Nr. 292 ♦ 44. Jahrgang
1. Heilage ües vorwärts
Vonnerstag, 2Z. Fun! 1927
Ireifpruch im Kasseler Straßenbahnprozeß. Und wie steht es mit den Dienstvorschriften?
Kassel , 22. 3unl(IDIB.) Die in dem Slrastenbahnprozeß wegen des bekannien Unglücks vom 18. Mal Angeklaglen. der Schass- ner henlrich und der Führer Gerlach, wurden heule sreige- sprachen. 3n der Begründung des Urteils führte der vorsilzende unter anderem aus: Das Gericht nimmt als seslslehend an, dah der Unglückswagen genügend gebremst war und die Bremse auch ausreichend funktionierte. Dem Angeklagten Gerlach ist zugute zu halten, daß er entsprechend seinen Körperkräften die Bremsung vorgenommen hat. Er konnte nicht annehmen, dah in diesem einen Aall die wie sonst vorgenommene Bremsung nicht ausreichend war, nachdem er in jahrelanger Tätig- keil immer in der gleichen weise gebremst Halle. Bezüglich des Angeklagten henlrich war zu prüfen, ob er der Aussichls- Pflicht nicht genügt hatte. Das Gericht nimmt an. dah kein B e r st o h in dieser Beziehung vorlag. Znsolgedessen ist hentrich freizusprechen. » Gerlach und hentrich sind freigesprochen! Der Staats- a n w n l t freilich kam in seinem Plädoyer zu dem Schluß, daß beide Angeklagte überführt seien, durch Fahrlässigkeit den Tod von neun Menschen und Verletzungen von 23 Menschen ver- ursacht und einen Eisenbahntransport gefährdet zu haben. Den Schaffner hentrich treffe die größere Schuld Gegen ihn beantrage er sieben Monate Gefängnis, gegen den Führer Gerlach fünf Monate Gefängnis. Beiden könne Strafaussetzung ohne Buße gewährt werden. Das Gericht hat anders erkannt. Es hat zugegeben, daß von einem besonderen Verschulden der Straßenbahnangestellten nicht die Rede sein kann. Sie versahen ihren Dienst in derselben Weis« wie sonst. Das Unglück konnte, wie unser Kasseler Varteiblatt schon am Dienstag an Hand der Zeugenaussagen fest- stellte, nur geschehen, weil die Wagen gegen das Abrollen auf ab- fchllsfigem Gelände nicht so gesichert sind, wie man das unter allen Umständen v e r l a n g e'n m ü ß t e. Es ist festgestellt, daß die fest angezogenen Bremsen sich beim Besetzen des Wagens lockern und daß der Wagen dann abrollt. Dieses Abrollen erfolgt so geräuschlos, daß zwei Gerichtsbeamte, die beim
Lokaltermin an der Stelle standen, an der Schaffner hentrich noch seiner Angabe gestanden hat, das Verschwinden des Wagens erst merkten, als dieser bereits mindestens 15 Meter fortge- rollt war. Run aber kommt das Tollste! Bon besonderer Wichtigkeit war die Feststellung, daß durch das Einschalten der Strombremse das Unglück hätte verhütet werden können. Zwar rollte der Wagen auch mit der eingeschalteten Strombremse von seinem Standort ab, aber nach kurzer Zeit verlangsamte sich die Fahrt durch die Wirkung der Brems« so, daß der Wagen nur eine Stundengeschwin- digkeit von drei Kilometern hatte. Dabei hätte nichts passieren können, und die hinterherlausenden Angestellten hätten den Wagen bald erreicht. Aber dos Einschalten der Strombremse war den An- gestellten der Straßenbahn untersagt! Zu alledem stellte sich noch heraus, daß selbst die Direktoren über die Dienstvorschriften für das Fahrpersonal nicht Bescheid wissen. Darüber, wie sich das Personal bei der Beförderung von Gepäck st ückcn verhalten soll, gibt es anscheinend überhaupt kein« Vorschriften. Und von einer besonderen Instruktion, die doch bei dem gefahrvollen Gelände in Kassel unbedingt notwendig wäre, ist bei der Straßenbahn anscheinend keine Rede! Die Aussagen der Zeugen Ohlwein, Sack, Schneider, Wagner, Leim und Schaub und das Gutachten des Sachverständigen Günther haben die beiden, durch das fürchterliche Unglück vom 18. Mai menschlich schon schwer genug betroffenen niederen Ange- stellten der Kasseler Straßenbahn, die in der Angeklagtenbank standen, in keiner Weise belastet! Sie erwiesen vielmehr, daß die Kasseler Richter Recht haben, wenn in der Urteilsbegründung gesagt wird: Bei den Angeklagtsn lag keUn Verstoß gegen die Auf- sichtspflicht vor! War aber das gleiche bei der A u f s i ch t s b e- Hörde der Fall? Die wahren Berantwortlichen sind, daran kann nach dem Auegang des Prozesses kein Zweifel sein, in der D i r e k- tion jer Kasseler Straßenbahn zu suchen. Sie hat v e r s a g t, die Borschristen. die sie getrossen hat, genügten angesichts der besonders schwierigen Kasseler Terrainoerhältnisse in keiner Weise. Und weil bisher nichts passiert war. hatte man eben unbesorgt weitergeschlafen, bis die Katastrophe einge- treten war.
