Abendausgabe
Nr. 203 44. Jahrgang Ausgabe B Nr. 100
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Sonnabend
30. April 1927
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B. S. Ceipzig, 30. April.
Nach bolnahe zehnstündiger Dauer fand die Beratung des Staatsgerichtshofes über die Entscheidung des Prozeſſes Wifing" ,, Olympia " gegen 1 Uhr nachts ihr Ende. Um 11 Uhr vormittags erschien das Gericht im Saal und Senats11 Uhr vormittags erschien das Gericht im Saal und Senatspräsident Dr. Niedner verkündete folgendes Urteil:
,, 1. Unter Aufhebung des Beschlusses des Staats. gerichtshofes zum Schutze der Republik vom 13. Oftober 1926 wird die Verfügung des preußischen Ministers des Innern rom 12. Mai 1926, durch die das Berbot des Bundes ., Wifing" ausgesprochen worden ist, bestätigt. Die den Bund Witing" betreffenden Kosten werden dem Bunde auferlegt.
2. Der Beschluß des Staatsgerichtshofes vom 13. Oftober 1926, durch den das Berbot des Vereins„ Olympia " vom 12. Mai 1926 aufgehoben wird, wird aufrechterhalten. Die Kosten des Verfahrens werden dem preußischen Staatsfistus auferlegt."
Der Vollfenat des Staatsgerichtshofs hat die von der Kleinen Rammer gefällte Entscheidung nur zum Teil forrigiert. An sich war jede Abänderung des Spruches, den die Borinstanz gefällt hatte, schon dadurch erschwert, daß beide Gerichtshöfe zum Teil miteinander identisch waren. Es handelte sich nicht um ein unteres und ein übergeordnetes Gericht, sondern um einen Kleinen Senat", bestehend aus Vorsitzenden und zwei gelehrten Beisitzern, der feine eigene Enischeidung als Großer Senat" d. h. unter Hinzuziehung von sechs Laienbeisigern noch einmal nachzuprü fen hatte. Die beiden Hauptpersonen des Gerichts, der Vorfigende Niedner und der Berichterstatter Arnold. wirften in gleicher Eigenschaft in beiden Verfahren mit.
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Was bereits menschlich vorauszusehen war, daß diese beiden der Korrektur ihres ersten Spruches Widerstand entgegensehen würden, das hat die Art der Verhandlungsführung durch den Vorsitzenden Niedner ebenso flar ge zeigt, wie die Fragestellung des Berichterstatters Arnold. Herr Arnold verfügte förmlich über zwei verschiedene Stimmen: über eine leise, unverständliche, mit der er das Material der preußischen Regierung, über eine laute, ausbrudsvolle, mit der er das Entlastungsmaterial der Verbände vortrug.
Freilich hat sich ihr Bestreben gegen die neu hinzugezogenenen Laienbeisiger nur zum Teil durchgesetzt. Die Urteilsbegründung baut den Reichsgerichtsräten vom Kleinen Senat eine goldene Brücke des Rückzuges, indem sie hervor hebt, daß bei der ersten Entscheidung nicht gleich viel und gleich erschöpfendes Material gegen die Bünde vorgelegen habe wie in der jetzigen Berhandlung. Gewürdigt worden ist die neue Situation jedoch nur im Falle Witing, dessen Berbot aufrechterhalten bleibt, während die Beschwerde der preußischen Regierung im Falle Olympia zurückgewiesen wurde.
Diese Entscheidung sieht aus wie ein 50prozentiges Rom. promiß. Sachlich liegt sie für die preußische Regierung in fofern günstig, als zweifellos von den Organisationen Witing und Olympia der Wiking die größere, aftivere und gefähr lichere ist, die sich über das ganze Reich erstreckt, während Olympia ein lofal begrenzter Berliner Verein war.
Sonderliche Befriedigung wird indes das Urteil auf feiner Seite auslösen. Die Rechtspresse hat bereits zu Beginn des Prozesses ihre Parole für den Fall einer Aufrechterhaltung des Berbots ausgegeben, indem sie den Staatsgerichtshof als ein Parteigericht" bezeichnete. Wie wenig er das ist, beweist die Entscheidung in Sachen Olympia .
