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F870206

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Nr. 13744. Jahrgang

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Dienstag

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Ausgabe B Nr. 68

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find in der Morgenausgabe angegeben

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Tel.- Adresse: Sozialdemokrat Berlin

Berliner Volksblatt

22. März 1927

Berlag und Angetgenabteilung: Gefchäftszett 8% bis 5 Uhr Berleger: Borwärts- Berlag GmbH. Beelin SW. 68, Fernsprecher: Dönhoff 292-297

Zentralorgan der Sozialdemokratifchen Partei Deutschlands

Die Chinesen in der Fremdenstadt.

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Truppen beider Richtungen dringen in Schanghai ein.- Die Engländer schießen. Straßenkämpfe im Gange.

Shanghai , 22. März.( Reuter.) Nordtruppen, der Mannschaft zu entkommen unter Zurüdlaffung des deren Zahl auf mehrere Hundert geschätzt wird, haben die Panzerwagens, den Polizei und Militär wieder in Besitz zu Drahtverhaue des nördlichen Teils der internationalen Nieder- bekommen fich bemühen. laffung durchbrochen und find durch Seitengaffen, die nur schwach von den britischen Streitkräften besetzt waren, ein­gedrungen.

Straßenkämpfe im Gange.

London , 22. März.( WTB.) Evening Standard" berichtet aus Schanghai , daß nach einer die ganze Nacht an­dauernden Schredensherrschaft in der Eingeborenen­ftadt, während deren zahlreiche chinesische Soldaten und Ziviliften getötet und verwundet wurden, die Lage heute rasch einer& risis zutreibt.

Die kantonesen und die Nordfruppen ver­fuchten mehrmals in die internationalen Nie­derlassungen einzudringen, und die brifi­schen Streitkräfte, die die befestigten Ausgänge der Sonzession verteidigten, waren gezwungen zu feuern.

Die Verluste der Ausländer betragen, soweit bisher be­fannt ist, drei Engländer getötet, vierzehn verwundet, ein Japaner und ein Portugiese verwundet.

Santonesische Truppen umzingelten einen britischen Panzerwagen und verwundeten die Mannschaft; es gelang

Die Konfliktsgefahr in Schanghai . Die amerikanischen Truppen in das Fremdenviertel zurückgezogen.

London , 22. März.( Eigener Drahtbericht.) Am Montag nach mittag sind in Schanghai neue amerikanische Truppen gelandet worden. Die Truppen marschierten in Eilmärschen durch die internationale Niederlassung und verschanzten sich dann leichten Feldstellungen. Erst nach einem Proteft des internationalen zum Teil in der Chinesenstadt, zum Teil im freiem Gelände in Konsularforps in Schanghai an die amerikanische Regierung wurden die Truppen zurüdgezogen, und zwar mit der Order, die von den internationalen Behörden gegenüber der Chinesenstadt gezogene Demarfationslinie nicht zu überschreiten.

Im übrigen haben die Kämpfe in der Eingeborenenstadt zwischen Truppen und bewaffneten Zivilisten, die bereits an ein zelnen Stellen der Stadt am Montag nachmittag begannen, fich bungen ist anzunehmen, daß die Südarmee völlig Herr nicht weiter ausgedehnt. Auf Grund der hier vorliegenden Mel der Lage ist. Die an verschiedenen Punkten von Schanghai aus gebrochenen Brände sind ebenfalls gelöscht. Auffallende Ruhe herrscht geradezu in den Ausländervierteln.

Stresemann spricht im Reichstag.

Keine akute Kriegsgefahr.

Im Reichstag begann heute, 1 Uhr nachmittags, die Be ratung des Etats des Auswärtigen Amtes. Haus und Tribünen waren starf besetzt. In der Diplomatenloge fah man u. a. den amerikanischen Botschafter Shurman.

Gleich nach Beginn der Sizung nahm der

Außenminister Dr. Streseman..

