Nr. 276 ♦»H.Iahrgaag
1. Beilage öes vorwärts
Dienstag, 16.Funi 7H27
Phantastisch klingt die Urgeschichte jener Gegend um dos Hallesche Tor herum, die heute wie kaum eine andere in, Brenn- punkt des Berliner Verkehrs steht. Was hat diese Gegend gesehen, in welch« Schicksale war sie verwickelt? Geologisch ist der Bezirk deshalb interessant, well er innerhalb der Stadt die größten Höhen- unterschiede aufweist. Das führt man darauf zurück, daß das Ge- biet, wie die ganze Gegend um Berlin , seine jetzige Oberflächen- gestalt, abgesehen von menschlicher Tätigkeit der jüngsten Vergangen- heit, am Ende der Eiszeit erhielt. Wer damals auf einer Erhebung an Stelle des jetzigen Kreuzberg gestanden hätte, würde vor sich nach Norden die gewaltig« Fläche eines Urstromes gesehen haben, der die ungeheure Schmelzrvassernicnge der im Norden drohenden, aber langsam schwindenden Gletscher noch Westen entführt«. Hier war(nach den Angaben von P. Schaeffer in den„Berl. Heimat- büchern") die schmälste Stelle des Stromes: dennoch betrug die Ent- fernung sünf Kilometer bis zum anderen User, dem Abfall der Hochfläche des Barnim am Friedrichshain : das südlich« User kann man als Rand der Hochfläche des Teltow auf unserem Gebiet vom Hermannsplatz bis zur Anhalter Bahn verfolgen. Irühgefihichte in der Selle-fllliance-Straße. Die erste Bevölkerung, deren Spuren sich in der Mark sicher nachweisen lassen, war germanischen Ursprungs. Semnonen wohn- tei hier schon vor dem Beginn unserer Zeitrechnung: doch sind menschliche Ansiedlungen aus jener Zeit auf unserem Gebiet nicht mit Gewißheit erwiesen, wenn auch vereinzelte Urnensunde in der Hafenheide und am»Düsteren Keller" daraus hinzudeuten scheinen. Germanische Urnensriedhöfe sind aber aus der Tempelhoser und Schöneberger Feldmark aufgedeckt worden, und Funde röm'scher Katsermünzen daselbst lassen darauf schließen, daß vom ersten Jahr- hundert unserer Zeitrechnung bis in die Mitte des vierten Jahr- Hunderts ein lebhafter Handelsverkehr vom Süden her nach der unteren Oder auch durch unsere Gegend gegangen ist. Es ist mög- lich, daß schon damals die Handelsstraße dem Zug der heutigen Belle-Alliance-Straße folgte, wie später im Mittelalter hier errt- lang ein alter Handelsweg von Berlin über Trebbin und Lucken- walde nach Holle führt«, während ein anderer uralter Weg über den Kottbuser Damm und Neukölln nach Mittenwalde und Dresden ging. Beide Wege waren Poststraßen von der Zelt des Großen Kurfürsten bis in das vergangene Iohrhundeert hinein. Mit der Völkerwanderung hört« der Handelsverkehr zunächst auf: Wenden nahmen die von den Germanen verlasienen Wohnsitze ein. Reste ihrer Wohnungen haben sich in Alt-Kölln und auf dem Friedrichs- werder gefunden, aber nicht in unserem Stadtteil. Die erste sichere geschichtliche Erinnerung aus der Gegend vor dem Halleschen Tore stammt erst aus der Zeit, als die Macht der Wenden gebrochen war und Barnim und Teltow seit 40 Jahren unter der deutschen Herrschaft der Askanier standen.