Für die Linke liegt dagegen die Befürchtung vor, daß der Derbotene Wifing nunmehr die nicht verbotene Olympia als Unterschlupf und Asyl für seine Mitglieder benutzen wird. Benn Herr Ehrhardt freilich die Barcle auszugeben gedenkt, daß alle Wifinger jegt der Olympia beitreten sollten, so besteht hier vorläufig noch ein gewichtiges Hindernis. Wie wir bereits früher ausführten, bleibt ungeachtet der Entscheidung des Staatsgerichtshofes das zweite Berbot der Olympia - auf Grund des Gesetzes zur Ausführung des Versailler Friedensvertrages voll in Kraft. Aber natürlich werden jekt Oberst v. Luck und seine Freunde bei der Reichsregierung Sturm laufen, daß sie ihre im vorigen Jahr einstimmig zu diesem Berbot gegebene Zustimmung zurückziehen möge. Und da inzwischen die damalige Regierung der Mitte von der Negierung des Rechtsblocks abgelöst ist, so kann man nicht
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wissen, was nun wird.
Bedenklicher aber ist, daß das Verbot des Wifing nur für Preußen gilt, außerdem noch für einige fleinere Länder, wie z. B. Heffen. Dagegen fann der Wiking in anderen Ländern, in erster Linie in Bayern , aber auch in Thüringen , Mecklenburg usw. ungehindert fortbestehen.
industriellen, Rache für das Verbot von Wiling und Olym pia, Rache für die Auffindung des Aufmarschplanes und der Motverordnung, Rache für das Hochverratsverfahren gegen Claß, Rache vor allem für den vereitelten Putsch von 1926 - das war die eigentliche Parole, das war das wirkliche 3iel dieses Prozesses.
Rache für die Haussuchungen bei den rheinischen Groß
Wir sind der Ansicht, daß auf Grund der tatsächlichen| Hoffnung, der preußischen Regierung menigstens eine mo Feststellungen des Staatsgerichtshofes ein Reichsverbot ralische Schlappe bereiten zu können. Staatsgerichtshof die hochverräterischen Ziele des Biting des Wifing zwingende Notwendigkeit ist. Hat doch der flar anerkannt. Nach der Begründung steht fest, daß seine Pläne auf Errichtung einer völkischen Diktatur hinzielten. Mit Recht hat der Staatsgerichtshof der Aussage des von der Verteidigung viel geschmähten Zeugen Käsehage darin Glauben geschenkt, daß der Berliner Wikingführer Sodenstern durch Provozierung eines Kommunistenputsches die Ver über Artikel 48 die Diftatur auf angeblich legalem Wege zu hängung des Ausnahmezustandes erreichen wollte, um dann
erreichen.
Diese Feststellung ist von äußerster Wichtigkeit, auch im Hinblick auf das tommende Hochperratsverfahren gegen Claß. Man begreift, warum die Rechte alle Minen springen ließ, warum der Verteidiger Bloch eine Viertelstunde seines Schluß mortes darauf verwendete, um den Zeugen Käsehage zu verdächtigen und als Spitzel darzustellen. Diese Art der Feme wird bekanntlich gegenüber jedem angewandt, der etwas aus den Geheimnissen des Rechtslagers ausplaudert. Käsehage ft bontottiert und wirtschaftlich ruiniert worden, dem Assessor Dieß hat man ein Landesverratsverfahren angehängt, Mahraun wird tagtäglich mit Schmutz beworfen- das macht die zurückhaltenden Aussagen so manches anderen Beugen bein dem Verpflichtungsschein des Wifing gefordert wird, ist greiflich. Die Ahndung nach altgermanischem Recht", die feine Schimäre, sondern eine reale, fürchterliche Macht.
