Abendausgabe
Nr. 335 44. Jahrgang
10 Pfennig
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Ausgabe B Nr. 165
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Volksblaff
18. Juli 1927
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Zentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands
Lindenstraße 3
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Der Bundeskanzler Seipel macht keine Zugeständnisse und fordert Beendigung des Verkehrsstreiks.
r. bn. Wien , 18. Juli. ( Eigener Drahtbericht.) Die Führer der Sozialdemokratie und der freien Gewerkschaften verhandeln im Augenblid mit Bundeskanzler Seipel über die Frage der Beendigung des Verkehrsstreits. Der gestrige Be. schluß sagt, daß der Berkehrsstreit fortgesetzt werden soll, bis die Arbeiterschaft Sicherheiten habe, daß die durch die katastrophe geschaffene Situation nicht für reaktionäre Schritte ausgenutzt wird. Zu diesen Befürchtungen gibt es Anlaß genug; man hat die sozialdemokratischen Soldaten, die 90 Pro3. der Wehrmacht bilden, in den Kasernen nicht nur zurückgehalten, wogegen an fich nichts einzuwenden wäre, sondern man macht der Soldatengewertschaft die Berbindung mit den Soldaten unmöglich.
Inzwischen sind mehrere Attaden auf die Arbeiterbewegung erfolgt. So haben in Tirol die Heimwehren mit Unterstützung der chriftlich- sozialen Landesregierung eine Terrorherrschaft aufgerichtet und die Wiederaufnahme des Berkehrs erzwungen. In Graz haben die Heimwehren ein Ultimatum bis heute mittag gestellt:„ Entweder Aufhebung des Berfehrsstreits oder wir marschieren." In anderen Orten sind Berhandlangen der Heimwehren mit der Gendarmerie, die zum größten Teil freigewerkschaftlich organisiert ist, angeregt worden. In Waidhofen an der Ybbs in Niederösterreich haben die Arbeiter die Heimwehren entwaffnet und 600 Gewehre dieser reaktionären Truppe, dieses österreichischen Stahlhelms, der Polizei übergeben.
Seipel fordert Beendigung des Verkehrsstreits als Borbedingung eines Zusammentritts des Nationalrates. Er erklärt, daß über eine politische Neuordnung nur der Nationalrat entscheiden fönne. Es besteht kein Zweifel, daß der Bundeskanzler von gewissen Freunden beraten wird, die tatsächlich die furchtbare Kataftrophe zu einer Zurückwerfung der Arbeiterbewegung ausnuten wollen.
Die Gesamtzahl der Todesopfer in Wien ist auf 87 gestiegen.
Tirol sucht den Verkehrsstreik zu brechen.
Militär und Heimatwehr besetzen die Bahnen.
Technische Nothilfe eingesetzt.
Jnnsbrud, 18. Juli. ( WIB.) Die Tiroler Candesregierung hat heute zwifchen 2 und 4 Uhr morgens fämtliche Bahnhöfe in ganz Tirol durch Militär, Gendarmerie und die als Notpolizei legalisierte Heimatwehr befehen laffen. Ueberall find die von den Eisenbahnern eingesetzten Streitleitungen und die sozialdemokratischen Ordnungsmannschaften der Eisenbahner, die mit roten Armbinden versehen, die Bahnhöfe abgesperrt hielten, ohne Widerstand zu leiffen, abgezogen. Auch fämtliche Eisenbahner haben die Bahnhöfe und andere Bahnobjekte verlassen. Es ist nirgends zu einer Gewaltanwendung. gekommen. Im Laufe des Tages wird durch eine Technische Nothilfe und durch arbeitswillige Eisenbahner ein Notverkehr eingerichtet werden. tant
Die Tiroler Neaktion am Werke. Innsbrud, 18. Juli. ( WTB.) Die Bundesbahndirektion Inns brud hat an die Eisenbahnangestellten einen Dienst befehl erlassen, in welchem diese aufgefordert werden, den Dienst so fort ordnungsmäßig wieder aufzunehmen. Jede Dienstverweigerung würde für den Betreffenden von schweren Folgen begleitet sein. Der Zugverkehr wird nach Maßgabe des Möglichen in vollem Umfange(!!) aufgenommen.
