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Sonntag

20. März 1927

Unterhaltung und Wissen

Papa Kollers Rückstand.

Bon Eugen Molnar.

( Uebersehung aus dem Ungarischen von

Marus Mezei.)

Wohlgelaunt betrat der Gefängnisbeamte die Kanzlei. Die frische Morgenluft hat seine Wangen gerötet, als er den weiten Hof durchschreiten mußte, von wo aus eine furze Treppe in die in Keller­räumlichkeiten untergebrachte Schreibstube führte. Er rieb sich die Hände und nickte den Schreibern im Sträflingsgewande freundlich zu. Diese hatten sich der Reihe nach von ihren Sigen erhoben: die grünlichen Flammen der doppelarm: gen Gaslampe, die an einer weißgetünchten Stange herabhing, verliehen den abgehärmten, fah­len Gefichtern einen unheimlichen Glanz. Es war das sogenannte beffere", das intelligentere Element, das hier an den schier endlosen Kolonnen und Rubriken arbeitete. Die hagere Gestalt mit dem herabhängenden Schnurrbart, ein entgleister Advokat, gilt als die Zierde des Schreibheeres. Neben ihm ein rundliches Männchen mit beginnender Glaze, aber noch hinreichender Muskelreserve, die er fich in der Außenwelt aufzuspeichern gewußt hat; er ist Heereslie. ferant, der nun eine lange, schwere Kerterhaft abbüßen foll. Der Vogeltopf hier mit den blinzelnden Augen war in seinen besseren Tagen Hilfsnotar; öffentliche Gelder waren in seinen Händen fleben geblieben. Und dort in der Ede tauert demutsvoll, die Nase in den altmodischen Kneifer gezwängt, Papa Koller. An ihn richtet ber Beamte zuerst das Wort:

Also heute soll die Entscheidung fallen. Bertrauen Sie in die Gerechtigkeit, Kollerchen?"

Der Oberste Gerichtshof ist weise," lautet die faum vernehm­bare Antwort der gebeugten Gestalt, in ihn jege ich alle Hoffnung." Die Schreiber fitzen wieder; nur der Er- Advokat tritt an den Beamten heran, legt ihm verschiedene Artenstücke vor und macht sich mit devoten Bücklingen um ihn herum zu schaffen. Dabei läßt er fich die Gelegenheit nicht entgehen, ihm ins Ohr zu flüstern:

Ich werde die Wiederaufnahme des Prozesses betreiben.... jawohl.... das ist mein endgültiger Entschluß. Meine Unschuld muß an den Tag."

Der Beamte zuckte gleichgültig die Achsel, wie der Ladeninhaber, menn er zum hundertsten Male befragt wird, warum alles fo teuer sei. Hörte doch unser biederer Gefängnisbeamte sein ganzes Leben lang nichts als fortwährende Unschuldsbeteuerungen. Das große gelbe Haus barg überhaupt nur" Unschuldige" in seinen Mauern. In jungen Jahren, da fonnten diese vertraulichen Bekenntnisse noch fein Herz bewegen. Damals brachte er in seinem Gerechtigkeits gefühl diesen seelischen Ergüffen der Strafhausinfaffen eine Achtung entgegen, wie sie etwa das Sakrament der Beichte einflößt. Er. empfand diese Offenbarungen wie eine Anflage gegen eine selbst. füchtige Gesellschaftsordnung, und er selbst, ein freier Mann, fühlte sich als solcher schuldbewußt. Ein gewisser Ehrgeiz spornte ihn an, feinen Forscherblick in die tiefen Gründe ungeklärter Geheimnisse zu lenken, die ungerecht Erniedrigten wollte er wieder aufrichten. Doch mit den Jahren begann der edle Eifer allmählich zu erlahmen, Es brach sich die Erkenntnis Bahn, daß die Lüge jener Strohhalm ist, an dem der mit dem Untergang Kämpfende fich verzweifelnd flammert, denn als lezte Zuflucht bleibt ihm das Betäubungsmittel der Phantasie, die ihm Trugbilder vorgaufelt, mit denen er auch andere täuschen zu fönnen glaubt,

Illustrierte Zeugenaussage.

Es waren ganz gewöhnliche Zivilarbeiter.

allerdings haffen wir ihnen Uniformen gegeben...

Bellage des Vorwärts

und da fie doch Waffen reinigten, mußten fie mit dem Gewehr umgehen können

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und damit sie dabei feinen Schaden nahmen, trlegten fie einen Stahlhelm verpaßt...

und einfachheitshalber den Reff der feldmarschmäßigen Ausrüftung.

und um zu zeigen, daß fie militärisch nichts leiffelen, übten fie Sturmangriff...

aber Soldaten waren das ganz gewiß nicht!"

werden wir alles wissen. Bis dahin bleibe ich da. Ich weiche nicht und Verzweiflung gehauft haben? Nein, Papa Koller wußte von von deiner Seite."

