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Abendausgabe

Nr. 277 44. Jahrgang

10 Pfennig

Dienstag

= Vorwärts=

Ausgabe B Nr. 136

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find in der Morgenausgabe angegeben

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Volksblaff

14. Juni 1927

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Zentralorgan der Sozialdemokratifchen Partei Deutschlands

Deutschland kommt Litauen entgegen.

Keine Durchführung der Beschwerde, nur eine Erklärung Woldemaras.

W. S. Genf , 14. Juni. ( Eigener Drahtbericht.) In der um 212 Uhr begonnenen vertraulichen Ratssitzung wurde in 5 Minuten entschieden, daß man erst morgen entscheiden will, ob die Memelfrage auf die Tagesordnung gesetzt wird. Diese Ber­tagung um 24 Stunden bedeutet, daß noch Verhandlungen im Gange sind zwischen Deutschland und Litauen , um, wie es heißt, zu einer direkten Verständigung zu kommen. Der litauische Ministerpräsident Woldemaras hat in der vertraulichen Rats­fizung erklärt, daß er seinen Widerstand dagegen aufgibt, daß die Memelfrage im Völkerbundsrat überhaupt behandelt wird. Er regt aber an, ihm die Beinlichkeit einer ausführlichen Ratserörterung dessen, was seine Regierung im Memellande wider rechtlich und willkürlich getan hat, zu ersparen. Es sieht danach aus, als ob ihm das gelingen wird. Er wird die Vermeidung einer materiellen Ratsuntersuchung der Memelbeschwerde als einen diplomatischen Erfolg in seine Heimat zurücknehmen.

Hingegen läßt die Haltung der deutschen auswärtigen Politit Stetigkeit vermissen. Erst hatte in Berlin eine im Ressortsinne zu ständige Stelle pathetisch erklärt, das deutsch - litauische Verhält nis müsse von der Memelfrage entgiftet werden. Deshalb bringe Deutschland die Sache der Memelländer vor den Rat. Deutschland vertraute dieser vertragsmäßig vorgesehenen Körper­schaft also die Entscheidung über die Anklage der Memeler Deutschen gegen das Willkürregiment der litauischen Diktatur an. Jetzt aber

ist diese

politische Linie völlig verlassen

worden. Die deutsche Delegation verzichtet hier darauf, auf eine Ratsentscheidung in der Angelegenheit zu bringen. Sie will sich mit einer hinter den Kulissen abgemachten Erklärung Litauens be­gnügen, die dann vor dem Rat abgegeben werden soll. Die Durchführung der Memeler Klage, die man einmal vor dem Rat erhoben hat, soll also unterbleiben. Es mag zutreffen, daß dieses Entgegenkommen gegenüber dem litauischen Diktator der bequemere Weg ist und weniger Energie erfordert als das feste Beharren auf einer einmal begonnenen wohlüberlegten Politit. Dieses Zurückweichen vor den Wünschen Litauens mag jedoch Streje. mann vor seinen deutschnationalen Roalitions freunden als neue internationale Sachlichkeit" rechtfertigen. Vom Böllerbundsgesichts­punkt läuft diese Verzichtspolitik darauf hinaus, daß dem Bunde eine Aufgabe entzogen wird, die er befugt ist und wohl imftande wäre zu lösen. Dabei hätte Deutschland eine Mehr heit des Rates auf seiner Seite. Die fleineren und mittleren Staaten wären durchaus nicht ungern mitgegangen und Berlin hätte dazu noch Warschau einen fostenlosen Gefallen er wiesen, wenn Kowno im Rate tüchtig gestäupt würde. Diese wohl unbewußte Sabotage des Völkerbunds durch Deutschland , die nur zu sehr dem hier üblichen Verhalten der Großmächte entspricht, mindert die Autorität des Bundes. Es wäre eine

Das geprellte Berlin .

Im Wohnungsbauprogramm benachteiligt.