Neugestaltung der Berliner Citp. Im Rahmen der Großen Berliner Kunstausstel- l u n g am Lehrter Bahnhof hat die A r ch i t e k t e n v e r e i n i- gung„Der Ring" eine Anzahl Projekte für die Eitygeftaltunz und aktuelle Entwürfe für Durchbrüche ausgestellt. Sehr oft ist bereits das Problem der Neugestaltung der Berliner City erörtert worden, aber trotz der Hausse an Projekten sieht man kaum einen Weg, der zur Erfüllung führt. Genau so verhält es sich mit den Entwürfen des„Ringes". Peter Behrens und Scharroun beschäftigen sich hauptsächlich mit den Durchbrüchen an der Fran- zösischen bzw. an der Jägerstraße und mit der Freigabe der Ministergärtcn für den Durchgangsverkehr. Im Falle, dah man die Projekte genehmigen würde, so würden sie für den Augenblick ausreichen, aber kaum noch für einen gesteigerten Zukunstsverkehr, wie Martin M ä ch l e r anläßlich einer Führung des City- a u s s ch u s f e s durch die Ausstellung betonte. Untertunnelung der Ministergärten ist nicht empfehlenswert, da bisher keine Unter. tunnelung den Verkehrsnöten radikal geholfen hat, und das andere Projekt schafft zu viel Ecken und Berkehrssallen. Sehr großzügig ist Mächler selbst verfahren. Man kennt seine Vorschläge für einen Berliner Zentralbahnhof, sein Projekt, Berlin im Zuge der Siegesalle« für den Cifenbahnfernverkehr zu untertunneln, und sicherlich würde die Zusammenziehung der Bahnhöf« nicht nur der Erleichterung des Verkehrs dienen, sondern auch Raum für neue Stadtviertel schaffen, aber wer wird diese ungeheuren Kosten auf- bringen können? Das Beispiel, das Mächler anführt, nämlich die Umgestaltung von Paris durch den Präfekten Haußmann ist viel-
leicht bestechend, doch die finanzielle Lage Frankreichs zur Zeit Napoleons III. war besser als die gegenwärtige Deutschlands . Diese Projekt« sind sehr schön, sie klingen wie Zukunftsmusik, aber sie werden wohl vorläufig dazu verdammt sein, nichts wester als Zukunftsmusik zu bleiben. Der fiktenüieb Egloffstein-Gertel. 5l)0 Mark Belohnung! Er ist immer noch nicht ergriffen der 33 Jahre alte frühere Schulrcster Ludwig O e r t e l, bekannter unter dem Namen„Frei- Herr von Eglosfstein-Oertel", der im Zusammenhang mit den Moabiter Artenbeseitigungen schon wiederholt genannt wurde. Die Kriminalpolizei hat den Flüchtigen, eine in der„Lebewelt" Berlins sehr bekannte Persönlichkeit, schon wiederholt ausgespürt, so in seiner Heimatstadt Dresden , in München , Wien , Köln und Frankfurt a. M., aber jedesmal, wenn die Spur gefunden war, war der Gesuchte auch schon wieder verschwunden. In seiner Begleitung befindet sich immer noch die 2S Jahre alte aus Lenders- dorf im Kreis: Düren gebürtige Frau Ann-a Sonnet, geb. Häupgen. Es ist nicht ausgeschlossen, daß sich das Pärchen jetzt in einem näheren oder entfernteren Vorort Berlins aushält und von dort hin und wieder zu ganz kurzem Ausenthalt nach Berlin her- überkommt. Oertel ist, obwohl er weiß, daß man ihn eifrig sucht, ungewöhnlich dreist. So hat er, wie erst nachträglich bekannt wurde, vor einiger Zeit in Berlin bei der Eröffnung eines Lokals in der Friedrichstadt mit mehreren anderen ein großes Zech- gelage veranstaltet, in Frankfurt ein Gelage mit Iockeys und Sportsleuten. Auf feine Ergreifung ist jetzt für Mitteilungen aus dem Publikum eine Belohnung von 500 M. ausgesetzt. Angaben
