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Abendausgabe

Nr. 349 44. Jahrgang Ausgabe B Nr. 172

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16ne

10 Pfennig

Dienstag

Vorwärts=

Berliner Volksblaff

26. Juli 1927

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Zentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands

Seipel vor dem Nationalrat.

Aussprache über die Wiener

C

Wiener Vorgänge. Angriff auf Bürgermeister Seitz.

Wien , den 26. Juli. ( TU.) Der österreichische Nationalrat begann heute die Aussprache über die Wiener Vorgänge mit einer dreiviertelstündigen Rede des Bundeskanzlers. Seipel erklärte, daß fein Land und feine Regie­rung jemals so unschuldig in eine Revolte hineingestoßen worden sei, wie Desterreich, wo zwischen den Parteien fin ernst hafter Konflikt geschwebt hat. Die Polemiken zu dem Schattendorfer Prozeß hatten schon allein genügt, die Leidenschaften aufzupeitschen. Unglaublich sei es aber, daß, nachdem eine Anzahl Geschworene als befangen abgelehnt worden waren, die anderen Ge­schworenen bedroht wurden. Merkwürdige Freisprüche von Ge­schworenen seien auch von der Regierung beobachtet worden. Eine parlamentarische Intervention in der Frage der Schwurgerichte sei dann zu verstehen gewesen, aber nicht eine wilde Revolte.

Fest stehe, daß zuerst die Polizei angegriffen wor­den sei, die erſten Verwundeten auf den Rettungsstationen seien

nur Polizisten gewesen. Wenn der Landeshauptmann die

Bitte des Polizeipräsidenten Schober um sofortigen militärischen Einsatz erfüllt hätte, wäre viel weniger Blut gefloffen. Der Polizei­präsident sei durch die Ablehnung der Bitte zur Ausrüstung der Polizei mit Gewehren geradezu gezwungen worden. Auf eigene Verantwortung habe dann der Polizeipräsident noch Militär herangezogen. Dieses habe nur beruhigend gewirkt. Das Militär hätte von vornherein nicht schießen brauchen, fein Erscheinen hätte. schon die unruhigen Massen vorsichtiger ge­stimmt. 3u spät habe Bürgermeister Dr. Seit seine Bersäum nisse eingesehen.

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Um feinen Fehler gut zu machen, habe der Bürgermeister die Gemeindeschuhwa che eingeführt. Er, der Bundeskanzler, mache ihm teinen Vorwurf daraus, daß er ohne Befragung der verfassungsmäßigen gefeßgebenden Körperschaften vorgegangen sei, was er ihm aber zum Vorwurf mache, sei, daß Dr. Seitz sein gegebenes Wort nicht einhalte, wonach die Wache nur für die Tage der Gefahr eingerichtet werden solle. Es würde nicht dem Frieden dienen, wenn aus der Schuhwache eine ständige Einrichtung werden sollte, da die Wache in Wien und in den Ländern als ständige Bedrohung der Ruhe angesehen werde.

Das größte Unglück aber sei, daß jetzt, da alle anderen Kräfte Das größte Unglück aber sei, daß jetzt, da alle anderen Kräfte um die Wiederherstellung von Ruhe und Frieden bemüht feien, ſo unerhörte Angriffe gegen die Polizei gerichtet wurden, die unter Todesopfern ihre Pflicht getan haben.

Als der Kanzler noch einmal die Pflichttreue der Polizei bekräftigte, erhob sich bei gleichzeitigem Beifall rechts und in der

Mitte

starter Lärm bei den Sozialdemokraten, wodurch der Kanzler einige Minuten am Weitersprechen gehindert wurde. Nach Wiedereintritt der Ruhe sprach der Kanzler der Polizei und den Angehörigen der Wehrmacht für ihre Pflichterfül lung seinen Dank aus. Zu dem Verkehrsstreit übergehend erklärte der Kanzler, daß dieser Streif ihm so vorkomme, als ob während einer Wirtshausrauferei auch noch das Licht ausgelöscht werde.(?!) Ohne die Unterbrechung der Telephon­verbindung zwischen der Polizeidirektion und den einzelnen Polizei­wachers würde es in Wien weniger Opfer gegeben haben.