Die kurfürstliche Vastersurcht. Dann wird erst zur Zeit Joachim I. das Dunkel um den Kreuz- berg wieder gelüstet. Dieser Kurfürst glaubte, wie die meisten seiner Zeitgenossen, daß die Astronomen die Geschicke der Menschen und die Zukunft in den Sternen lesen könnten. So hatte auch der Hos- astronom Joachims, der Magister Johann Carion . 1522 eine„Pro- gnosticatio(Prophezeiung) und Erklerung der großen Wesserung" drucken lassen,„Gantz erbermlich zu lesen in nutz und Warnung aller Christglaubigen menschen". In dieser Schrift war jür das Jahr 1524 ein«„Wesserung"(Ueberschwemmung) geweissagt wor- den, wie sie seit mehr als neun Jahrhunderten nicht dagerresen sei. Sie trat nicht ein. Dieser Irrtum untergrub aber nicht den Glauben des Kurfürsten an die weiteren Prophezeiungen seines Astronomen: wenigstens berichtet Peter Hafftiz , der in der zweiten Hälfte des 16. Äahrhunderts als Rektor und Chronist in Berlin lebte, in seinem von F. Holtze herausgegebenen„Mikrochronoloaikon" folgendermaßen:„Den 15. Julii, als M. Joachim I. Churfürst zu Branden- bürg durch einen Astronomen heimlich oerwarnet, daß auf den Tag ein groß Wetter würde kommen und wäre zu besorgen, beide Städte Berlin und Cölln möchten untergehen, ist er mit seiner Gemahlin, der jungen Herrschaft und vornehmsten Offizieren aus den Tempel. hosischen Berg gezogen und hat den Untergang der beiden Städte ansehen wollen. Aber als er lange daraus gehalten und n'chts daraus geworden, hat ihn sein Gemahl(wie es eine sehr gottes- fürchtige und christliche Fürstin gewesen) gebeten, daß er möchte wieder hineinziehen und bei seinen armen Untertanen auswarten, was Gott wn wollte,„weil sie es vielleicht nicht allein verschuldet". Darüber er bewogen und ist um 4 Uhr gegen Abend wieder gegen
Das alte Hallesche Tor
Cölln gezogen: ehe er aber auss Schloß kommen, hat sich ein Wetter bewiesen, und wie er unter das Schloß-Tor kommen, hat's dem Chursürsten vier Pferde vor dem Wagen samt dem Knechte er- schlagen und sonsten keinen Schaden mehr getan." Das war natür- lich echter und rechter Hohenzollerngeist. Sich selbst erst in Sicher- heit bringen und dann daraus warten, daß d>e ganze Stadt mit den lieben Untertanen,„die es vielleicht doch nicht allein verschuldet", untergeht. Es ist auch anzunehmen, daß den lieben Untertonen vorher nicht gesagt wurde, was das Geschick mit ihnen vorhatte. Weinberge am Kreuzberg . Der Name„Runder Weinberg" galt damals für den Kreuzberg . Die ganze hügelreihe von der jetzigen Lehniner Straße an bis über den Kreuzberg hinaus, war nämlich mit wein bepflanzt. Per- mutlich haben die Landesfürsten zuerst auf ihrem Eigentum Wein- berge angelegt: jedenfalls befohl Joachim I. 1533 den Bürgern, auf ihren Hügeln Weinberge„gemeiner Stadt zum Besten" anzulegen. Diese Weinberge brachten keine geringen Einnahmen: weniaftens berichten die Kämmerei-Rechnungen der Stadt, daß der eine Weia- berg 15SS 13') Tonnen roten und weihen wein brachte, der für 35 Schock 45 Groschen(gleich 429 M.) vertauft wurde. Im Norden Berlins gab es übrigens noch andere Weinberge, und das Berliner Gewächs wurde wegen seines vortrefslichen Geschmackes gerühmt. Der Wein ging hauptsächlich nach Polen , Rußland und Schweden . Erst mit dem Aufkommen des Branntweines am Ende des 16. Jahr- Hunderts ging der Weinbau zurück. Der Dreißigjährige Krieg vcr- nichtete ihn säst ganz, doch wurden die letzten Weinstöcke erst 1740 ausgerodet. Die drei westlichen Weinberge, zwischen denen die Straße noch Tempelhof führte, waren bis 1718 im Besitz der Landes- fürsten: erst Mitte des 19. Jahrhunderts wurden sie, wohl wegen ihres geringen Ertrages, verkauft. Sie begannen westlich von der heutigen Friesenstraße und reichten bis zur Westgrenze des Viktoria- parkes. » Das Hallesche Tor selbst bestand aus zwei starken Mauer- Pfeilern, die im oberen Teile durch eine starke Eisenstange verbun- den waren: an diese Eisenswnge lehnten sich nachts die beiden hölzernen Torflügel, die am Tage gewöhnlich offen standen. Wur. den sie(spätestens um 9 Uhr) geschloffen, so gab ihnen unten noch ein in der Mitte des Dammes liegender Prellstein den nötigen Halt. Auf der westlichen Innenseite stand das Haus für den Zoll- einnehme! und gegenüber das für die Wache.(Immer nach den Angaben P. Schäfsers in den Diesterwegschen Heimatbüchern.) Beide Häuser waren schon 1830 unansehnliche, niedrige, mit schlech- ten hölzernen Säulengängen versehene Gebäude. Jeder Fremde, der tags oder nachts durch dos Tor kam, muhte seinen Reisepaß zeigen und seinen Namen und Stand, den Zweck und das Ziel seiner Reise und die vermutliche Dauer seines Aufenthaltes angeben. Dem Postwagen wurde am Tore eine Schildwache mitgegeben, welche sie nach dem Posthouse in der Königstraße begleitete. Hier wurden die Koffer und das übrig« Gepäck der Reisenden visitiert, ob sie etwas Steuerbares oder Verbotenes mit sich führten.