erbittet Kriminalkommissar Kanthack, Dienststelle!?. 3 nach Zimmer 18 «wi Polizeidienstgebäude in der Georgenkirchstraße 30a. Der Ber- solgte ist 1,70 Meter groß, übermäßig schlank, hat ausfallend schmal« Hand- und Fußgelenke, einen bräunlichen Teint, hagpres Gesicht mit hervorstehenden Backenknochen. * In einem bejammernswerten Zustande erschien gestern Mitt- woch vormittag auf dem 125. Revier in Charlottenburg »in Mann, der klagte, daß er aller Mittel beraubt sei und schon fest zwei Tagen nichts mehr gegessen habe. Man sah ihn sich genauer an und stellte ihn als einen 39 Jahre alten Hilfskassierer vom Arbeitsamt des Magistrats in Essen Kurt Krahne fest, der von der Kriminalpolizei wegen Unterschlagung gesucht wurde. Krahne hatte vor sechs Tagen 3554 M., die er abliefern sollte, in seine eigene Tasche gesteckt und behalten. Mit dem Abend- zuge um 9 Uhr fuhr er nach Berlin , wo er morgens ankam. Gle'�- am ersten Tage fand er Anschluß an lebenslustige Mädchen und besucht« mit ihnen verschiedene Lokale. So kostete dieser Tag schon 1500 M. Nachdem er auf diese Weise„Berlin kennengelernt" hatte, fuhr er mit den„Damen " nach außerhalb. Wohin er kommen ist, weih er selbst nicht mehr, er meint, es könne wohl Potsdam gewesen sein. Man übernachtete in einem Hotel, und als Krahne am nächsten Morgen auswachte, waren die„Damen " verschwunden. Nur ein paar Mark hasten sie ihm noch gelassen. Er fuhr nach Berlin zurück, verzehrte auch den kleinen Rest noch, hungerte darauf zwei Tage lang und suchte endlich Hilfe bei der Polizei. _ Unsichere Nüsiungen. Die Arbeiter zum Unglück in Niederschöneweide . Mit dem schweren Unglück auf der Eisenbahnwerk stelle Niederschöneweide beschäftigte sich gestern eine Belegschafts- Versammlung der am Bau Beschäftigten. Duich Augen- und Ohren- zeugen des bedauerlichen Vorfalls ist festgestellt worden, daß die be- treffenden Maler und Anstreicher auf ausdrückliches Ver- langen ihrer Bauleitung in Stärke von acht Mann auf dieser Rüstung arbeiten mußten, trotzdem nach fachmännischem Ermessen die Rüstung für«ine solche Belastung keinerlei Sicherheit bot. Auch haben sich die Verunglückten nicht wie teilweis« in der bürgerlichen Presse zu lesen stand, vorschristswidrig auf einen Haufen gestellt, fondern sich gleich nach Besteigen der Rüstung(was ja nur einzeln möglich ist) auf ihre Arbeitsplätze ver- teilt. Im übrigen wird- die untersuchende Behörde und die Bau- polizei feststellen müssen, inwieweit mangelhaftes Rüstzeug verwandt wurde oder Fahrlässigkeit nachgewiesen werden kann. Di« be- schästigten Bauarbeiter vertreten die Ansicht, daß zu wenig und zu schwache Hängeeisen verwandt, d. h. der Verlag zu weit war und dementsprechend die tragenden Rüststangen zu schwach waren. Für ein« weitere Sicherung war auch keine Vorsorge getroffen. Ferner forderte die Belegschaftsversammlung für die Zukunft ausreichenden sanitären Schutz. Schassukg e.nes Verbandraumes und vorschriftsmäßig« unt sichere Rüstungen.___ Eiue Ko'onialausstellunq in Nöten. Es ist das alte Lied vom Ruhm des Einen, der den Anderen nicht ruhen läßt. So bleibt es weder bei einem Ozeanflug, noch bei einer Afrikaschau im Zoo. Einige im Kolonialfach bewanderte Herren wollen auf dem Gelände Charlottenburg , Berliner Straße 31/32, am Knie, den Zlufbau einer Art Kolonialaus- st e l l u n g fördern, allwo Chinesen, Inder, Araber usw. dem. Publikum volksiümliche Sitten und Gebräuche in der üblichen Ait solcher Veranstaltungen vorführen. Außerdem soll auch eine Art Uebersee-Panoptikum entstehen. Alles recht schön und gut, bis auf den Umstand, daß die Fertigstellung der Ausstellung auf aller- Hand Schwierigkeiten zu stoßen scheint. Die Bauten liegen im halbfertigen Zustand verödet da, das farbige Darstellelpersonal das angeblich 500 Mann stark sein soll, besteht augenblicklich aus vier bis fünf Chinesen. Die, in europäisches Zivil gekleidet, etwas rat- las umbeichchm. Fast hat es den Anschein, als ob die Behinderung in der Fertigstellung der Ausstellung, deren Eröffnung bereits vor einigen Tagen vor sich gehen sollte, in Mißhelligkeiten finanzieller Natur zu suchen ist Wenn Arbeitspersonal die Arbeit unterbricht, so ist die Ursache wohl nicht allzuschwer zu erraten. Man vermutet, daß es sich wieder einmal um ein Unternehmen handelt, das mit der Ärbeiterschaft Fremdstämmiger Schindluder treibt und in Sorglosig- keit„Lufrgeschäfte" abschließt.