In ihrer Begründung für den Abbruch des Generalstreifs hätten die Sozialdemokraten nachher selbst zugegeben, daß es not­wendig gewesen sei, gegen falsche Nachrichten im Auslande vor­zugehen und das Parlament rechtzeitig zusammenzurufen. Indem sie aber drei Tage lang die falschen Nachrichten unwiderlegt gelassen häften, hätten sie den österreichischen Staat vor dem Ausiande ent­waffnet. Dadurch, daß der Zusammentritt des Parlamenis zunächst

Hörsings Rücktritt genehmigt.

Noch kein Nachfolger bestimmt.

Wie uns bei Redaktionsschluß mitgeteilt wird, hat das preußische Staatsministerium in seiner heutigen Sihung den Ober­präsidenten der Provinz Sachsen , Otto Hörsing , in Ueberein­stimmung mit dessen Antrag, in den einstweiligen Ruhe. st and versetzt.

Ueber die Person des Nachfolgers, wegen der mit dem Provinzialausschuß in Verbindung getreten werden soll, wurde ein Beschluß noch nicht gefaßt.

Faschistische Reformarbeit. Die Landtagsmehrheit von Steiermark gegen Wien . Wien , 26. Juli. ( Eigener Bericht.) Im Landtag von Steiermark fam es am Montag zu scharfen Auseinandersetzungen zwischen den Bertretern der bürger­lichen Parteien und denen der Sozialdemokratie über die Wiener Vorgänge. Die Mehrheit nahm schließlich einen Antrag an, der an die Bundesregierung folgende Forderungen stellt: Einschrän= fung der Pressefreiheit, Wiedereinführung der Todes= strafe, Reform des Schwurgerichts, Schutz der öffentlichen Ver­Pehrsmittel und lebenswichtigen Betriebe vor einer Stillegung durch

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zweifelhaft erschienen sei, sei die Revolte nur durch einen schmalen Schritt von der Revolution geschieden gewesen.

Die Bewegung sei nicht von draußen in das Land ge­tragen worden. Bielmehr sei die Schädigung der Republik ihr durch ihre eigenen Kinder zugefügt worden. Allerdings habe eine internationale Partei sich der Sache bemächtigt, indem sie den Justizpalast anzündete und für Fortdauer der Bewegung bis zum Sturz der Regierung und womöglich bis zur Aenderung der Verfassung zu sorgen getrachtet habe. Auch ausländische Agenten dieser Partei seien in Wien tätig gewesen.

Der Bundeskanzler erklärte weiter, daß

feinerlei Drohungen einer ausländischen Regierung nach Wien gerichtet worden seien. Der Kanzler appellierte dann an

führen, daß die Wiederholung der Wiener Vorfälle unmög=

das Haus, die Aussprache lediglich von dem Gesichtspunkte auszu ich gemacht werde. Einen Teil der Schuld trage auch das Parlament oder vielmehr diejenigen im Parlament, die die Meinung hätten aufkommen laffen, als ob sie die Demokratie nicht ftüzen wollten. Die Sozialdemokraten forderte der Kanzler auf, endlich einmal deutlich einen

scharfen Trennungsstrich zwischen einer demokratischen Oppo­fifion und einer Beschützerin von Revolten zu ziehen.

Zum Schluß erklärte der Kanzler: Verlangen Sie nicht von uns, daß wir Maßnahmen treffen, die für die Wiederholung solcher Bor­gänge und solcher Berbrechen einen Freibrief ausstellen. Wir Ranglers wurde mit lautem anhaltendem Beifall der Regierungs­wollen feft fein, aber wir wollen nicht hart sein. Die Rede des parteien aufgenommen.

Auf der Suche nach dem Rathaus- Schühen.

Wien , 26. Juli.

Ein Zeuge hat angegeben, einen Mann gesehen zu haben, der während der Unruhen von einem Fenster des ersten Stockwerkes des Rathauses auf die gegenüberliegende Bolizeiwachstube Schüsse abgab. Er wurde von der Polizei veranlaßt, die im Rathaus ver­tehrenden Personen beim Passieren des Tores zu beobachten. Er bezeichnete einen Obermagistratsrat, also einen der höchsten Beamten des Rathauses, als denjenigen, der die Schüsse abgegeben hat. Die Lage des Bureaus dieses Beamten stimmt mit der Lage des Fensters, aus dem geschossen worden ist, überein. Der Beamte leugnet, geschoffen zu haben und wurde vorläufig auf freiem Fuß belassen.