Die Drücke im Dschungel. Litten- und Stimmungsbild aus dem Innern Mexikos. 25s Von U. Traven. Copyright 1927, dy B. Traven, Tarnaulipas(Mexiko ). Die Männer nehmen alle den Hut ab und gehen nach einander in die Hütte, um sich den Kleinen anzusehen und die Garza dadurch von ihrem Kummer abzulenken, daß jeder fragt, wlie es gekommen sei. Die Garza erzählt es wieder und immer wieder und natürlich immer mit den gleichen Worten. Durch dieses so häufige Wiederholen der traurigen Geschichte wird das Er- eignis immer alltäglicher, immer nüchterner, immer sachlicher. Ihr selbst scheint es zuweilen als sei das eine durchaus natürliche Begebenheit, an der gar nichts Außerordentliches zu sehen ist. Je häusiger der Vorgang erzählt wird, je mehr wird er der Tragik entkleidet, je mehr wird die Geschichte zu einem bloßen Wortgeläute, zu etwas, das irgendeiner sicheren fremden Person geschehen ist. Die Begebenheit wird unpersönlich, sie wird geschichtlich, sie verläßt Herz, Seele und Geist und wird klingendes lautes Wort. Zu ihrem Erstaunen fühlt die Frau, daß sie jetzt schon manchmal auf den kleinen Leichnam blicken kann mit dem abrückenden Gedanken, daß es ihr Kind gar nicht sei. Ihr Kind war ein lustiger, munterer, immer ge- schwätziger Bub und nicht so ein kalter, stumpfer Klumpen, wie er da liegt. Durch den Anzug und durch die Krone und das Szepter ist er überhaupt noch weiter von ihr abgerückt und ihr sehr fremd geworden. Und wenn sie nieder weint, so ist es eigentlich schon gar nicht mehr so recht des Jungen wegen. Sie weint ihretwegen, sie kommt sich so bemitteidens- wert vor, daß sie nun kein Kind mehr hat, dem sie leibliche Mutter ist. Und auf diesem Gefühlswege und wenn sie einige andere Frauen bemerkt, die herum sind, kommt es ihr zum Bewußtsein, daß sie nicht einmal eine Ausnahme ist, für die sie sich den ganzen Abend hielt. Sie ist nur die übliche Mutter. Was sie zu leiden hat, ist das Los einer jeden Mutter auf Erden. Aber es ist gewiß die Müdigkeit und die ungeheure Abspannung nach diesen entsetzlichen Stunden, daß sie jetzt gefaßter ist. Die Männer kommen wieder heraus und sitzen nun vor der Hütte herum, wo sich ein Heerlager aufgetan hat. Männer, Burschen, Frauen und Mädchen liegen herum und schlafen oder dröseln vor sich hm- Mehrere Bursche» helfen dem Moraoo beim Knallen. Sie dürfen aber nur da« Feuer
schüren, an dem Morano die Körper entzündet, oder diejenigen Kracker in die Hand nehmen und noch mal versuchen, die nicht gezündet haben und die Morano fortgeworfen hat. Die Männer haben auch Tequila mitgebracht und die Flasche geht rund. Auch der Garza wird die Flasche hinein- gebracht und sie tut einen gesunden Zug von diesem feuer- scharfen Schnaps, der normale Menschen mit einem Ruck auf die hinteren Kanten wirft. Aber diese mit Chile ausgeschwefel- Kehlen und Mäuler können noch ganz andere Dinge, unheim- lich« Dinge schlucken, ohne eine Muskel des Gesichts zu»er- ziehen. Einer jener Männer, die jetzt gekommen sind, ein ganz armer Indianer nimmt nun ein Buch aus der Hosentasche und blättert darin eine Weile herum. Und dann fängt er an zu singen. Lesen kann er nicht. Aber die gedruckten Worte geben ihm doch ein Bild, durch das er sich auf die Versanfänge besinnen kann. Manche Strophe singt er dreimal oder noch öfter. Sobald er begonnen hat, fallen einige andere Männer in den Gesang mit ein. Nun beginnt er die zweite Strophe und im Innern der Hütte fallen auch die dort herumsitzenden Frauen, darunter die Pumpmeisterin in den Gesang mit ein, zuerst ein wenig zurückhaltend, dann kräftiger. Manchmal singt der Indianer allein, weil sich die übrigen Zigaretten