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das Wort, um seinen Etat zu begründen. Er beschäftigte sich zu nächst mit Einzelheiten und wandte sich sehr lebhaft gegen Berliner Durchbruchspläne, bei denen das Haus des Auswärtigen Amtes in Mitleidenschaft gezogen werden fönnte. Dann spricht er von der Notwendigkeit, die Auslandsvertretungen auch außerhalb Europas wieder wie vor dem Kriege auszubauen. Heute sei nur die Hälfte deffen, mas mir vor dem Kriege hatten, vorhanden. Auch müsse jetzt die diplomatische Karriere auch vermögenslosen Persönlich keiten eröffnet werden. Das alles foste Geld. Zahle man zu schlechte Gehälter, so wanderten die besten Kräfte in die Privatwirtschaft ab. Dann erft ging Stresemann zur auswärtigen Lage über. Er fündigte an, daß er drei Komplege besprechen wolle: die Vorgänge im fernen Osten, das Verhältnis zwischen Rußland und England und das zwischen Italien und ( Jugoslawien .

weit entfernt.

Welt erfahren.

An der Hand offizieller Rundgebungen der Deutsch nationalen Bartei mies unserer Rebner nach, daß sich die deutsch : pflichtungen auf den Boden der Bestschen Forde rungen gestellt und die sofortige Berzinsung und Teilaus­zahlung der öffentlichen Anleihen in Gold versprochen hat. Noch im letzten Herbst, unmittelbar vor ihrem Eintritt in die Regierung, hatte sie ihren Initiatingefeßentwurf im Reichstag ein gebracht, ber den Rentnern einen Rechtsanspruch auf Ber forgung durch das Reich zuspricht, was nach bescheidenen Schäßungen des Arbeitsministeriums jährlich 400 millionen erforderte.

nationalen Wahlfandidaten durch unterschriftliche Ber

Jetzt aber biefen sie denselben Rentnern 25 millionen Mart. unserer Redner wandte sich schließlich auch gegen die Ab­lehnung des Bolksbegehrens des Sparerbundes durch das Kabinett Marg, Curtius, Rülz im August v. 3. Die Rechtsauf fassung, mit der diese Ablehnung begründet worden sei, führe im Endeffekt zur Unterbindung jeden Boltsbegehrens. Bon der württembergischen Regierung, die im Reichsrat einen Berbefferungsantrag zugunsten der Gläubiger eingebracht hat, er wartete der Abg. Steil, daß sie nun auch mit allem Ernst diesen Antrag dem Reichstag gegenüber vertrete und sich nicht auf eine leere Geste beschränke.

Was das letztere betreffe, fei von den alarmierenden Mitteilun­gen der Preffe viel abzuschreiben. Er glaube nicht an eine afute Gefahr und gründet seinen Optimismus besonders auf die Mit­teilungen, die die italienische Regierung in Berlin gemacht habe. Der Gießener Fememordprozeß. Der Wille, Europa den Frieden zu erhalten, fei liberaus start und ein Friedensbruch roürde Berurteilung durch die ganze Unter der Anklage des versuchten Mordes. Gießen , 22. März.( WTB.) Unter starkem Andrang des Dennoch sei die Lage von einer endgültigen Konsolidierung noch sehr Bublifums begann heute vormittag vor dem hiesigen Schwurgericht der Fememordprozeß gegen den 30jährigen Chauffeur Ernst Cafimir Schwing, den 25 Jahre alten früheren Leutnant v. Salomon und den 28jährigen früheren Oberleutnant und ehemaligen Rebal­teur des Stahlhelms Friedrich Wilhelm Heinz . Alle drei stammen aus Frankfurt a. M. Zu dem Prozeß find über 80 Zeugen geladen. Die Anflage lautet gegen Schwing und v. Salomon auf Mordversuch, gegen Heinz auf Beihilfe. Nach Feststellung der Berjonalien verlieft der Borsigende den Eröffnungsbefchluß. Danach haben Salomon und Schwing in der Nacht zum 5. Mai 1922 in Bad Nauheim den Ober leutnant a. D. Bagner töten wollen, wobei Heinz Beihilfe geleistet haben soll Zuerst wird v. Salomon ver nommen. Salomon war nach dem Kriege an den Kämpfen gegen die Kommunisten beteiligt, war in Balfifum, machte später den Kapp Butfch mit und mußte wegen seiner Beteiligung daran feinen Abschied nehmen. Damals war er noch nicht 18 Jahre alt. 1921 ging er nach Oberschlesien und fehrte dann wieder nach Frankfurt zurüd, wo er Tillesfen und Kern tennenlernte. Mit Kern schloß er nähere Freundschaft.