Wie die Blätter melden, ist die Mittenwaldbahn vor= läufig ohne elektrischen Strom; man vermutet einen Sabotageakt. Auch wurde heute früh knapp vor dem Einmarsch der Besagung auf dem Bahnhof in Innsbruck der Telegraphe n- apparat unbrauchbar gemacht. Die Täter sind den Be hörden bekannt und werden bestraft werden.
Innsbrud, 18. Juli .( WTB.) Die Innsbrucker Heimatwehr hat dem Rufe des Tiroler Landeshauptmanns äußerst zahlreich Folge geleistet. Heute früh fand ihre feierliche Angelobung durch den Heimatwehrführer Dr. Steidle und den Landeshauptmann Dr. Stumpf statt. Sie versieht nunmehr den Ordnungs- und Sicherheitsdienst und ihren Mitgliedern stehen im Dienst die Rechte von Zivilwachtleuten zu. Auch außerhalb von Innsbruck hat die Heimatwehr überall den Ordnungsdienst übernommen.
Die Besetzung des Bahnhofs von Innsbruck vollzog sich heute nacht nach Blättermeldungen folgendermaßen: Um 2,15 Uhr marschierten auf dem Bahnhofsplay Alpenjäger mit Maschinengewehren, Gebirgsartillerie und eine Kompagnie Heimatwehr auf. Der Bahnhof wurde umstellt und unter dem Schutz des Militärs rückten ungefähr 100 Gendarmen auf dem Bahnhof ein. Die Streifleitung sowie die Mitglieder des Republikani schen Schutzbundes, die den Bahnhof bisher befezt gehalten hatten, zo gen widerstands los ab. In ähnlicher Weise voll30g fich auch die Besetzung aller übrigen Bahnhöfe des Landes
pollfommen reibungslos. Bereits in den ersten Vor-| Wehrmacht habe sehr viel zur Beruhigung der Bevölke= mittagsstunden konnten mit Hilfe der Technischen Nothilfe Personenzüge abgelassen werden.
Bregenz, 18. Juli .( TU.) Die Landesregierung von Vorarlberg hat einen Aufruf an die Bevölkerung erlassen, in dem sie erklärt, alle Vorkehrungen getroffen zu haben, um im ganzen Lande den Personenverkehr nötigenfalls mittels Kraftwagen aufrecht zu erhalten. Von der Bevölkerung erwartet die Regierung, daß sie sich durch nichts und durch niemanden abbringen lassen werde, ruhig ihrer Tätigkeit nachzugehen, und daß sie nichts dulden werde, das der Heimat und dem Volte Schaden bringen fönnte. Der Telephon- und Telegraphenverkehr zwischen Vorarlberg und Wien ist auch heute vormittag noch unterbrochen, auch der Radiodienst funktioniert noch nicht. Telephonvertehr von Bregenz aus ist nach wie vor nur bis Innsbrud möglich. Der von der Landesregierung aufgebotene Heimatdienst sorgt für die Aufrechterhaltung der Ordnung sowie dafür, daß die Lebensmittelzüge verkehren können und der Autoverkehr im In- und mit dem Auslande durchgeführt werden kann. Die Post= anstalten arbeiten zum größten Teil, nur die Angehörigen der sozialdemokratischen Gewerkschaften haben in einigen Aemtern die Arbeit niedergelegt. Die Fabriken sind in Betrieb, nur die Bauarbeiter streifen noch. Die Zahl der Arbeitswilligen, die von Polizei und Gendarmerie geschützt werden, nimmt ständig zu. In Bregenz selbst ist alles ruhig, der Hafen wird polizeilich überwacht. Die deutschen Schiffe der Bodensee- Schiffahrt legen hier an, während die österreichischen noch nicht verfehren.
Seipel lobt das Bundesheer.
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Es hat allen Anforderungen entsprochen. Keine Interventionsdrohungen.
