobachtung aller der Vorsichtsmaßregeln, die dabei üblich sind, mit kleinsten Mengen Sal- varsan vorgenommen. Es entspricht nicht den Tatsachen, daß Fräu- lein K. über die Vornahme bzw. über die Art der Kur im unklaren geblieben ist. Sie hat die ersten sechs Einspritzungen ohne jeden Nachteil oertragen. Da auf der am Bett befindlichen Fieberkurve in deutlicher Schrift die Tatsache der Einspritzung und auch das Mittel
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Gerichtstag. von Fred Bsrence. Copyright 1925 hy Paul Zsoinay. Wlei'
Ich schauderte und erwiderte kein Wort, wußte ich doch nur allzugut. wie sehr er recht hatte. „Du zitterst vor Kälte, geh' zu Bett."' Ich zitterte nicht vor Kälte, aber Meberschauer schüttelten mich. Ich gehorchte, drehte das Licht ab und legte mich nieder. Mit weitgeöffneten Augen starrte ich in die Dunkelheit. In einem Nebel sah ich das Spital in Lyon und hörte die Worte des jungen Arztes: Er wird nicht mehr lange leben. „O, wenn das so wärel" „Was denn?" fragte AndrF schlaftrunken. „Nichts!" Ich war ganz destürzt, daß ich laut vor mich hinaesprochen hatte. Aber nun war der Gedanke einmal da, grub sich in mein Hirn, ließ mir keine'Ruhe mehr. Und mein ganzes Leben zog wie ein Film an meinen Augen vorüber: Das Asyl für verlassene Kinder, die Zeitz die ich„dort" verbracht hatte als„Gemeindekind", die wenigen schönen Tage in Genf , in Evian; unser armseliges Leben in Genf , der Kampf ums Brot, das Lyoner Spital, mein Heim- kommen von den Reisen am Samstag Abend, das Gespräch mit dem Pastor Dubois, meine Flucht. Und immer und überall war er es, er, der Schande über uns gebracht hatte, der mich als Kind noch in fremde Hände gegeben hatte, ohne sich darum zu kümmern, wieviel Hohn. Ungerechtigkeit und Roheit ich auch erdulden mußte. Er war es, der mich mit seinem argwöhnischen Haß oerfolgte, als die Mutter mich wieder zu sich nahm, er hatte meine heiliasten Gefühle beschmutzt, und morgen würde Paul an die Reihe kommen und auf boshafte Weife gequält werden, denn er mochte auch dieses Kind nicht. Das Herz schlug mir so heftig, daß ich dachte, es müßte mir die Brust zersprengen, mein Blut häm- werte in den Schläfen, ein stechender Schmerz bohrte mir im Nacken, ich keuchte. Plötzlich ertönte ein'Schrei aus dem Schlafzimmer meiner Eltern. Hatte ich geträumt? Ich setzte mich im Bett auf und lauschte, hörte aber nichts als meinen Herzschlag und das Ticken der Uhr. Da drang ein zweiter Schrei durch die Wand, diesmal schwächer als der
erste. Ich stürzte zur Tür. Andrö drehte sich im Bett um und streifte meine Hand. „Hast du gehört?" fragte ich ihn. „Natürlich, der Schrei hat mich geweckt." „Hast du schon zweimal schreien gehört?" „Ja, aber bleib hier." Er faßte mich am Arm, ich suchte mich loszumachen. Er redete mir zu:„Sei doch vernünftig." „Vernünftig, du hast gut reden, ich versichere dir, daß er sie mißhandelt." „Das ist schon möglich." Als ich Andrä einen Schlag mit der Faust gab, ließ er mich los. „Ich sage dir nur das eine: Wenn er sie anrührt, so bringe ich ihn um." Ich hörte, wie Andrö aus dem Bette sprang: er machte Licht und am ganzen Körper zitternd, sah er mich einen Augenblick an. Wir lauschten, konnten