Aber diese Macht hat diesmal versagt, und deshalb wiffen wir heute, daß die Butschpläne der vater ländischen Verbände im Frühjahr 1926 feine Ausgeburt von Spizelphantasien, feine Erfindungen der preußischen Regierung waren, sondern eine sehr reale, brohende Gefahr für die Republit, von der freilich die wenigsten etwas geahnt haben und die nur durch die Wachsamteit des preußischen Innen ministeriums abgewendet worden ist.
Deshalb bedeuten mehr noch als der Urteilstenor die Urteilsgründe für das preußische Innenministerium eine gewonnene Schlacht. Denn darüber seien wir uns flar: Wenn die Rechtsverbände für diesen Prozeß, der praktisch( wegen des fortbestehenden Verbots auf Grund des Versailler Vertrages, sowieso nicht den geringsten tatsächlichen Erfolg versprach, trotzdem solche Mühe und Kosten verwandt haben, so geschah das in der
fie im Frühjahr 1926 die Machenschaften der Claß und Sotert. Die Handlungen der preußischen Regierung, mit denen In diesem Ziel sind die Rechtsradikalen gänzlich geschei denstern, der Hugenberg und Luc zerschlug, sind durch das Beweisergebnis und die Urteilsbegründung in jeder Beziehung gerechtfertigt. Fülle des neuen Materials- wir erinnern allein an das Darüber hinaus hat die in Schmalkalden gefundene der weitesten Deffentlichkeit die Augen über den gemeingefährlichen Charakter des Geheimbundes Wiring und die hinterhältige Verschleierungstaftit seines Führers Ehrhardt, nicht zuletzt aber auch über die in geheimen Führerfonventiteln gesponnenen l m st ur 3- pläne geöffnet.
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Nur ein Kapitel ist geheim geblieben: die Beziehung der Berschwörerverbände zur Reichswehr. Auch hier wird der Tag kommen.
Die Urteilsbegründung.
Der Rechts
Zu Beginn der Urteilsbegründung erklärte Senatspräsident Dr. Riedner, daß er sich zu einigen Vorbemerkungen veranlaßt sehe. 1. Es tönne eine Aeußerung des Rechtsvertreters des preußischen Innenministeriums eventuell misverstanden werden. vertreter habe vom Staatsgerichtshof ein politisches Urteil" ver langt. Wenn dem Staatsgerichtshof Bersonen aus dem politischen Leben beigegeben worden sind, so geschah das zu dem zwed, um den gelehrten Richtern die oft mangelnde oder vielleicht nicht genügende politische Sachtunde zu geben, die für die Entscheidungen notwendig ist. Trotzdem urteile der Staatsgerichtshof nur nach Recht und Gerechtigkeit, und diese Gerechtigkeit hat keine Binde vor den Augen
2. Bei der Entscheidung des Staatsgerichtshofs fonnte nach den Grundsäßen der Strafprozeßordnung nur das berücksichtigt werden, was tatsächlich erwiesen war, dagegen nicht das, was auf Sentiments oder Schlußfolgerungen beruhte.
3. Das Material, das dem Staatsgerichthof in tleiner Besetzung vorlag, mar lange nicht so erschöpfend, wie das jetzt bei
gebrachte, insbesondere hinsichtlich der Beweisführung, daß„ Wifing"
Attentat gegen die Arbeitslosen.
Abbau der Krisenfürsorge.
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Der neueste Streich des Besitzzbürgerblocks.
