Nr. 19244.Jahrgang
1. Beilage des Vorwärts
Sonntag, 24. April 1927
Bo
Das Thema Wochenende ist durch die große Wochenendschau des Messeamtes zu einem der aktuellsten in Berlin geworden. Das Weekend bes Engländers wurde dabei oft zum Vorbild genommen
nicht ganz
zu Recht. Wir haben nun unseren Londoner Rorrefpondenten gebeten, uns das englische Wochenende zu schildern, wie es in Wirklichkeit aussieht.( D. Sed.)
Die an und für sich lobenswerte Bereitwilligkeit des Deutschen . ausländischen Schriftstellern Heimatrechte im eigenen Lande zu gewähren, Land und Leute des Auslandes durch die Brille ausländischer Romane und Theaterstücke tennen zu lernen, hat auch ihre unzweifelhaften Nachteile. Die bürgerlichen Romane Englonds, die ins Deutsche übersetzt wurden, die schmissigen englischen Komödien eines Noel Coward und gewisse snobistische deutsche Berichterstatter, die einmal eine Nacht in einem englischen Landhaus zugebracht haben, sie alle haben zu einer Berfälschung des Bildes des englischen week- end geführt. Was sie malten war weniger Wirklichkeit als ein Wunsch bild, gewiß
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Gif.
Das Weib, das den Mord beging.
Roman von Frih Red- Malleczewen.
Ja, und wenn nach altem Spruch viel Feind' wirklich viel Ehr' bedeutet, so muß gesagt werden, daß die kleine Sif in diesen Tagen überhäuft mit Ehren durch das Haus der Confederation of good works" geht! Da sind zuerst diese Pflegerinnen, diese grämlichen alten Jungfern, die nicht gut geschlafen haben und sie anschreien, daß der Tee zu dünn, daß ihre Schuhe nicht genügend gereinigt seien, daß im Zimmer VII auf dem Propheten Hesekiel nicht Staub gewischt sei, und warum Schwester Agathe nicht ihre Verdauungspillen zum Frühstück bekomme.
Und wie soll man fertig werden oben in den großen Sälen mit den eigentlichen Infassen dieses Hauses?
Da sind eines Tages die Infassen des großen Mittelfaales in der Nacht an einem Wäschestrid auf die Straße geklettert, wofür fie vom Manager Hobson mit harten Worten verant wortlich gemacht, von der Oberwärterin Mary mit einem Hungertag bestraft wird. Dann wird sie mit Prügeln bebroht, weil oben in den Strafzellen ein paar Scheiben zer brochen worden sind, dann wieder beschwert sich die Polizei, daß die Weiber von den nach dem Bolltai hinausgehenden Fenstern aus mit den Straßenpassanten anbandelten. Und auf Nr. 3 finden sich an einem Morgen mit Bleistift an die Band gemalte allerliebste Zeichnungen, wie sie nicht gerade für die Augen junger Damen bestimmt find... Beichnungen, wie sie in maßlofer Vergrößerung sonst Vorstadtzäune und die Wände von Lokalen zieren, die dem aus'chließlichen Gebrauch von Männern, reserviert sind, und in Nr. 23, wo die Unverbesserlichen, zum Sühnen durch gute Werte partout nicht zu Bewegenden untergebracht sind, hat man an einem anderen Morgen als Quittung für eine gestern empfangene Essensentziehung auf unwidergebliche Weise den Fußboden verunreinigt..
Daß von dem allen ja nichts zu sehen ist, fleine Sif, wenn eine der Wärterinnen, menn gar die Steppenstute Marn ihre Morgenrunde macht!