aber keine Worte unterscheiden. Nur ein Murmeln drang zu uns. Andrä legte sich wieder zu Bett, ich preßte mein Ohr an die Tür und konnte die Stimme der Mutter vernehmen, die ganz verzweifelt klang: „Wenn du mich nicht in Ruhe läßt, so rufe ich um Hilfe." Leise schlich ich aus den Korridor hinaus und hörte,-wie er mit einer rauhen, fremden Stimme sagte:„Wie du vor zwanzig Iahren in meine Iunggesellenwohnung am Boulevard Malesherbes gekommen bist, gelt, da warst du nicht so prüde und noch glücklich..." Die letzten Worte wurden so leise gesprochen, daß sie mir entgingen. Sie erwiderte mit überreizter Stimme:„Dazu gehört eine bodenlose Gemeinheit, mir vorzuwerfen..." Er unterbrach sie: ,I)u hast diese schöne Geschichte ganz schlau deinen Söhnen erzählt.. Er lachte höhnisch. „Ich hätte ihnen eben erzählen sollen, daß ich von zu Hause fortgelaufen bin, um zu dir zu kommen. Offen und aufrichtig habe ich dir gesagt, daß ich deine Frau sein wollte und daß du damals in gemeiner Weise meine Liebe, meine Erregung, meine Unerfahrenheit mißbraucht hast." „So, deine Unerfahrenheit," höhnte er.„Aber in Wirk- lichkeit war das ja wohl ausgedacht, so war ich gezwungen, dich zu heiraten, gelt? Jetzt bist du das zarte Püppchen, aber wie du in meinen Armen gestöhnt,, ,"
Wieder klangen die Worte gedämpft, zweifellos sprach er ganz an ihrem Ohr. Ich hörte das Geräusch einer Ohr- feige, er brüllte jetzt wirklich wie ein Tier. „So, du glaubst, ich lasse mich ohrfeigen wie ein kleiner Junge, wart nur.". Der Betteinsatz knackte. „Laß mich, laß mich," röchelte sie. Dann stieß sie einen erstickten Schrei aus:„Zu Hi..." Ich riß die Tür auf. Das Zimmer war durch eine grüne Nachtlampe nur schwach beleuchtet. Beim Geräusch der sich öffnenden Tür sprang er aus dem Bett. Ich stammelte:„Was gibt's denn?" Er drehte das elektrische Licht an, zeigte mir die Mutter, die auf dem Bett lag, totenblaß, mit starrem Blick und wirrem Haar, mit wutbebender Stimme preßte er hervor:„Was es gibt? Daß deine» Mutter verrückt oder hysterisch ist, was auf dasselbe herauskommt." Sie blickte mich mit starren, weit aufgerissenen Augen an, die mir ganz fremd waren, niemals noch hatte ich sie so gesehen. Sie wies auf ihren Arm, ich sah, daß er geschwollen war und daß Blutstropfen herunterrannen. „Er hatadich geschlagen?" brüllte ich plötzlich. „Ja." „Ich habe ihr einen Schlag gegeben, um sie zu beruhigen; man sollte sie schlagen wie ein kleines Kind; es war ein Nervenanfall, und Schläge sind ja das einzige Mittel, um Hysterikerinnen zu beruhigen." „Du gemeiner Mensch! Jacques, ich wiederhole dir, daß er mich geschlagen hat." Er packte sie am Handgelenk und blickte ihr in die Augen, als ob er sie hypnotisieren wollte. Da stürzte ich hin und herrschte den Vater an:„Laß sie!" Er schüttelte sie wie ein Blatt und warf sie roh auf das Bett. Was dann geschehen ist, weiß ich nicht mehr recht, aber plötzlich legte sich eine rote Wolke vor meine Augen: ich trat einen Schritt zurück und schrie:„Bring ihn um,' briitg ihn um." Er sah mich mit einem fürchterlichen Blick an, stieß mich an den Schultern fort und mit einer Stimme, die in ihrer Ruhe erschreckend war:„Geh' hinaus." _(Fortsetzung folgt.)