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Nr. 134 44.Jahrgang

1. Beilage des Vorwärts

Sonntag, 20. März 1927

Lehmerh

Kleine Pioniere

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Ob es wohl irgendeinen unter uns gibt, der noch heute gern und mit freundlichem Gedenken sich seiner Schuljahre erinnert? Die Mehrzahl der Memoirenwerke geht über das Kapitel Schule" leicht hinweg; wo einmal der Schuljahre gedacht wird, da denkt man meist eines einzelnen Lehrers in Dankbarkeit. Die Schule im ganzen steht noch heute vor dem einzelnen als eine Art von Folterfammer des Geistes, in der bösartige Hentersknechte den kindlichen Geist in ein Prokrustusbett zwängten oder ihn ausrenften, bis er in allem dem vorgeschriebenen Normalmaß entsprach. Alfred Graf hat in einem Buch( Schülerjahre", Erlebnisse und Urteile namhafter Beit­genossen) zusammengestellt, was heute als lebenstüchtig anerkannte Menschen über ihre Schuljahre sagen und der Inhalt dieses Buches ist eine einzige, große, grelle Anklage gegen Schule und Schulmeister" alten Stils. Denn so war es nun einmal: Je reicher, je ursprünglicher sich die Persönlichkeit eines Kindes entfaltete, desto weniger wußte die Schule damit anzufangen.

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KaiserTi

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werben. Am Religionsunterricht haben seinerzeit alle teilgenommen, auch die Dissidentenkinder mußten ja einen staatlich anerkannten Religionsunterricht besuchen, und rabiate Eltern schickten manchmal

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brochene Charaktere: das war das, was die bürgerliche Gesellschaft

Wir bauen eine neue Welt!"

Nun, ganz so schlimm ist es wohl mun an den meisten Schulen nicht mehr, besonders ist der Hurrapatriotismus aus der Volks­schule im großen und ganzen ziemlich verschwunden. Es braucht tein Dissidentenfind mehr zwangsweise am Religionsunterricht teilzunehmen und an den weltlichen Schulen kommt man sehr gut ohne die Hypothese Gott " aus. Aber alle diese Schulen haben sich noch nicht grundsäßlich von allem Alten losgesagt: Noch existiert der alte Stundenplan", an dessen festliegende Einteilung auch die ge­bunden sind, deren Neigungen und deren Begabung dabei gar nicht

auf ihre Rechnung tommt, noch immer muß jedes Kind die gleiche Menge Lernstoff" in sich hereinsressen und einen oft nur toten Wissensballast aufstapeln. Etwas grundsätzlich Neues bieten da­gegen die Gemeinschaftsschulen", und uns, die wir in den alten, starren Schulgebilden großgeworden sind, erscheinen manche der dort durchgeführten Dinge noch heute als jo platte Unmöglichkeiten, daß uns so leicht tein theoretischer Aufsatz von der Möglichkeit überzeugen kann, auf diese Weise das allgemeine Bildungsziel" zu erreichen. Aber ein einziger Bormittag, an dem, man an diesem Unterricht teilnimmt, beweist hier mehr, als die besten Propaganda­auffätze.