Wo ist die Wohnungsnot am größten?- Der einfältige Bürger glaubt in den Städten und in den Industriegebieten. Er meint, wo die meisten Menschen leben und arbeiten, muß nüzliche Warnung an alle Brecher und Beuger international ver- auch der stärkste Wohnungsbedarf sein. Es gibt jedoch Leute, bürgter Volksrechte, eine Warnung an alle großen und fleinen die hierüber ganz anders denken, und seltsamerweise Diktatoren für die Zukunft, wenn der Völkerbundsrat sich mit scheinen namentlich manche hochgestellte Personen das gerade brutaler Gründlichkeit, Litauen wegen der Unterdrückung der deut- Gegenteil für richtig zu halten. Zu ihnen gehört offenbar der schen Memeler vorgenommen hätte. preußische Minister für Bolts wohlfahrt, der erst kürzlich wieder im Landtag die Anschauung vertreten hat, daß der Wohnungsmangel auf dem Lande mindestens ebenso groß sei wie in Berlin . Daß es sich dabei nicht um unbedachte Gelegenheitsäußerungen gehandelt hat, sondern um den Aus­druck einer feststehenden Ueberzeugung, ist den Berlinern mit schmerzlicher Deutlichkeit bewiesen durch die Art, wie seit Jahr und Tag der staatliche Wohnungsfürsorge= fonds verteilt wird.

Der litauische Ministerpräsident Woldemaras setzte heute seine Verhandlungen mit dem deutschen Ministerialdirektor Dr. Gauß fort.

In der der vertraulichen Sitzung vorhergehenden 20 Minuten dauernden öffentlichen Sizung wurden nur verwaltungsmäßige Dinge erledigt. Costarica und Aegypten wurden zu der nächsten internationalen Verkehrskonferenz eingeladen und auch der Sudan auf englischen Vorschlag aufgefordert, eine Vertretung zu entfenden. Das fennzeichnet das englische Bestreben, den Sudan von Aegypten völlig zu lösen.

Aus dem Bericht über den Stand der Konvention gegen die flaverei ergibt sich, daß fie bisher 37 Staaten unterzeichnet haben. Nur zwei sind im letzten Jahre der Konvention beigetreten: Indien und wieder auf englisches Betreiben die Regierung

des Sudan .

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Stresemann berichtete auf englisch über die am 14. November dieses Jahres angefeßte Staatenkonferenz über die Abschaffung der Ein- und Ausfuhrbeschränkungen. Die Internationale Handelskammer wurde eingeladen, eine Bertretung mit beratender Stimme zu delegieren.

Was Briand Stresemann gesagt haben soll. Paris , 14. Juni. ( Eigener Drahtbericht.) Nach den Ergeb­nissen des ersten Verhandlungstages in Genf zeigt die Pariser Presse am Dienstag, im Gegensatz zu der vom Montag, eine freund lichere Stimmung. Der Matin" erklärt, daß die Resultate von Genf nicht mehr als so absolut entmutigend an­zusehen feien und der Petit Parifien" glaubt fogar, schon eher optimistisch sein zu dürfen. Die Pariser Presse läßt weiter er­tennen, daß das einzige Resultat bisher nur das eine gewesen sei, daß alle Parteien unverändert starten willen zur Ber­föhnung und Forffehung der Locarnopolifit gezeigt hätten. Aller­dings sei es in der Aussprache zwischen Briand und Stresemann zu fehr lebhaften Auseinandersehungen gekommen. Stresemann habe sich bitter betlagt, daß die in Locarno versprochenen Rüd wirtungen ausgeblieben seien. Briand habe geantwortet, daß Deutschland zahlreiche politische und pfychologische Fehler begangen habe, die das miß­frauen zwischen beiden Bölkern wachgehalten und die Durchführung einer Politit der Zugeständnisse unmöglich gemacht habe. Ins­besondere sei die Anwesenheit von drei deutsch nationalen Ministern im Reichskabinett, die als unbedingte Gegner der Locarnopolitik anzusprechen seien, die schwerste Belastung für eine Fortfehung der Berföhnung zwischen Deutschland und Frankreich .

Mittwoch Standgericht gegen Kowerda

Polnische Antwort erst nach dem Urteil.

Warschau , 14. Juni. ( WIB.) Die Verhandlung gegen den Mörder des russischen Gesandten Wojtoff, Boris Kowerda, vor dem Standgericht ist auf morgen 10 Uhr vormittags angesetzt worden.