Sie warf dem Beamten einen flehenden Blick zu. Man könnte Sie aber inzwischen in der Wohnung mit der Depesche aufsuchen," wandte der Beamte ein.

Rein, bitte," antwortete die gebeugte Gattin, ich ließ fie dirett hierher abreffieren. Sie werden boch nicht böse sein."

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Bapa Koller mußte zurück zur Arbeit. Die Gattin wurde in das Borzimmer des Direktors geleitet. Jetzt, wo sie sich unbeob achtet wußte, brach erst der zurückgehaltene Tränenstrom hervor. Sie dachte daran, was ihr das Leben weiter zu bedeuten habe, wenn ewige Schande den bisher geachteten Namen verdunkeln sollte. Wie Dolchstiche durchschnitt es ihr das Herz, wenn sie an das fünftige Los threr Kinder dachte. Was soll aus ihnen werden? Und plöß lich erschien ihr im Geiste das Elternhaus. Ihr Bater, wie er feine Bauernden Blides verfolgte die traurige Schreiberschar das Ge. Bedenken äußerte. Leute mit figer Besoldung, wie Koller, können haben des für seine Sache plädierenden Rechtsanwaltes. Nur Papa leicht strauchein. Schätze sind seiner Obhut anvertraut Die Ber­Roller ließ sich in seiner Arbeit nicht stören und wenn sich sein Gesuchung ist groß, besonders, wenn die Gattin Kleider braucht oder ficht verzog, so war das wegen eines Rechenfehlers, dem er auf die das Kind erkrankt ist. Aber sie verlangte niemals mehr, als unbe= Spur zu kommen hatte. Er hatte den Zwicker aufgesetzt und schien bingt rotwendig war. Sie fonnten so schön haushalten mit den über etwas nachzusinnen, während aus der Ferne ein dumpfes Ge- wenigen Groschen, die einem Bahnbeamten so ungefähr der räusch, wie etwa das Raffeln eines Bauernwagens, an sein Ohr neunten Rangklaffe gebührten. Roller war fein Spieler; den drang. Zehn Monate find es her, daß er, wenn auch seine Unge Trunt verschnähte er. Bor ihr hätte er die Bestechung wohl nicht duld meisternd, den berauschenden Augenblick der wiedererlangten verheimlicht. Sie hätte von den 5000 Schilling, die er für die ge­Freiheit herbei sehnte, und noch niemals in diesen zehn Monaten hat fälschten Frachtbriefe erhalten haben foll, unbedingt wissen müssen. er in so schrillen Tönen den lockenden Ruf des Lebens vernommen, Wie oft hatte sie das Haus durchstöbert, nirgends war eine Spur wie jezt. Er horchte. Näher und näher schien das kitarrende und des versteckten Geldes zu finden. Ihr Gatte wurde nicht müde, vor rasselnde Geräusch zu kommen. Schon fonnte man ganz deutlich seinen Richtern zu beteuern, daß niemals ein falsches Dokument Mauern und Pferdegetrampel und Peitschentnall unterscheiden. durch seine Hände gegangen sei. Oh, sie fannte Koller. Der Mann Fenster zitterten, und es war, als würde eine Stimme sich ver­war einer Lüge nicht fähig, und mochte er sich auch nach Wohlstand nehmen laffen: sehnen, so hatte das doch nie schlechte Gedanken in ihm erweckt. In ben zwanzig Jahren ihrer Ehe sollte sie ihn doch gründlich kennen gelernt haben. Nur von einem Fehler wußte sie, den er in jungen Jahren begangen. Der Direktor einer großen Mühle hatte ihm den Antrag gestellt, den Staatsdienst zu quiltieren und seinem Unter­nehmen beizutreten; er brauchte einen arbeitsamen, gewissenhaften Menschen. Koller aber schlug dieses Anerbieten aus. Das Staats­brot wäre sicherer, wenn auch farger, meinte er damals. Die Mühle tönnte ein Raub der Flammen werden, der Staat aber wäre ein immer zahlungsfähiger Arbeitgeber... So ließ sie denn all die vielen Erinnerungen Revue paffieren; eine Reminifzenz verdrängte die andere; es war doch manches schön gewefen in diesem grauen Beamtenfamilienleben, das die Liebe zum Jbyll verklärt hatte. Bor ihrem geistigen Auge tauchten die Kinder auf, als sie noch ganz winzig waren. Im Geiste durchdachte sie nochmals die Zukunfts­pläne, die sie mit ihnen vor hatte: die ältere wird Beamtin, die jüngste soll das Apothekergewerbe erlernen, der Sohn aber in Papas Reich, bei der Eisenbahn, Karriere machen.