ihre durchaus arischen Kinder in den jüdischen Religionsunterricht. I der Brofitrate nützlich sein können, Religion als Opium, und zer Schlimmer als dies alles aber war das, was die Schule an den Seelen der Kinder sündigte. Autorität hieß der Göhe, dem hier der Volksschule als Ziel setzte. fäglich geopfert wurde, und gehorchen lernen" war das Ziel der Schule. Wohlverstanden, es wurde nicht irgendwie versucht, einen freiwilligen Gehorsam, eine freie Einordnung in einen sozialen Dr­ganismus zu erreichen, sondern es gab nur ein du mußt" und ein das ist verboten". Was war nicht alles verboten! Verboten war, beim Melden" aufzuspringen, verboten war, in der Pause regel­los durcheinanderzulaufen", verboten waren bunte Buchzeichen, ver­boten... Da schrieben wir alle Jahre einen Aufsatz: Mein schönster Ferientag", und ein kleines Mädel lieferte eine lebendige Schilderung einer Herrenpartie, auf die sie ihr Bater mit­luftiger Angelbrüder, die allerlei gegenseitigen Schabernad aus­genommen hatte. Es war eine ganz ftubenreine" Herrenpartie übten, sich Heringe an die Angeln banden und Frösche in die Früh stüdspafete praktizierten und das ganz begabte Mädel hatte die Geschichte frisch und lustig, fast wie eine der Thomaschen Lausbuben­geschichten, geschrieben; die Lehrerin hatte sich auch herzlich über den Auffah amüsiert und hat ihn im Freundeskreis oft vorgelesen; offi­ziell aber kriegte die kleine Sünderin eine große Standpauke, und dann mußte sie einen neuen Aufsatz schreiben, einen Aufsatz über einen langweiligen Sonntag, an dem aber die Autorität der großen Leute" nicht gefährdet wurde, und mußte den zum schönsten Ferientag" umlügen. Wer aber gar, entweder auf Grund der häus­lichen Erziehung oder durch einen anderen Anstoß sich eine andere als die vorschriftsmäßige Gesinnung zugelegt hatte, der fam aus den Konflikten nicht heraus. Es gab Fälle, in denen die Wahl be­stimmter Gedichte zum Vortrag als Störungsversuch" mit Be­tragenstadeln geahndet wurde, und es gab Lehrer, die sich ein be= sonderes Vergnügen daraus machten, derartige Rebellen fleinzu­triegen", und wenn so ein bakelschwingender Halbgott einen Jungen erst mal auf dem Zug" hatte, dann hagelte es Maulschellen und Büffe, und es wurde mit allen Mitteln versucht, das Selbstgefühl des Kindes zu brechen, seine Entwicklung zur Persönlichkeit zu hemmen. So züchtete man aus schwachen Charakteren Duckmäufer und Feiglinge, die sich günstigstenfalls zum Normaluntertan mit dem Ideal deutsch , treu und pensionsberechtigt" entwickelten; die wenigen anderen aber wurden trozig und verbittert, fie standen meist allein; nur allerstärksten Naturen gelang es, ihrer Klasse ihren Stempel aufzuprägen, und so verfümmerten oft in den Besten und Kraftvollsten die sozialen Instinkte völlig. Für den Klaffen­staat aber, der nur Zwangsgefiffung, Zwangsgesinnung, Zwangs gefellung fennt, waren die Produkte der alten Schule gerade fo recht. Renntnisse nur so weit, als sie dem Kapital zur Erhöhung

Die Erziehung zum Untertan. Kennen wir sie nicht noch die Lesebücher unserer Schulen, die zu zwei Dritteln aus patriotischer" Lektüre bestanden? Vom großen Kurfürsten" bis zu unserem leztverflossenen Wilhelm dem Ausgerissenen wurden alle höchstpersönlich vorgeführt, und nur die vor dieser Periode regierenden Hohenzollern wurden nicht ganz so häufig serviert Aber was über die anderen alles erzählt wurde, vom großen Kürfürsten als Familienvater" bis zu Unserm Kaiser als Kronprinzen", das ging wahrhaftig auf keine Kuhhaut. Und dann die vielen patriotischen Kriegsgedichte! Auch in den Aufsatz-| themen tobte sich der gleiche Hurrapatriotismus wenigstens einmal Bom Geschichtsunterricht" selbst aber sei geschwiegen er bestand nur aus Kriegsdaten und Regierungszeiten, und es ist wohl den wenigften geglückt, sich auf der Schule menigstens ein ungefähres Wissen um die Entwicklung der deutschen Kultur zu er

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Gerichtstag.

Bon Fred Bérence.

Copyright 1925 by Paul Zsolnay , Wien '

Ich beobachtete ihn lange. Er saß mir gegenüber und starrte zu Boden, seine gesenkten Lider schienen aus Blei zu fein und verliehen dem Geficht einen Ausdruck von Leiden, der mir ins Herz schnitt. Ein fast unmerkliches Beben ließ manchmal seinen ganzen Körper wie unter einem elektrischen Schlag erzittern.