Wien, 18. Juli .( WTB.) Zu im Auslande verbreiteten Nachrichten über drohende Interventionen von Nachbarstaaten im Zusammenhang mit dem Verkehrsstreit wird von amtlicher Stelle mitgeteilt, daß die Züge vom. Brenner nach Deutschland als Transitzüge mit Lebensmitteln durchgeführt werden, und daß Meldungen über Interventionen oder auch nur über Androhungen von Interventionen nicht den Tatsachen entsprechen. Richtig ist lediglich, daß die diplomatischen Missionen sich von Zeit zu Zeit nach dem Stand der Dinge erfundigt haben.
Zu anderen Gerüchten über die Haltung des Bundesheeres, so zu einer Nachricht, daß Teile des Bundesheeres den Gehorsam verweigert hätten, wird aus derfelben Quelle mitgeteilt, daß das Militär allen Anforderungen entsprochen habe und alle anderen Mitteilungen falsch seien. Die
Berggießhübel aufs neue durch Wolkenbruch zerstört.
Dresden, 18. Juli .( WTB.) Gestern abend um 6 Uhr 30 ist über Berggieß hübel ein neues heftiges Gewitter mit woltenbruchartigen Regenschauern niedergegangen. Innerhalb weniger Minuten stieg die Gottleuba wieder von 55 Zentimeter auf 1,30 Meter. Die gesamte innere Stadt ist
wieder überschwemmt, die Notstege und Notbauten wurden zum Teil weggerissen.
Die Erregung der Bevölkerung ist aufs äußerste gestiegen. Gegenwärtig ist das Waffer im langsamen Sinken begriffen. Die Entmutigung der Bevölkerung ist so groß, daß man nur zögernd an die Wiederaufbauarbeiten herangeht.
Gegenüber anderslautenden Nachrichten muß festgestellt werden, daß die Gefahr einer Epidemie nirgends besteht, vielmehr sind alle Vorsichtsmaßregeln derart getroffen worden, daß mit Sicherheit angenommen werden kann, daß epidemische Erkrankungen nicht auftreten werden. Einzelne Angehörige des sogenannten Chlorfommandos find an Vergiftungserscheinungen erkrankt. Eine Anzahl von ihnen befindet sich in Dresdener Krankenhäusern. Ein Todesfall ist gegenüber anderslautenden Meldungen nicht zu verzeichnen.
Wolkenbruch auch über Liebstadt. Dresden, 18. Juli .( TU.) Auch über Liebstadt ging am Sonntag abend ein starkes Gewitter mit wolfenbruchartigem Regen nieder. Die Wassermassen überfluteten vielfach die Straßen und drangen in zahlreiche Wohnungen ein. Erheblicher Schaden ist diesmal nicht entstanden, da die Bewohner der gefährdeten Häuser sofort bei Ausbruch des Unwetters vor allem das Bich und die Wohnungseintichtungen in Sicherheit gebracht hatten.
rung beigetragen, so daß sie mit feinem Schuß einzugreifen brauchte. Wenn einige Militärangehörige auf der Liste der Opfer ständen, so handele es sich hier um zufällige Verwundungen außerhalb des Dienstes.
Solidaritätskundgebung des Parteivorstandes.
Der Parteivorstand hat an die Sozialdemokratische Arbeiter partei Desterreichs folgende Kundgebung gerichtet:
Der Parteivorstand der deutschen Sozialdemokratie bittet euch, den Angehörigen der Opfer der Wiener Demonstrationen den Ausdruck seines herzlichsten Beileids zu übermitteln. Im Kampfe gegen Klassenjustiz fühlen wir uns mit euch solidarisch. Wir sind überzeugt, daß unsere prächtige Wiener Bruderorganisation auch aus diesen schweren Kämpfen im Interesse der Erhaltung der Re publik schließlich gestärkt hervorgehen wird.
Müller. Wels. Crispie n.
Ein Aufruf Seipels.
Darstellung der Vorgänge durch die Regierung. Die Kundmachung" der Regierung Seipel vom Sonnabend morgen, gegen die Otto Bauer in der gestrigen Funktionärversammlung auf das schärfste polemisierte, hat folgenden Wortlaut:
In den Morgenstunden des gestrigen Tages wurden in Wien Straßenbahn und Telephon vorübergehend stilgelegt, in zahlreichen Betrieben die Arbeit eingestellt und Züge der Arbeiterschaft stadtwärts in der Richtung zum Parlament unternommen.