Die Drücke im Dschungel. Sitten- und Stimmungsbild aus dem Innern Mexikos. 33s Don D. Traven. copzTlztil 1927, by B. Traven, Tamaulipas (Mexiko ). Der Sarg wird hingestellt. Der Sargmacher zieht die Nägel heraus und hebt den Deckel ab, damit die Mutter Abschied nehmen kann. Man sieht die grellbunten Papierröcke, die goldene Krone, das Szepter und die goldenen und silbernen Sterne und Kreuze. Aber das Gesicht kann irgend etwas sein, nur kein Gesicht. Mit einem Schrei wirft sich die Garza über den Sarg, den sie fest umklammert. Ihr Schrei geht in Wimmern über. Garza kommt stolpernd heran. Er muß sich fest auf die Männer, die dicht dabei stehen, stützen, damit er nicht umfällt, denn die zweite Tequilaflasche ist inzwischen auch nahe zur Neige gegangen, und es sind gerade noch ein paar Trost- tropfen für ihn und seine Frau drin. Aber es ist sein gutes Recht, hier dicht an dem offenen Sarge zu stehen, denn er ist der Vater. Er will etwas sagen, vielleicht will er auch nur einen Schmerzensschrei ausstoßen, aber er quiekst nur und wischt sich mit der Hand die Tränen von den Backen. So be- trunken ist er lange nicht, daß er nicht wissen sollte, was da von ihm genommen wird, daß sein Nesthäkchen nun für immer abgewandert ist. Die Pumpmeisterin und zwei andere Frauen, die alle laut schluchzen und schreien, als wäre es ihr Kind, heben die Garza auf. Sobald der Sarg auch nur ein wenig frei ist, zieht ihn der Sargmacher auch schon unter der noch halb niederge- beugten Garza hervor. Ein anderer Mann hat schon den Deckel bereit und im Augenblick ist der Sarg zugenagelt. Diesmal für immer. Dann' trägt man ihn dicht an das Loch. 24. Und nun drehen sich alle Leute um und warten auf den Lehrer. Der Lehrer ist noch draußen vor der Friedhofs- pforte. Er weigert sich, den Friedhof zu betreten, well er genug Verstand behalten hat, um ganz genau zu wissen, was mit ihm los ist, und daß er, der weinenden Mutter wegen,
nicht unter die Trauergemeinde treten kann und auch nicht mag. Aber jener Freund der Garzas , der ihn eingeladen hat» zerrt ihn jetzt durch die Pforte und ruft noch einen anderen Mann herbei, um den Lehrer zum Grabe zu schleifen. Endlich steht er am Grabe und alle Leute sehen ihn. Er schwankt bedenklich. Und mit einem Male geht er wieder fort vom Grabe und versucht, sich davonzuschleichen. Der Freund hat das trotz seiner Trunkenheit bemerkt und schreit wie besessen hinter ihm her. Es fängt an, ein lautes Be- gräbnis zu werden. Der Freund kann sich nicht beruhigen und schreit, es sei eine Schande, erst die Rede zu versprechen und dann nicht zu halten. Andere Männer reden auf den Wütenden ein, den Lehrer doch zu entschuldigen, aber das macht den Mann nur noch wütender. Er beginnt den Lehrer maßlos zu beschimpfen. Um den Mann zu beruhigen und den Streit, den andere Halbbetrunkene aufnehmen, zu be- endigen, wirken die Leute auf den Lehrer ein, doch zu reden. Aber der Lehrer lallt nur. Und während er sich umwendet, um die Leute abzuwehren und seiner Wege zu gehen, sieht er die weinende Mutter, die weder bittend noch abweisend die Augen auf ihn gerichtet hält. Was die Mutter denken mag angesichts dieser Streiterei und der Unwilligkeit des Lehrers, ist aus ihrem Blick nicht zu erkennen. Aber es scheint, daß der Lehrer in seinem Nebelzustande etwas darin sieht, was wir