Als die Geschworenen eintraten, machte er eine Bewe­gung, wendete den Kopf, hob die Augen, sein Ausdruck ver­änderte sich, ich fonnte von seinem Gesicht eine bittere Re­fignation ablesen. Dann nahm er wieder seine frühere Stellung ein; nur ließ er die Hände entmutigt auf die Knie finfen. Ich weiß nicht, wieso mich diese Hände fesselten, mir feltfam erschienen. Sie zitterten unaufhörlich, waren mittel­groß, sehr mager und leicht behaart; während der Unter­fuchungshaft waren sie ganz blutlos geworden. Es schien mir, als könnte ich die Nerven sehen, die in diesen armen Händen zitterten. Meine Augen hafteten unverwandt auf ihnen, aber ich konnte doch ihre Sprache nicht verstehen. Das Reugenverhör begann. Frau Valcourt in tiefer Traner näherte sich der Barre; ich fonnte ihre Büge wegen des dichten Witwenschleiers, der ihr Gesicht verhüllte, nicht unterscheiden, fie ftüßte sich auf den Arm eines jungen Mannes, in dem ich André erriet.

Als der Angeklagte seine Mutter erblickte, hob er die Augen, sentte sie aber rasch wieder und starrte auf den Fuß­

boden.

Ich bemerkte, daß sich seine Hände zusammenkrampften, und da verstand ich in einer plöglichen Eingebung ihre Sprache: Sie brüllten vor Schmerz.

Mit langsamer, gebrochener Stimme wiederholte Frau Valcourt ihre ersten Aussagen. Sie war mit ihrem Manne in der Nacht in Streit über eine Geldangelegenheit geraten. Ihr Sohn hatte den Wortwechsel gehört, war in das Zimmer getreten und hatte seinen Bater zur Rede gestellt; fie fonnte fich nicht mehr genau an die Worte erinnern. Der Sohn hatte ihren Mann beschimpft und sich plötzlich mit der Schere in der Hand auf ihn gestürzt; was dann geschehen war, wußte sie nicht mehr.

Als sie ihre Aussage beendigt hatte, brach sie in krampf­haftes Schluchzen aus.

Ich beobachtete den Angeklagten, er biß sich die Lippen, feine halbgeschlossenen Lider verliehen ihm das Aussehen eines Gefolterten, und wieder verkrampften sich seine Hände. Ihr Todesschrei schnitt mir ins Herz und tat mir so weh, daß ich mich auf die Lippen biß, um nicht selbst aufzuschreien.

Jezt kam die Reihe an den Bruder des Angeklagten; er hatte nichts gesehen, nichts gehört; auf den Schrei seiner Mutter war er ins Zimmer geeilt, da war der Leichnam ge­legen. Auf alle Fragen, die man ihm stellte, antwortete er unverändert: Ich weiß nicht." Die früheren Protokolle wur­den verlesen und neue Zeugen hereingerufen.

Es waren vier Nachbarn, die zugunsten des Toten und gegen den Angeklagten aussagten, den sie als hochmütig und verschlossen schilderten, im Gegensatz zum Ermordeten, der die Hilfsbereitschaft in Person gewesen war.

Dann verhörte man die letzte Zeugin, nämlich die Eng­länderin. Sie wiederholte ihre früheren Angaben, die sich von denen der anderen Nachbarn vollständig unterschieden. Sie hatte mehrere Auftritte gehört, beschrieb sie genau so, wie sie der Angeklagte in den Aufzeichnungen erzählt hatte und die nur Dr. Serval, seine Frau und ich kannten. Die Engländerin ver­hehlte nicht, daß sie den Angeklagten zum Berlaffen des Bater­hauses zugeredet hatte und schloß ihre Aussage damit, daß fie immer Herrn Balcourt für einen Irrsinnigen oder einen gefährlichen Verbrecher gehalten hatte. Dieser Bericht aus dem Munde einer weißhaarigen Frau machte einen gewissen Eindruck auf die Geschworenen. Als die Zeugin zu ihrem Play zurückkehrte, ging fie am Angeklagten vorüber; er hob die Augen, in denen Tränen der Dankbarkeit glänzten, zu ihr auf. Sie verlangsamte ihre Schritte und grüßte den jungen Valcourt mit einer gütigen, anmutigen Bewegung. Er sentte den Kopf zum Reichen des Dantes und schloß die Augen, um die Tränen zurückzuhalten, die ihm die Lider verbrannten. Hierauf wurde der Angeklagte verhört; er antwortete mit tonloser Stimme, verkrampfte die Hände und meinte, daß er zu den früheren Aussagen nichts hinzuzufügen hätte.