Gegenüber anderslautenden Behauptungen wird festgestellt, daß diese Züge sofort gegen die Sicherheitswache eine feindselige Haltung eingenommen, diese mit Steinen beworfen, ja jogar beschossen haben, so daß schließlich auch die Sicherheitswache, die bereits Verwundete hatte, zu ihrem persönlichen Schuße vom Säbel und von der Handfeuerwaffe Gebrauch machen mußte. Die rasch anwachsende Menge versuchte zunächst, in die Universität und in das Parlament einzudringen, doch gelang es der Sicherheits wache, die Menge von diesem gewalttätigen Vorhaben erfolgreich abzuwehren. Die Demonstranten stürmten hierauf ein Wach. immer in der Nähe des Parlaments, sezten es in Brand und drangen schließlich bis zum Justizpalast vor.
Die vor dem Justizpalast aufgestellte Sicherheitswache fonnte die gegen das Gebäude vorgehende Menge längere Zeit abwehren. Schließlich, aber stiegen einzelne Demonstranten mit Hilfe von Leitern, die sie von in der Nähe befindlichen Gerüsten wegnahmen und an das Gebäude anlegten, in den Justizpalast ein und
legten mit mitgebrachtem Bensin Feuer.
Aftenbündel sowie Bureaueinrichtungsgegenstände wurden auf die Straße geworfen und dort gleichfalls in Brand gesteckt. Da die Feuerwehr am Zufahren verhindert wurde, ist der ganze Justizpalast mit seinem gesamten Attenbestande, das ganze Archiv, die reichhaltige Bibliothet und das Grundbuch und die niederösterreichische Landtafel dem Brande zum Opfer gefallen. Um endlich die Löschaktion zu ermöglichen und die Demonftranten, welche sich auf dem Plaze mit Hilfe von Schneepflügen, die sie aus dem Depot der Gemeinde Wien entnommen hatten, verbaritadiert hatten, zu vertreiben, mußten einige Sitherheitswacheabteilungen mit Gewehren ausgerüstet und zur Säuberung des Blazes beordert werden. Diese Sicherheitswacheabteilungen fonnten sich den Weg, auf dem sie wiederholt beschossen und mit Steinen beworfen wurden, nur mühsam erkämpfen, doch ist es ihnen in den ersten Nachmittagsstunden gelungen,
den Schmerlingplatz unter Salvenfeuer zu räumen, worauf endlich mit der Löschaktion begonnen werden konnte. Zugleich wurde auch das ausgebrannte Wachzimmer wieder besetzt. Während dieser Vorgänge sind Demonstranten auch gegen die Reichspost" vorgedrungen, haben die dort postierte Sicherheitswache zurückgedrängt, auch in den Räumen der Reichspost" Feuer gelegt und eine Wohnung ausgeplündert. Gleichfalls wurde in den Räumen der Wiener Neuesten Nachrichten" der Versuch unternommen, Brand zu stiften, doch konnte dieses verbrecherische Unternehmen von der Sicherheitswache verhindert werden. Nach der Säuberung des Schmerlingplatzes haben starke Patrouillen der Sicherheitswache auch die Ringstraße und ihre Umgebung geräumt und feinerlei Ansammlungen mehr geduldet. In ähnlicher Weise wurde auch in den Bezirken vorgegangen und gegen Zusammenrottungen eingeschritten.
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In den späten Abendstunden versuchten Demonstranten, ein Wachzimmer im 10. Bezirk zu stürmen, wurden jedoch abgewehrt. Der zur Unterstützung der bedrängten Mannschaft entsendete Sukkurs an Sicherheitswache wurde auf dem Favoritenplage vom Südbahnviadukt aus mit Gewehren beschossen, wobei zwei Sicherheitswachebeamte durch Herzschüsse getötet wurden. Auch im 17. Bezirk wurde eine Sicherheitswachstube von der Menge gestürmt und in Brand gesetzt. Die zur Hilfe entfendete Sicherheitsmache-abteilung fonnte ihre eingeschlossenen Kameraden befreien, die Täter