Hier draußen pulsiert das freie Leben, hier draußen harren euer Weib und Kind, Arbeit und neue Pflichten. Menschen, erfaßt ihr den Sinn dieser Worte? Erschauert nicht eure Seele bei dem Gedanken an all das, womit ihr euch einst wohlfeile Genüsse erfauft habt? Wißt ihr nun das Kayengold der Sünde richtig einzu schäzen? Wahrhaftig, es ist teinen Pfifferling wert."

Der Wagen hält vor den Fenstern. Die verschwommenen Um­riffe einer schwarzgekleideten Frauengestalt werden sichtbar. Müh fam arbeitet sie sich aus dem Bauernwagen heraus. Der Pföriner erkennt sie Es ist Bapa Kollers Gemahlin: zu Fuß hat sie die Stadt verlaffen und unterwegs ein Bauerngefährt angehalten, um, in ihre Schleier und Tücher gehüllt, sich neugierigen Blicken ent­ziehend, den Kalvarienmeg zurüdzulegen.

Die Erlaubnisformalitäten waren rasch erledigt. Auf dem düsteren Korridor, der von der Kanzlei nach dem Hauptgebäude, der Massenbehausung der Sträffinge, führt, trafen das Männlein mit dem 3wider und die Dame in Schwarz zusammen; natürlich war auch der Gefängnisbeamte zugegen. Bor Mübigkeit erschöpft, fiel die Frau dem unglücklichen Gatten um den Hals. Die Augen hinter dem Zwicker wurden feucht. Sanft ließ er die liebkosende Hand über die Lebensgefährtin gleiten, und alles, was von seinen Lippen fam, war eine Frage nach den Kindern. Frau Koller beachtete die Frage nicht. Wichtigeres hatte sie hierhergeführt, und sie wunderte fich, daß der Gatte sie nicht mit den Worten empfing: Run, wie hat das Oberste Gericht entschieden?" Daß Koller nicht diese Frage gestellt? Er stand eben noch ganz im Banne feiner Rechenaufgabe, der endlosen Ziffern der Strafhausverwaltung, in die er sich mit der ganzen Hingabe des gewissenhaften Bureaumenschen vertieft hatte, so daß er gar nicht Belt fand, an die belanglofe Bagatelle seiner Privatangelegenheiten zu denken.

Das Oberste Gericht..." stammelte die Gattin. Jetzt erst begann Roller sich zu befinnen. Auf seinem etwas runzeligen, aber glattrasierten Geficht malten sich die Züge quä lendster Neugierbe. Starr bohrte sich sein Blick in das Antlig der Frau, die in dieser letzten Stunde feimender Hoffnung und brücken­der Angst gekommen war, damit sie sich gegenseitig ftüßten.

Unfer Rechtsfreund verfprad), fofort nach Berkündung des Urteils eine dringende Depesche abzuschicken," brachte Frau Roller mühsam hervor, zwifchen unterdrüdtem Schluchzen und trampf­haftem Zuden der Lippen. Spätestens um drei Uhr nachmittags

Nur langsam rückt der Minutenzeiger por.

Drei Uhr nachmittag. Der Beamte legt der von Unruhe be­fallenen Gattin nabe, daß es am besten wäre, wenn sie schön nach Hause ginge. Sollte die Depesche fpäter eintreffen, so würde er fie schon übernehmen und den Gatten vom Inhalt verständigen. Es war faft 4 1hr, als Frau Roller, maiten Blides, zitternd das düftere Haus verließ.

In später Abendstunde wurde ungestüm an der Hausglocke gerüttelt. Das Telegramm? Nein, der Herr Rechtsanwalt war es selbst, der aus der Hauptstadt fam, ihr die Freudenbotschaft zu überbringen..

Triumph," rief er schon im Vorzimmer der ihm entgegenellen den Frau Koller zu. Freispruch. Bouständige Rehabilitierung. Gnädige Frau, ich bin glücklich, Sie beglückwünschen zu können." Die Frau griff sich ans Herz. Sie wurde von Weinframpf be fallen. Dann brach fie aber in ein trampfhaftes Bachen aus und stürzte zu den Kindern.

alledem nichts. Er schlief feinen ruhigen, regelmäßigen, traum tojen Schlaf. Wooon hätte er auch träumen sollen? Morgen ist wieder ein Tag, ein Tag der Arbeit, wie gestern.