anderen nicht zu sehen vermögen. Jedenfalls geht er plötzlich wieder auf das Grab zu. Er steht am Rande der Grube und schwankt verdächtig hin und her. Mit beiden Armen gestikuliert er nun heftig in der Luft herum und öffnet den Mund. Da er in der einen Hand noch immer den abgeschnittenen Zweig hält, so sieht es ans, als ob er mit jemand kämpfen wolle. Seine Augen werden ganz stier und gläsern. Es spiegelt sich in seinem Blicke wider, daß alle die Gesichter, die auf ihn jetzt gerichtet sind, zu einer Einheit verschmelzen, die für ihn etwas Un- heimliches haben muß: denn seine Gesichtszüge beginnen, sich in Angst zu verzerren. Ich habe ihn einmal am Unabhängigkeitstage reden hören, und ich weiß, daß er für Verhältnisse dieser Art als guter Redner gelten kann und daß er auch keine Redefurcht hat. Warum er die gräßliche Angst zeigt, ist mir unverständ- lich. Er fuchtelt jedoch immer heftiger mit den Armen durch die Luft, macht den Mund weit auf und klappt ihn wieder zu. Man könnte leicht annehmen, daß er glaubt, er rede bereits.
Plötzlich aber schreit er ganz unvermittelt los:„Wir sind alle sehr traurig!" Er schreit das so gewaltig hinaus, als ob er zu fünf- tausend Menschen zu sprechen hätte, die auf weiter Ebene ver- sammelt sind und ihn alle hören sollen. Dann brüllt er los, als ob er nun zu zwanzigtausend Leuten reden müßte:„Der kleine Junge ist tot!" Das alles war aber noch gar nichts, denn jetzt hebt ein Brüllen an, als ob der Himmel auseinandergerissen werden solle:„Auch die Mutter des kleinen Jungen ist sehr traurig. Sie weint." „Auch die Mutter ist sehr traurig. Jawohl, das ist siel" sagt er mit diesem Brüllen, und dabei haut er mit dem Zweig so heftig durch die Luft, als ob er den, der etwa bezweifeln sollte, daß die Mutter auch sehr traurig sei, mit einem Hieb der Länge nach durchspalten wolle. Dieser Hieb war gut gemeint, und er war auch ehrlich gemeint, und vielleicht war er ein Trost für die Mutter, die sehr traurig ist. Aber der gutgemeinte Hieb war mehr als das Gleichgewicht des Redners in diesem Augenblicke ver- tragen konnte. Er sauste über und sauste in das Grab hinein. Er kam aber nicht ganz bis auf den Boden des Grabes. Ueber dem offenen Grabe lagen zwei Baumstämme, aus denen der Sarg eigentlich stehen sollte, zum großen Glück des Redners noch nicht hingestellt worden war, weil man durch das Streiten diese Handlung vergessen hatte. Einen dieser Baumstämme hatte der Lehrer im Fallen gerade noch er- wischt, und nun hing er, beide Arme vor sich hingestreckt, ebenso kläglich wie hilflos auf dem Stamm. Mit den Beinen angelte er nun seitlich aufwärts, um den Rand zu erklimmen und dann hochzuklettern. Aber seine Anstrengungen waren vergeblich und hätte man ihm nicht brüderlich beigestanden, so wäre er in das Grab hinabgesunken, von wo, wäre er allein gewesen, er heute auf keinen Fall sich selbst wieder hätte herauskrabbeln können. Trotzdem diese Entgleisung des Redners recht lustig war, sah ich doch nicht einen einzigen unter allen, die anwesend waren, lachen. Und ich selbst, dem das Lachen für gewöhnlich verhängnisvoll nahe steht, fand auch nicht eine Spur von Komik in dem Vorgang. Damals auf keinen Fall, ich er- innere mich ebenso genau, daß mir in jenem Augenblick ein Weinkrampf näher war, als das bescheidenste Lächeln. (Schluß folgt.)