Nun stand der Staatsanwalt auf und verlas die Anflage­schrift, die vernichtend für den Beschuldigten lautet. Er schloß mit der Bitte, ein Erempel zu statuieren und beantragte das I höchste Strafmaß: Lebenslänglichen Kerfer,

Da fizt, zu einer Klasse vereinigt, die ganze Oberstufe beiein­ander: 35 Mädel und Jungen im Alter von 10 bis 15 Jahren. Gerade ist der Tag, an dem die Klasse nach selbstgewählter Ord­nung für gewöhnlich neue. Aufsätze liefert und bespricht oder auch einzelne Schüler frei gewählte Gedichte zum Vortrag bringen. Auch die Aufsätze sind hier keine Pflichtarbeiten, und trotzdem ist das Kon­tingent der Schüler, die neue Aufsätze haben, sie vorlesen und zur Kritik stellen wollen, so groß, daß die Zeit eines Vormittags nicht im entferntesten hinreichen würde, um alle zu Wort kommen zu lassen. Ach, wir denken noch an die berühmten Themen der Nutzen des Wassers" oder ähnliche Alpträume unserer Kindheit und nun? Nun stehen da Mädel oder Jungen und lesen kleine Ge­schichten aus dem eigenen Leben, und die Sachen sind lebendige, plastisch anmutende Schilderungen aus dem eigenen Leben, Streit­Szenen von der Straße, fleine Episoden aus dem täglichen Leben.

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Dann kommt die Kritik zum Wort. Denn hier fährt nicht mehr. der Herr Lehrer" mit roter Tinte dazwischen, sondern in gegen­seifiger Kritik finden die Schüler selbst die Fehler ihrer Arbeilen,

Ich beobachtete unausgesetzt den Angeklagten; er hörte die Rede, die ihn beschmußte und ein Ungeheuer aus ihm machte, gleichgültig und refigniert an. gleichgültig und resigniert an. Ein paar Minuten herrschte Schweigen. Die Leute um mich herum flüsterten: ,, Er ist verloren."

Eie sauere Stimme meinte: ,, Geschieht ihm ganz recht." Eine andere bestätigte salbungsvoll: Du sollst nicht töten."

,, Aber man sieht doch, wieviel er durchgemacht hat." ,, Wieso denn? Schauen Sie ihn nur an, diesen eigen­sinnigen und verbohrten Ausdruck," fuhr die saure Stimme fort.

Jetzt ergriff Dr. Serval das Wort und das Flüstern ver­stummte. Der Rechtsanwalt begann mit langsamer, gemäßigter Stimme sein Plädoyer zu verlesen. Er sprach von der Jugend des Angeklagten, seinen Kämpfen, dann legte er sein Konzept hin, seine Stimme wurde überzeugend, vibrierte vor Erregung, sie fand Töne unerwarteter Wärme und durchdrang den großen Saal, in dem plötzlich tiefftes Schweigen herrschte. Punkt für Punkt erörterte er die Argumente des Staatsan­waltes, widerlegte und zerstörte sie. Aller Blicke hingen an ihm, er hatte das Auditorium gepackt. Das entging ihm nicht, denn er war ein Mann, der die Massen fannte. Nach­dem er die Grundbedingungen der Anklage zerpflückt hatte, plädierte er für mildernde Umstände; zum Schluß verlangte er kurz un bündig den Freispruch. Seine Rede war zu Ende, er trocknete sich die Stirn, auf der große Schweißtropfen stan­den, der Widerhall seiner flangvollen Stimme tönte nach. Zu­erst herrschte vollständiges Schweigen, dann hörte man plöglich Beifall im Auditorium.

In diesem Augenblick überflog den Angeklagten ein Zittern, das lange andauerte, er öffnete ganz weit die Augen und fah betroffen auf das Publikum. Der Ausdruck feines Ge­fichtes tat mir meh. Seine armen Hände begannen stärker zu zittern. Er wendete sich an den Verteidiger und warf ihm einen flehenden Blick zu. Dr. Serval trat an seine Seite und fagte ganz laut: Mut."

Da stand der Angeklagte auf und verließ, von den beiden Justizsoldaten begleitet, den Saal. Die Geschworenen zogen sich zur Beratung zurück. ( Schluß folgt.)