Die Deutschnationalen in der Klemme. Schluß der Generaldebatte über die Aufwertung. Am Dienstag vormittag führte der Rechtsausschus des Reichstags die allgemeine Debatte über die Aufwer: tungsfragen zu Ende. Nach der fachlichen Seite trat in der Haltung der Regierungsparteien, die bekanntlich dahin geht, daß fie grundsätzlich am geltenden Aufwertungsrecht nicht rütteln wollen, teine Aenbetung ein. Barteipolitisch war aber von besonderen Interesse das Bemühen sowohl der Redner der Deutschen Boltspartei, als auch der Deutsch

nationalen,

alle Schuld an der Erregung der Sparer und Gläubiger von fich abzuwälzen.

Der Boltsparteiler Wunderlich sprach mieder einmal von der Hetze, die in den Sparerkreisen betrieben würde und der deutsch­nationale Dr. Rademacher fuchte zu beweisen, daß seine Bartei nicht mehr versprochen habe, als was erfüllt fet.

Diesen Darstellungen gegenüber verwies Abg. Keil( Soz.) auf die verantwortungslose Agitation, die vor den letzten Bahlen von den Deutschnationalen betrieben und bis in die letzten Tage vor ihrem zweiten Eintritt in die Regierung fortgefeßt wurde,

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Faschistischer Kriegsstraßenbau. Der Berichterstatter der Daily Herald" in Lugano drahtet, daß die faschistische Re­aierung einen Bertrag geschlossen hat mit dem Mailänder Ingenieur Puricelli über den Bau strategischer Straßen an der Alpen grenze. Er fügt hinzu, daß die italienische Regierung einen Auftrag an das Haus Georg Fisher in Schaffhausen gegeben hat für eine große Anzahl von Daschinengewehren, Tants und leichter Artillerie.

Cindenstraße 3

Im innersten Indien .

Bon Franz Josef Furtwängler . Nagpur , Anfang März. Nagpur , die Industrie- und Universitätsstadt der Zentral­provinzen, zählt etma 140 000 Einwohner. Die hiesige Uni­dieser Art, der eine fonfequente Weiterentwicklung des eng­versität zeigt den reinen indischen Typus der Lehranstalten lischen Systems ist. Eine Anzahl von ,, Colleges" mit Hör­fälen, Internaten und Lehrerstab bilden zusammen die Uni­versität, wie in Orford und Cambridge , und wie dort ist die Universität selber lediglich Verwaltungsbureau, Aufnahme­und Prüfungsanstalt. Während aber die altenglischen Col­leges alle Hochschulwissenschaften lehren, ist man in Indien zu einer Spezialisierung übergegangen in der Weise, daß ganz bestimmte Gegenstände in je einem College studiert werden. Und diese Spezialanstalten, die zusammen die Universität bilden, sind meist auch räumlich weit voneinander getrennt und nur organisatorisch verbunden, was in England wieder­um nicht der Fall ist.

Europäer , die ständig anfäffig sind, hat Nagpur weniger als irgend eine andere indische Stadt, die wir bisher sehen. Es sind dies in der Hauptsache etliche Regierungsbeamte, fo= wie einige Angestellte der verschiedenen Baumwollspinnereien. Diese selbst befinden sich übrigens völlig in indischen Händen. Der größte hiesige Betrieb dieser Art sind die ,, Empreß Mills", die zu den Unternehmungen des weltberühmten indischen Tata­fonzerns gehören. Welch' ein augenfälliger Kontrast, die tiefsten Indien zu sehen und daneben die unbeschreiblich neuesten und vollendetsten Maschinen aus Lancashire hier im primitiven Hütten der mill hands", der Textilarbeiter!