Die polnische Antwort auf die zweite Note der Sowjets wird noch im Laufe dieser Woche erteilt werden. Es ist nicht unmöglich, daß man vorher noch das Urteil des Standgerichts über den Mörder Wojtoffs, Boris Kowerda, abwartet. Wahr­scheinlich wird die polnische Regierung in ihrer Antwort den in der ersten polnischen Note eingenommenen Standpunkt neuerlich unterstreichen. Die polnische Presse drückt mehrfach die Ueber zeugung aus, daß die polnische Regierung die zu weit gehenden russischen Forderungen, die in der russischen Note unter Bunft 2 und 3 enthalten sind, nicht erfüllen werde.

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Die polnische Presse zur Sowjetnote. Der sozialdemokratische Robotnit" verurteilt entschieden die zweite Sowjetnote, weil sie geeignet sei, die bestehenden Schwierig­feiten zu vermehren. Die Verantwortung für die Verschärfung der Lage falle jetzt, so sagt das Blatt, auf Moskau , das ein leicht­finniges Spiel mit der Sache des internationalen Friedens treibe. Die chriftlich- demokratische" Rzeczpospolita" meint, daß die roten Henter des Kreml im Blutrausch den Kopf verloren hätten. Das Blatt hält die in Punkt 2 und 3 der russischen Note gestellten Forderungen für so unverschämt, daß man der Note überhaupt feine besondere Beachtung schenken dürfte. Den Bolschewisten impo­niere nur die Knute und die Politik der brutalen Kraft. Ruffenenthaftungen, neue Verhaftungen in Wolhynien . Warschau , 13. Juni. ( TU.) Im Laufe des heutigen Tages find alle Russen aus Warschau und Wilna , die sich noch in Haft befanden, auf freien Fuß gesezt worden. Dagegen sind mehrere

Verhaftungen in Wolhynien vorgenommen worden, allein in Rowno , Luck und Kowel sind etwa 30 Personen verhaftet worden.

Elf Todesurteile in Odessa .

Mostau, 14. Juni. ( Meldung der Telegraphenagentur der Sowjetunion .) Eine außerordentliche Seffion des Odeffaer Gerichts­hofes hat 16 Angeklagte wegen Spionage zugunsten Rumäniens ver­urteilt. Elf wurden zum Tode verurteilt, drei erhielten zehn Jahre Gefängnis, zwei wurden freigesprochen. Außer der Lieferung geheimer Informationen an den rumänischen Nachrichten­dienst beschäftigten sich die Angeklagten mit der illegalen Transportierung von nach Rumänien aus dem Gebiet der Sowjetunion geflüchteter und von den Sowjetbehörden gesuchter Personen. Der größte Teil der Angeklagten hat seine Schuld ein­gestanden.

Reichstag und Außenpolitik.

Sozialdemokratische Interpellation. Angesichts der wenig befriedigenden Entwicklung der deutschen Außenpolifit und der vielfachen inter­nationalen Verwidlungen wird es zu den wichtig sten Aufgaben des Reichstags gehören, sich über den außen­politischen Kurs der Reichsregierung Klarheit zu verschaffen. Jm Augenblick stehen die Entscheidungen des Völkerbundes noch aus und befindet sich der verantwortliche Leiter der deutschen Außenpolitik noch in Genf . Sobald jedoch die Genfer Beratungen geschlossen sind, was bekanntlich schon Ende dieser Woche der Fall sein soll, wird die sozialdemo­fratische Reichstagsfraktion eine Interpellation über die auswärtige Politik einbringen.

Nach gesetzlicher Vorschrift fließen in diesen Ausgleichs­fonds des Herrn Wohlfahrtsministers drei Behntel des ge= famten für den Wohnungsbau bestimmten Teils der Haus= zinssteuer. In den letzten Jahren waren es regelmäßig etwa 130 millionen Mark, die diesem Fonds zu­gefloffen sind, und von dieser gewaltigen Summe hat die Reichshauptstadt so gut wie nichts bekommen. Im Jahre 1926 ganze 800 000 M. und diese mit der Auflage, daß dafür Wohnungen für Staatsbeamte errichtet werden. Aber diese stiefmütterliche Behandlung Berlins ist nur eine besonders traffe Auswirkung einer grundsätzlich städtefeindlichen Politik. Herr Hirtsiefer möchte der fortschreitenden Ab­wanderung ländlicher Boltsteile in die Stadt Einhalt tun, und diesen gewiß sehr löblichen Vorsaz glaubt er auf die Weise ausführen zu fönnen, daß er mit Hilfe der in den Städten aufgebrachten Steuergelder Wohnungen auf dem Lande baut. Als ob man die Landbevölkerung dadurch an die Scholle binden könnte, daß man den überzähligen Bauern­und Kätnerskindern schöne Wohnhäuser errichtet!