Frühmorgens hielt ein Mietwagen vor den Gefängnispforten, Frau Roller entstieg ihm, ihr Schritt war elastisch, ein Lächeln spielte um ihre Lippen. Sie hatte den besten Hut aufgesetzt, den sie bloß bei besonderen Gelegenheiten zu tragen pflegte; den Schleier hatte sie nicht angelegt. Triumphierend schwang sie das Morgen­blatt. Der Gefängnisbeamte eilte ihr entgegen."

2ir wissen schon," fagte er glückstrahlend. Bapa Koller erhob sich aus seinem Winkel, eilte auf die Gattin zu, drückte fie stumm an feine Brust. Dann aber gewann in ihm der Pflichtmensch die Oberhand.

,, Nimm es mir nicht übel, bitte," entschuldigte er sich stam­meind, es sind noch viele Rückstände aufzuarbeiten. Punkt zwölf Uhr bin ich zu Hause."

Berblüffung malte sich in den Zügen des Beamten. Er sprach tein Wort, so tief hatte es ihn ergriffen. Er fühlte sich zurück­versetzt in die jungen Jahre, da er den Unschulbsbeteuerungen noch zugänglich war, an das Gute im Menschen noch glauben konnte. Die Gattin blickte verständnislos bald Roller und bald den Be­amten an und dachte, daß es wohl so recht sein müsse; Koller wüßte fchon, was er tut. Sie nahmen freudig Abschied.

Das Kollersche Haus war in den Nachmittagsstunden ein Wall­fahrtsort der zahlreichen Freunde und Verwandten. Laut ging es wieder dort zu, wo zehn Monate lang sich selbst der Bettler nicht blicken ließ. Auch Kollers Vorgesetzter war erschienen.

Ich bin wirklich glücklich," sagte er, ich habe audy feiner Augenblick an dem Siege der Gerechtigkeit gezweifelt. Also morgen nehmen Sie wieder Ihren alten Platz ein."

Koller richtete sich seinen Zwicker zurecht. Jawohl, Herr Chef, mur möchte ich um etwas Nachsicht bitten; etwa für die Dauer einer Woche.

Ach, das versteht sich ja von selbst. Die seelische Erschütterung, die Leiden..."

denn," fuhr Koller ruhigen Tones fort, von 7 bis 9 Uhr morgens möchte ich die Rückstände aufarbeiten, die auf meinem letztent Posten noch der Erledigung harren. Herr Chef werden begreifen. Der Gefängnisbeamte meint, ich allein wäre imstande, diese Arbeit zu verrichten. Und mein Gewissen fände teine Ruhe, bevor ich das nicht in Ordnung gebracht habe. Herr Chef belieben mich zu verstehen?"

Die Sonne wagte sich aus den Wolfen nicht hervor, als fürchtete fie, in ein Gelächter auszubrechen. Der Blick des Chefs weilte lange auf dem Antlig Kollers. Und als er dieses puritanische Saus verließ, machte er eine tiefe Berbeugung.

Spanische Straße.

Von Armin T. Wegner .

Sevilla , im März.

Straßensinfonie.

Um 5 Uhr morgens unter einem flammend gelben Himmel medt mich das Geschrei einer feifenden Frau. Es ist die Stimme eines Papageien, der böse und zäntisch in die erwachende Gasse schimpft.. ( Natürlich spricht er spanisch.) Jetzt beginnt eine Stage zu miauen, ein Efel schreit melancholisch, als beweinte er den Untergang der Belt. So hebt bis tief in die Nacht mit tausendfachen Geräuschen der Mund der Gasse zu fingen an, dessen Lieb in allen Städten Andalusiens das gleiche ist. Ein Scherenschleifer verkündet mit hellem Pfeifentriller sein Mahen, zwei bettelnde Mufitanten zupfen bie Mandoline. ,, Canayas y bocas! Agual. Agua fresca! Bapa ift frei!" rief fie. Es gibt eine göttliche Gerechtigkeit." Que buenos melones como almibar!"( Seemuscheln! Waffer! In stiller Andacht waren die Kinder auf die knie gesunken; über Frisches Wasser! Gute Melonen, füß wie Sonig!) ertönen die Rufe der Straßenverfäufer. Unter der Tür meines Hauses füßt eine die Wangen des größeren Mäbchens rannen einige heiße Tränen. Mutter ihr Kind nach audalufifcher Art so lange und beftig, daß es Und Bapa Koller? Im Fieberschauer der Unruhe wälzle er wie das Zwitschern von Bögeln flingt. Eine männliche Stimme fich auf seinem harten Bager. Bußte er, daß Friede und Glüd beginnt fich laut und ausgiebig zu räufpern; dieser Ton in dem feligkeit eingefehrt waren dort, wo zehn Monate hindurch Gorge| Konzert der andalusischen Straßenfinfonie darf nicht fehlen. Es gibt