Die Gemeindewache dauernde Einrichtung?

Wien , 26. Juli.

Der Gemeinderatsausschuß für die allgemeine Verwaltung be­schäftigte sich gestern mit einer Vorlage des Gemeinderats, welche die Grundlagen für die neue Gemeindewache gefeßlich regeln soll. Die Anträge der Mehrheit besagen, daß die Gemeindewache in einer Stärte pon 2000 mann aufzustellen sei.

Die Bewaffnung besteht aus einer Repetierpistole und einem Säbel oder einem Gummifnüppel. Am 1. September soll die Bache auf 1000 Mann herabgesetzt werden.

Pied freigelaffen.

Wien , 26. Juli. ( WTB.)

Nach Mitteilung der Staatspolizei wurde die vom Landgericht gegen den deutschen kommunistischen Landtagsabgeordneten Bied ge­führte Untersuchung eingestellt, der Staatsanwalt ist von der An­tlage zurüdgetreten. Bied wurde der Polizei wieder übergeben. Diese genehmigte Pieds Abreise nach Deutschland .

Von Weimar bis Potsdam .

Zwei Schulkompromiffe.

Von Heinrich Schulz .

Das Weimarer Schultompromiß war eine politische Notwendigkeit zum besten der jungen deutschen Repu­blit. Ohne eine Einigung von Zentrum und Sozialdemokratie in der Schulfrage wäre die Verfassung nicht zustandegekommen und die außenpolitische Katastrophe des Bersailler Friedens­vertrages nicht bezwungen worden. Es war Wunsch und vertrages nicht bezwungen worden. Wille der beiden Parteien, das Chaos zu vermeiden, und aus diesem Grund gaben sie beide in der Schulfrage nach. Das Bentrum setzte die Anerkennung der Bekenntnisschule in der Verfassung durch, mußte sich aber anderseits zur Anerkennung der vollen Gleichberechtigkeit der weltlichen Schule bereit erklären. Die Sozialdemokratie mußte die Bekenntnisschule zugestehen, erreichte aber gleichzeitig neben der Anerkennung der weltlichen Schule eine Reihe von erheblichen Verbesse­rungen. So ist die Einführung des Arbeitsunterrichts und der Erziehungsbeihilfen durch die Verfassung eine unmittel­erfreuliche Seiten auf diese Weise wenigstens durch sozial­bare Folge des Weimarer Schulkompromisses, dessen un­pädagogische Fortschritte zum Teil wieder wettgemacht wurden.

Kompromiß zwischen dem Zentrum und den mit der evan= Dem gegenwärtigen Reichsschulgesetzentwurf liegt ein gelischen Orthodorie verbundenen Deutschnationalen zugrunde. Es ist selbstverständlich, daß bei einer solchen Verbrüderung das Zentrum seine Mindestforderungen inbezug auf die Bekenntnisschule sicher in den Hafen bringt. Aber die Zugeständnisse, die es dem rechts von ihm befind­lichen Koalitionsbruder dafür einräumen muß, sind nicht wie bei dem Partner des Weimarer Schulkompromisses aus dem Wunsche geboren, die Republik zu festigen, die Verfassung zu fichern und den Schulfortschritt anzuregen. Es liegt vielmehr Ideologie, in allem das Gegenteil anzuftreben. Die Deutsch­im Wesen der überlieferten deutschnational- evangelischen nationalen sind nur Republikaner in Gänsefüßchen und der Konjunktur halber, sie sind es nur, weil sie auf diese Weise ihre wirtschaftlich zollpolitischen und einige andere innerpolitischen Herzenswünsche verwirklichen können. Sie werden die unbequeme scheinrepublikanische Maske sofort wegwerfen, wenn sie von ihr feine Vorteile mehr erwarten fönnen. Was sie deshalb über die nächsten Wünsche des Zentrums hinaus durch das Schulgesetz noch erreichen möchten, sind im wesentlichen die soliden alten Ladenhüter der kon= fervativen Schulpolitit der Bortkriegszeit. Daß sie sich hierbei mit dem Zentrum, wenigstens mit seinem größeren rechten Flügel, schnell zusammenfinden, ist bei der langjährigen Bundesgenossenschaft der Konservativen und des Zentrums in der alten preußischen Schulgesetzgebung fein Wunder.