drehen, oder wieder einen Schluck aus der Flasche nehmen oder des Singens müde sind. Der Mann aber singt ununterbrochen. Er trinkt keinen Schnaps, denn er ist ein Kommunist und gehört zu jener Gruppe von indianischen Landarbeitern, die das alte india- nifche Gemeindelandrecht wieder einführen wollen, das die Spanier bei der Eroberung durch blutige Gewalt aufhoben und für ungültig erklärten. Der Sänger wird von niemand bezahlt, er singt aus reiner Menschenliebe, um der Mutter über den Schmerz hinwegzu- helfen, denn das Kind wird weder von einem Geisilichen in das Grab gebetet, noch von einem Arzt angesehen. Das kostet Geld, und weil Priester und Ar.st zwei Tagereisen weit ent- fernt wohnen, würde es noch mehr kosten. Außerdem kann das Begräbnis so lange nicht aufgeschoben werden, denn trotz- dem es noch kühle Nacht ist, riecht man den Leichnam schon außerhalb der Hütte. Gesungen werden Kirchenlieder. Ohne Zweifel. Denn ab und zu hört man etwas wie Heilige Jungfrau aus den Reimen heraus. Aber niemand, der Kirchenlieder kennt, würde glauben, man sänge hier jetzt solche Lied«. Dom der
Gesang hat weder im Rhythmus noch in der Melodie auch nur die allerfernste Ähnlichkeit mit dem, was wir uns unter Kirchenchorälen vorstellen. Wahrscheinlich wurde so gesungen, als die ersten spanischen Mönche hier durch die Dschungel zogen. Niemand unter den lebenden Menschen weiß, wie Choräle vor vierhundert Jahren in Europa gesungen wurden, denn die geschriebenen Noten aus jener Zeit geben uns darüber nicht mehr Aufschluß als die ägyptischen Hieroglyphen uns etwas aussagen über die Aussprache und Betonung ägyptischer Worte. Ein- oder zweimal in ihrem ganzen Leben haben die Männer hier eine Kirche besucht, wo die Choräle mit der Orgel begleitet wurden. Drei- oder viermal im Jahr kommt ein Priester in eines der Dschungeldörfer, wo er die Beichte hört und Absolution erteilt. Dann wird gesungen ohne Musikbegleitung. Sa bleibt etwas von der wahren Melodie, wie sie die Orgel festhalten kann, dem Gedächtnis der Leute haften. Das übrige verschindet ganz aus dem Gedächtnis und wird nun mit Teilen aus anderen weltlichen Gesängen und Tänzen vermischt. Bei Totenfeiern wird dann gesungen und jedesmal kommt eine neue Beimischung durch neue Sänger hinzu. Nun aber können die Eingeborenen überhaupt nicht so singen, wie wir meinen, daß gesungen werden muß. In ihrem Gesang klingt heute noch die schrille Note der Gesänge ihrer heidnischen Vorfahren durch, und diese Note ist so urmächtig, daß sie den ganzen Gesang allein zu tragen hat. Dieser Totensänger war weit bekannt und gesucht als der beste, man folgte ihm mit Andacht und Rührung, und glänzende Augen waren bewundernd auf seinen Mund ge» richtet. Als die erste Strophe begann, fing die Garza in der Hütte an gellend zu schreien und zu jammern. Sie verfiel in eine Raserei des Schmerzes und hämmerte mit ihren beiden harten Fäusten auf ihren eigenen Schädel ein, als wollte sie ihn in Stücke zertrümmern. Sie warf sich über den Leichnam und schrie:„Mein Kleiner! Mein Kleiner! Warum? Warum?" Und dann begann sie wahnsinnig zu fluchen in der gräßlichsten Art und Weise. Schließlich gab man ihr die Tequilaflasche. Sie wehrte sich dagegen und versuchte die Flasche'runterzu- schlagen. Aber endlich hatte sie doch den Mund so voll von dem Schnaps, daß sie schlucken mußte und man hielt die Masche an ihren Mund und goß immer noch hinterher. Aber das Betäubungsmittel half nicht viel. Sie wurde ein wenig müde und stumpf. Doch wenn sie des Gesanges gewahr wurde und die Frauen in der Hütte mitsangen, stieß sie aufs neue ihr««rschütternde» Schreie ans.(Fortsetzung folgt.)