ja fogar gefordert. Gerade eben hat der Verband der Leider wird diese Politif von weiten Kreisen gebilligt, preußischen Provinzen", d. i. eine Vereinigung der Landes­direktoren, dem Minister eine Entschließung übersandt, in der verlangt wird, daß noch mehr als bisher bei der Ber­teilung der Hauszinssteuermittel der ländliche Wohnungs­bedarf bevorzugt wird. Bei der Neuregelung, heißt es da, soll in erster Linie ,, der Gesichtspunkt der wirtschaftlich rich­foll in erster Linie der Gesichtspunkt der wirtschaftlich rich­tigen Verteilung der Bevölkerung" maßgebend sein. Was das bedeutet, sagt der nächste Satz: Ein Anwachsen der Großstädte ist nach Möglichkeit zu vermeiden." Also wieder die falsche Ueberlegung, daß man durch Wohnungsbau die Berteilung der Bevölkerung regeln könnte, wäh­rend doch jeder volkswirtschaftlich Geschulte und zu ihnen möchten wir einstweilen auch die Landesdirektoren rechnen Rentner und der reichen Nichtstuer zutrifft. Das arbeitende -wissen muß, daß dies höchstens auf die kleine Gruppe der Bolk, also die Masse, auf die es hier allein antommt, muß dort wohnen, wo sich Räder drehen und Hämmer schlagen, wo Erz, Kohle, Kali gefördert werden, mit einem Wort, wo die neudeutsche Industriewirtschaft dem wachsenden Bolk Arbeitsgelegenheit und Brot gibt.

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Seit mindestens sechs Jahrzehnten beträgt die Einwohnerzahl der ländlichen Gemeinden( d. i. der Gemeinden mit weniger als 2000 Einwohnern) unverändert 26 Millionen, und der ganze große Bevölkerungszuwachs dieser Zeit ist ausschließlich den Städten zugeflossen, deren Bewohnerzahl sich infolgedessen seit 1870 von 14 Millionen auf 40 Millionen vermehrt hat. Warum? Weshalb ziehen unaufhörlich neue Menschen in die Städte, in denen sie nach Ansicht der Herren Landesdirektoren doch nur schlimmste Verelendung und politische Radikalisierung erwartet? Weil die ländlichen Gebiete für die wachsende Boltszahl teine Verwendung haben und diese daher an Handel und Gewerbe, Bergbau und Industrie ab­geben müssen, die nun einmal ihren Siz fast ausschließlich in oder bei den Städten haben. Und da kommen nun im Jahre 1927 die repräsentativen Bertreter der provinziellen Selbstverwaltung mit der grandiosen Entdeckung, daß die Hauszinssteuer an der zunehmenden Stadtbildung schuld sei. Die bisherige Verteilung der für die Förderung der Neubau­tätigkeit bestimmten Steuermittel begünstigt das weitere An­wachsen der Großstädte in einem vom wirtschaftlichen und bevölkerungspolitischen Standpunkt nicht gerechtfertigten Umfang" Man möchte lachen über solche Weisheit, wenn die Sache nicht so bitter ernst wäre Es ist nämlich leider damit zu rechnen, daß diese abwegigen Anschauungen bei zahlreichen Mitgliedern des Preußischen Landtages ein williges Echo finden.

In Berlin sind zurzeit etwa 90 000 Familien ohne eigene Wohnung! Kann ein vernünftiger Mensch glauben, daß bei diefer Sachlage jemand nach Berlin zieht, in der Erwartung, hier die Wohnung zu finden. die er in Pose­mudel oder Zizewitz vergeblich gesucht hat. Wenn trotzdem im vergangenen Jahre fast doppelt soviel Familien nach Berlin gezogen, als neue Wohnungen mit Hilfe der Hauszinssteuer und mit städtischen Zuschüssen erbaut werden konnten, so beweist das wohl zur Genüge, daß es andere Kräfte sein müssen, die den unaufhörlichen Zustrom in die Großstadt nicht nur nach Berlin - bewirken.