Man darf dieses neue Schulkompromiß deshalb wohl mit gutem Fug und Recht das Potsdamer Schulfom= promiß nennen. So wie sich mit dem Namen Weimar Geistigkeit, Liebe zur Freiheit und zur Republik verknüpft, so ist mit dem Namen Potsdam das alte preußische Regi­ment der geistigen Unfreiheit der Massen, der Erziehung zur Demut vor göttlicher und weltlicher Autorität verbunden. Kein Wunder, daß bei einem aus solchem Geist geborenen Schulgesetz für den Schulfortschritt, für soziale umd pädago­gische Ausgestaltung des Schulwesens nichts übrig bleibt.

Man sollte glauben, daß hierüber auch im Zentrum, vor allem bei seinem linken Flügel, fein Zweifel obwalten könnte. Der demokratisch- republikanische Teil des Zentrums will mit der Sozialdemokratie und der Demokratie die Republik ich ühen und festigen. Er muß deshalb mit der Sozialdemokratie Wert darauf legen, daß die gemeinsame republikanische Front der katholischen und nicht katholischen Arbeiter zur Sicherung der Republik nicht dadurch beein­trächtigt wird, daß man den alten 3antapfel religiöser Un­duldsamkeit zwischen sie wirft.

Aus dem Geifte der Duldung war das Weimarer

einen Generalstreit und Umwandlung des Söldnerheeres in eine Schultompromiß geboren. Die inzwischen leider verstorbenen Miliz nach dem Muster der Schweiz .

England- Aegypten .

,, Wesentliche Arbeiten in aller Stille" oder endlose Beratungen ohne Ergebnis?

London , den 26. Juli.

( TU.)

Der diplomatische Korrespondent des Daily Telegraph " be­richtet, daß im Verlaufe der Besprechungen zwischen dem ägyptischen Ministerpräsidenten Sarwat Pascha, dem Auswärtigen Amt und dem englischen Generalgouverneur Lord Lloyd alle Seiten der eng­ lisch - ägyptischen Probleme die Basis für fünftige Verhandlungen gefunden sei. Die Vertreter Großbritanniens hätten sich absolut fest gezeigt, wo immer lebenswichtige Reichsinteressen in Frage ständen, wogegen man der ägyptischen Eigenliebe jede mögliche Konzession gemacht habe.

Es werde keine amtliche Erklärung abgegeben, bevor sich Sarwat Pascha mit seinen Kabinettskollegen besprochen habe. Trotzdem stehe fest, daß wesentliche Arbeiten während seines Aufent­haltes in London in aller Stille geleistet worden seien.

25 amerikanische Redakteure find als Gäste der Carnegie­Stiftung für internationalen Frieden in London eingetroffen. Sie werden auf ihrer Europareise auch Berlin besuchen.

Führer des Zentrums, die persönlich an dem Weimarer Schul­fompromiß beteiligt waren, die Gröber, Hize und Burlage , maren mit ihren sozialdemokratischen Kontrahenten einig in dem Wunsch, daß die gesetzliche Auswirkung des Schul­kompromisses dem deutschen Volke endlich den Schulfrieden bringen möge. Selbst die einfachste Ueberlegung muß er­geben, daß die je zigen deutschnationalen Kontrahenten des Zentrums sich von solchen Erwägungen nicht leiten lassen, sondern daß sie umgekehrt ein lebhaftes Interesse daran haben, die republikanische Arbeiterfront zu schwächen. Ihre Taktik ist auch durchaus folgerichtig, wenn sie zu diesem Zweck durch den Schulgesetentwurf die Schulgegensäge zu verschärfen, statt zu mildern suchen und für den nunmehr einsetzenden Kampf um die Schule den Schutz der Religion gegen die angeblich religionsfeindlichen Bekämpfer des Keudell­schen Schulgesetes als Losung ausgeben.

Die Germania " hat es in dem einzigen Artikel, in dem sie bisher zum Schulgesetentwurf Stellung genommen hat, für notwendig gehalten, die Sozialdemokratie daran zu er innern, daß sie in Weimar mit dem Zentrum ein Schul­tompromiß abgeschlossen hatte, das sich auf der Gleichberechti­gung der drei Schularten aufbaute, ein Kompromiß, daß also unseren Anschauungen. weiter enigegenfam als das zweite unter demokratischem Einfluß zustandegekommene, das dann Bestandteil der Reichsverfassung wurde".