Da liegt sie mit dem Scheuerlappen auf dem Boden, ist
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nicht die Wirklichkeit des Mittelstandes und schon gar nicht der Arbeiterklasse. Der Glücklichen oder Unglücklichen, die am Freitag mittag in smarten 123ylindrigen Rolls- Royce nach historischen ,, country mansions" und Schlösser rauschen, um am Dienstag mittag- wenn überhaupt in ihre Bureaus zurückzukehren, sind weniger als die populäre Phantasie sich vorzustellen geneigt ist, und das week- end des höheren Mittelstandes, das tleine Landhaus in Surrey oder Sussex, in dem man von Samstag nachmittag bis Sonntag abend zu Gast geladen ist, ist für jeden, der es einmal am eigenen Leib erlebt hat, alles eher denn ein Traumbild. Das unglüdliche Opfer eines solchen Wochenendes wird sich für Wochen an 36 Stunden in Zugluft und Kälte erinnern, und selbst die Heil. samkeit des völligen Nichtstuns wird ihn nicht über die Erinnerung an eine bodenlose Langeweile hinweg trösten tönnen. Es ist nichts anderes als die Verlängerung der Trostlosigkeit des englischen Sonntags ins Ländliche, und wenn der Gast um den obligaten Kirchen besuch herumgefommen sein sollte, mag er sich schon als ein vom Schicksal besonders Begünstigter preisen. Das englische week- end des Mittelstandes ist kein Kulturfattor, das sich irgend ein Land einzuführen beeilen sollte. Der seelische Wert eines mit dem Rucksack verbrachten deutschen Wanderns im Grünen ist zweifellos unvergleichlich höher.
Ein falsches Vorbild.
Weder Landhäuser noch Wochenendsiedlungen sind ein Problem für die englische Arbeiterklasse. Sie hat sich früher als die Arbeiter anderer Nationen den freien Sonnabendnachmittag zum Sonntag hinzuerobert, aber die 44 freien Stunden bilden fein ge fchloffenes Ganzes. Der Sonnabend und Sonntag der englischen Arbeiterklasse trägt verschiedene Gefichter. Will man einen typischen Sonnabendnachmittag des männlichen englischen Arbeiters( und eines Teiles der jüngeren weiblichen Generation) fennen lernen, so muß man je nach den Jahreszeiten zu den großen Fußball- und Kridettämpfen pilgern. Der Sonntag steht unter einem anderen Gesetz: Der Sport ist in aller Regel, wenn auch nicht mehr überall, verboten, nicht nur der Massensport, sondern auch der individuelle Sport, nicht nur das Zuschauen, sondern auch das eigene Ausüben eines Sportes. Die Golf-, Tennis- und Fußballpläge sind geschlossen. Die Theater sind gesperrt und in einigen Teilen Englands auch die Kinos. Damit ist die ganz große Majorität der englischen Bevölkerung auf die Parts, diese grünen Inseln in und um London , insbesondere aber auf das eigene Heim verwiesen, das ja bekanntlich für die Arbeiterklasse im allgemeinen, trog der ungeheuren slums, Wer beffer ist als in irgend einem anderen Lande Europas . draußen in den Vororten wohnt, hat wohl Gelegenheit, in seinem fleinen Garten zu arbeiten, fleine Ausbesserungsarbeiten im Haus vorzunehmen. Die Flucht aus der Stadt über den Sonntag ist erst eine Entwicklung der neueren Zeit. Wohl haben sämtliche Eisenbahnen verbilligte Wochenendtarife. Rückfahrkarten sind zum Preise von 1% der einfachen Fahrt zu haben. Aber die hohen Preise der englischen Eisenbahn machen es der Arbeiterklasse im allgemeinen
nun so stumpf schon, daß sie es selbst zu dem Gefühl des Etels nicht mehr bringen fann, daß sie in den Berufsjargon der Zimmerinfassen verfällt, wenn man mit ihnen spricht, daß sie kaum mehr zudt, wenn die gestern von der Polizei eingelieferte und heute von der kleinen Sif zu betreuende Maria Grusczinska die Aufforderung zum Bade dadurch be= antwortet, daß sie ihr ins Gesicht speit.
Und da sind die schon befannten Andachten, bei denen der Manager Hobson die Geschichte des Urvaters Abraham vorlieft, den Gott für gute Werte mit dem größten Bank tonto das Landes Chaldäa ſegnete... diese Andachten, bei denen man nun selbst ein andächtiges Geficht zu machen gelernt hat, bei denen man sich aber doch hin und wieder erinnert, daß um diese Zeit in einem kühleren Lande Lieder innert, daß um diese Zeit in einem fühleren Lande Lieder von einem Kinde gesungen werden, das ganz ohne Herden und Bankkonto in einem Stalle zur Welt kam. Ja, bei diesen vagen, sentimentalen Reminiszenzen geschieht es wohl, daß man nasse Augen bekommt, daß man sich davonschleichen möchte, und daß man dann doch hart angelassen wird von Ismael P. Hobson, der sich derartige Dinge ein für allemal verbittet, ja...