In deren Quartieren herrscht zurzeit die Peft. Auch diese Geißel Indiens follten wir auf unserer Reife noch tennen lernen. Man begreift die Häufigket ihres Erscheinens erst, wenn man solche Behausungen ficht. Nackte, über und über mit Staub bedeckte Kinder spielen zwischen trepierten Ziegen und Kazen; dazwischen schleichen räudige Hunde, die Augen mit Eiter perklebt, der Pelz zerfressen, so daß überall die wunde und fchorfbedeckte Haut in großen Flächen sichtbar ist. Die schlimmsten Fälle" hat man in Konzentrationslager ab­gesondert, die aus schilfgeflochtenen Hütten bestehen. Das diesem Lande aufgeflebte Stüd Europäerzivilisation besteht departements und Militärftationen, aber nirgends reicht der aus Selfaktorspindeln und mechanischen Webstühlen, Kriminal­Segen dieser Zivilisation" soweit, den Opfern der Volks­Stadt spielt ein Kinotheater allabendlich Dramen aus der feuchen eine wesentliche Hilfe zu bringen. Drinnen in der Londoner Gesellschaft und in den Straßen machen maskierte Damit aber haben die Wohltaten westlichen Fortschritts fo Kinder Reklame für Wrigleys amerikanischen Kaugummi. ziemlich ihre Grenze erreicht. ziemlich ihre Grenze erreicht.

rasseln, Hunderttausende von Spindeln schwirren und draußen Und derweil in der Stadt Tausende von Webstühlen am Rande die Pest sich ihre Opfer unter Hütten- und Höhlen­bewohnern aussucht, tommen von fernher aus England und Amerita zahlungsfähige Gäste, um auf Elefantenrücken den Tiger zu jagen. Denn Nagpur und feine Umgebung beher­bergen nicht nur Universitäten, Textilfabriken, sondern auch Tiger und Panther in so unmittelbarer Nähe, daß eine dieser Beftien gelegentlich den Tertilarbeiterdörfern einen Besuch abstattet, mie es erst in einer der jüngstvergangenen Nächte wieder geschah. Die Jagd auf den Tiger, fagten uns begeisterte Freunde dieses Sport, die wir hier trafen, fei gefährlich und nervenfibelnd, denn das verwundete Tier stürme zuweilen selbst am Rüssel des Elefanten zur Sänfte empor.

Noch eine andere Art der Jagd steht hier zurzeit in Blüte. Sie ist meniger gefährlich für den Ausübenden, dafür aber gerade heute von einer politischen Bedeutung, welche der Ber­folgung des grimmigen Dschungeltönigs feineswegs zukommt. Sie datiert von dem Zeitpunkt der erfolgreichen hindu­mohammedanischen Einigungsversuche Gandhis . Zwar hat die britische Regierung diesen Bersuchen seitdem Hindernisse und Reibflächen genug bereitet, indem sie die alte Methode abwechselnder Begünstigung der einen und der anderen Partei, mit neuen Mitteln fortsetzt und so die Gegensäge zu verschärfen und zu verewigen sucht. Allein gleichzeitig wächst die Kopf­zahl und der Einigungswille der intellektuellen Jugend und des gewerkschaftlichen Proletariats, die sich darin begegnen, daß fie in der Berfolgung ihrer Freiheitsziele weber Raise noch Religion fennen, wie immer strenggläubig auch die Führer und Mitglieder dieser Bewegung in ihrem persönlichen Leben sein mögen. Es gibt nichts Erhebenderes, Hoffnungs­volleres in diesem Lande als die Zusammenfünfte und das Zusammenwirken des jungen Fortschrittselements aus beiden Religionen, besonders in Studenten- und Arbeiterzirkeln. In der Einsicht der Unzulänglichkeit ihres bisherigen Berfahrens des Teilens und Herrschens sah die Regierung sich veranlaßt, rechtzeitig nach neuen Behelfen Umschau zu halten. So allein erklärt sich die Tatsache, daß fie feit wenigen Jahren in einem nie erlebten Ausmaß die Jagd auf die unsterblichen Seelen der Eingeborenen durch die chriftliche Mission fördert und inspiriert. Ich beeile mich, zu betonen, daß die Missionare felbft, fomeit ich fie tenne, katholische sowohl wie protestantische, mit durchaus ehrlicher Abficht und ohne politische Hinter­gedanken an ihr Werf gehen; will auch nicht die Frage dis­futieren, ob es zweckmäßig fei, einem Volfe das chriftliche Bekenntnis in dieser oder jener Form zu empfehlen, das selbst der Menschheit die Werte einer alten, tiefen philosophisch­