Die Regierung des Bürgerblocs enthüllt immer deutlicher, was in Wahrheit hinter den hochtönenden Phrafen bei Berkündigung ihres fozialpolitischen" Regierungsprogramms stedt. Das Zentrum und besonders die chriftlichen Gewerkschaften haben sich nicht wenig darauf eingebildet, daß eine neue fozialpolitische Aera nunmehr beginnen würde. Jetzt liegt es offen zutage, welchen Sinn der Bürgerblod hat: Sicherung der rücksichtslosesten Ausbeutung der Arbeitskraft. Das sogenannte Arbeitszeitnotgefeß bewies es bereits mit aller Deutlichkeit. In diesen Rahmen passen die Maßnahmen für den Beginn einer vollständigen Beseitigung der Krisenfürsorge sehr gut hinein. Hungernde Arbeitslose sind das sicherste Mittel für Lohnbrud. In der Tageszeitung der christlichen Gewerkschaften„ Der Deutsche" hat Clara Mleined vom Deutschen Gewerkschaftsbund
vor dem Abbau der Krisenfürsorge gewarnt; der Einfluß der chriftlichen Gewerkschaften, über den Herr Stegerwafd so viel Aufhebens machte, ist so groß, daß gerade der diesen christlichen Gewerkschaften nahestehende Reichsarbeitsminister den Abbau vornimmt!
für die Wohlfahrtspflege entlasten. Dieser lächerliche Instanzentonflitt zwischen Staatsverwaltung und Gemeindeverwaltung darf nicht auf Kosten derjenigen Erwerbslofen ausgetragen werden, die infolge der entseßlich langen Arbeitslosig feit am schlimmsten dran sind. Es wäre sehr nüßlich, wenn die Berantwortlichen solcher Maßnahmen ein solches Geschick einmal a m eigenen Leibe verspüren würden.
Geradezu toll ist der Plan, von der Krisenfürsorge auch be. stimmte Bezirte ausnehmen zu wollen. Selbst in den günstigsten Bezirken gibt es Berufe, deren Arbeitsmarkt nach wie vor start daniederliegt, man braucht nur an die Angestellten zu denken.
Das Reichsarbeitsministerium begründet seine Maßnahmen mit der Besserung des Arbeitsmarktes. Gewiß, gegenüber dem Höchststand hat sich der Arbeitsmarkt erheblich gebessert. Jedoch: welche soziale Berantwortungslosigkeit stedt hinter diesem Argument! Sind nicht
einundelneviertel Million unterstühler Erwerbslofer
ein fatastrophaler Zustand? Das ist doch immer noch eine unfaßbar hohe Zahl von Arbeitslosen. Und nun berücksichtige man die Busammensetzung diefes Arbeitstolenheeres. Nach den Ausweisen vom 15. März waren über 700 000 der unterstühlen Erwerbslosen über 26 Wochen arbeitslos; am 15. April befanden sich 234 000 Unterftühungsempfänger in der Krisenfürsorge. Das sind also Arbeitslose, die bereits über 52 Wochen erwerbslos find!
Bereits am 29. März wies der ,, Borwärts" in einem Alarm ruf auf die hier drohenden Gefahren hin. Die Regierung des Bürgerblods mar rüdfichtslos genug, den Weg bes Abbaues zu be. schreiten. Sie tut es auch im Widerspruch zu der Stellung nahme des zuständigen Ausschusses des Berwaltungs. Wie wenig ein fachlicher Grund für die Maßnahmen des rats des Reichsamis für Arbeitsvermittelung. Nur die Vertreter Bürgerblocks besteht, beweist die Tatsache, daß die Zahl der unterder Unternehmer haben sich bei der Beratung natürlich beſtügten Erwerbslosen heute immer noch so groß ist wie bei der geistert für die Pläne ihrer Bürgerblod- Regierung ausgesprochen; Berabschiedung der Krisenfürsorge durch den Reichsiag.
die Vertreter der Arbeitnehmer und der öffentlichen Körperschaften waren dagegen. Deutlich wurde auch im Berlauf der Beratungen, daß es sich hier
Es ist zu befürchten, daß die Regierung des Bürgerblocks mit der Krisenfürsorge überhaupt Schluß machen will. Die Geltungsdauer des Gesetzes über eine Krisenfürsorge ist nur bis zum 30. Juni verlängert worden. So vollzieht sich die Durchführung des sozialpolitischen Programms des Bürgerblocks. Eine Verhöhnung Die Gemeinden sollen angeblich über die Krisenfürsorge ihren Etat der Arbeiter und Angestellten. Die Antwort wird nicht ausbleiben.
um einen Schlag gegen die Gemeinden handelt.