Und dann, wenn wieder einmal ein Ronstabler eine neue Insassin einliefert, dann denkt sie plötzlich an den Schmal lippigen, denkt daran, daß er am Ende schon die Berliner Wohnung des Obersten Miramon fennt, daß man sie zu sammen im Erzelfiorhotel gesehen hat, daß man früher oder später ja doch erfahren muß, wer sie ist! Dann verkriecht sie sich in ihrer unfäglichen Angst in ihrer Kammer, orafelt, ob der Uniformierte in Hobsons Kanzlei am Ende schon mit Haftbefehl und Handschellen gekommen sei: wenn draußen auf dem Zolltai vor ihren Fenstern in einer Minute mehr Wagen von links als von rechts passieren, so gilt der Besuch ihr, so wird sie heute schon vor dem schrecklichen Dünnlippigen erscheinen müssen...
Dann schrillt die Stimme der alten Mary durch das Haus, dann ist, während sie sich vertrochen hat, im Badezimmer der Wasserhahn aufgeblieben. Dann, nachdem die Ueberschwemmung beseitigt ist, hat man für den Manager Hobson irgendein langes Aftenstück für das Mutterhaus in Philadelphia abzuschreiben, dann wird man angedonnert, weil man irrepreffible" mit einem ,, r" geschrieben hat, dann fühlt man plöglich, während man sich stotternd entschuldigt, den Atem dieses Menschen in greifbarer Nähe: oh, man tennt diesen Alten, das ungreifbare Od des Begehrens, man er
unmöglich, von dieser Erleichterung entsprechenden Gebrauch zu machen. Anders steht es mit den reinen Sonntagsfahr. tarten, die es Hunderttausenden im Sommer ermöglichen, zum halben oder sogar weniger als halben Preise für einige Stunden an die See zu fahren. Man muß allerdings ein Engländer sein, um diese Sonntagsvergünstigung der Eisenbahn als eine solche zu empfinden. Die Dauer der Fahrt steht meist in einem grotesten Mißverhältnis zur Zeit, die einem an der See vergönnt ist, und mir ist unlängst der Prospekt einer englischen Eisenbahngesellschaft( die englischen Eisenbahnen sind bekanntlich in Privatbesig) in die Hand gefallen, in dem einem vierstündigen Aufenthalt auf der englischen Westtüfte eine sechsstündige Eisenbahnfahrt gegenüberſtand. Es gehört schon der ganze, der angelsächsischen Raffe angeborene Lebensoptimismus und die merkwürdige individuelle Bescheidenheit dieses Volkes von Welteroberern dazu, um solche Sonntagsfreuden als wünschenswert zu betrachten. Wichtiger als die Eisenbahn sind im lezten Jahrzehnt die Gesellschaftsautos, die sogenannten charabancs geworden, welche Sonntagsrückfahrkarten zur See zu Preisen durchführen, mit denen die Eisenbahnen nicht oder kaum mehr tonturrieren tönnen. Der charabanc bietet den Vorteil der Fahrt in freier Luft und gibt dem einzelnen das Gefühl, in einem Auto zu fizzen, was zu den mystischen Freuden des englisch sprechenden Menschen zu gehören scheint. Mag das Auto auch auf die übrige Menschheit eine zauberhafte Anziehungskraft ausüben, so wird man doch nirgends als in England und Amerita so viele Menschen finden, die bereit sind, alle übrigen persönlichen Bequemlichkeiten und einen Teil der Seele dazu dem eigenen Bierzylinder zu opfern Bom charabanc zum privaten Befiz eines Autos oder Motorrades ist nur noch ein fleiner Schritt. Schon heute besitzt ein Teil der gelernten Arbeiterschicht der jüngeren Generation, soweit fie unverheiratet und nicht arbeitslos ist, Motorräder, die auf Grund von billigen Teilzahlungen erworben sind, und wenn auch das Arbeiterauto in England noch einigermaßen ein Luftschloß darstellt, so dürften die fallenden Preise der fleinen Autos einerseits und die wachsende Anzahl der aus zweiter oder dritter Hand zu erwerbenden älteren Motorfahrzeuge zu einer schnellen Proletarisierung des Autos auch in England führen. Vorläufig steht dem freilich einerseits noch die Höhe der Garagekosten, welche wöchentlich für kleine Autos 9 bis 11 Schillinge betragen, und die Tatsache gegenüber, daß die heute aus zweiter oder dritter Hand auf den Markt kommenden Wagen zwar unter Umständen für 25 bis 35 Pfund( 500 bis 700 Marf) zu erwerben sind, aber infolge der hohen Steuerpferde. fräfte und der geringen Benzinökonomie die diese alten Jahrgänge fennzeichnet, im Betrieb außerordentlich fostspielig sind. Erst wenn die Typen der Jahre 1925 bis 1927 von den heutigen Besitzern vertauft werden, um gegen neue Modelle ausgetauscht zu werden, dürfte in England der Tag des Arbeiterautos herausgedämmert sein.
Keine Wochenendhäuser für Arbeiter.
Der Engländer ist tein Wanderer, und die Natur ist überdies mit soviel Zäunen umgeben, daß der Verfuch zu wandern ein zweifelhaftes Bergnügen bietet. Das Wandern fällt als eine irgendmie bezeichnende week- end Beschäftigung fort. Aber auch der dem Wandern so eng verwandte Aufenthalt im Freien über den Sonntag in camps liegt dem Engländer nicht. So anspruchslos er in seiner Nahrung und auch sonst in seinem Leben sein mag, der Verzicht auf das gewohnte typische umfangreiche Frühstück macht ihn gegen Wenn auch die Jugendgruppen dergleichen Abenteuer sceptisch. der JLP. nicht ohne Erfolg nach dem Muster der kontinentalen
innert sich des Schwagers Lex, des Obersten Miramon, des Dieners Theodorowitsch... alle Ravaliere verschmelzen bei dieser Erinnerung zu einer grotesten Frage der Geilheit.. Dann, wenn wieder so ein Tag ertragen ist, wenn oben in den Schlafsälen die Weiber nicht mehr schreien, wenn man sich in der Gluthiße seiner Kammer die Kleider nom Leibe gerissen hat, dann framt man wohl in den Schätzen, die einem verblieben sind aus sagenhaften Zeiten: ein Fezzen des Brautschleiers, den man nach dem Rate der alten Ber liner Aufwartefrau als glüdbringenden Talisman noch immer bei fich trägt, den Ring, in dem die Worte„ Robby und Gif eingraviert find, Robbys zerknittertes Bildchen
Aufgesprungen plöglich in der Gewißheit von irgend etwas, was unsichtbar in dieses Zimmer hinein will, nach ihr greift, an ihrem nackten Leibe zerrt!
Unter dem Bette nachgeschaut, das ganze Zimmer abgefucht, das Licht gelöscht, in der Dunkelheit bemerkt, daß aus dem Nebenraum, aus dem Zimmer des Manager Ismael B. Hobson schwacher Lichtschein zu ihr dringt. An die Tür geschlichen, die die beiden Räume verbindet, entdeckt, daß sie burchfiebt ist von Bohrlöchern: feinen Bohrlöchern in allen Blidrichtungen, Gucklöchern, die es dem da drüben gestatten, das ganze Zimmer zu überblicken.
Wieder das Licht angedreht. Leise schleichen sich nach einer Weile Schritte an die Wand, ein Schatten verdeckt den Lichtschein... oh, sie hat sich nicht getäuscht: es ist Hobson , es ist dieses alte Laster, das nach ihrem nackten Leibe ausspäht.
Da liegt fie, zittert leise, weiß nicht warum. Oben in den Schlafsälen ist, wohl als Reaktion auf einen fabelhaften Biz, Gelächter der Weiber zu hören, zwei Betrunkene grölen auf dem Kai draußen, Aasgeftant fommt von den Fleischständen draußen
Das Loch, durch das der andere zu ihr hineinspäht, ist noch immer verdeckt. Da geschieht es, daß sie aufspringt, mit einem irrsinnigen Gelächter alle ihre Schätze zum Fenster hinauswirft: den glückbringenden Feßen des Brautschleiers, den Trauring und die Photographie des weichherzigen kleinen Malerjungen, der zu sentimental war, um Hündchen Binky zu töten.
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Folgendes aber ereignet sich drei Tage vor demjenigen, an dem man außerhalb dieses Hauses die Geburt jenes sagenhaften Kindes von Bethlehem feiert.
( Fortsetzung folgt.)