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Abendausgabe

Nr. 351 44. Jahrgang Ausgabe B Nr. 173

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10 Pfennig

Mittwoch

27. Juli 1927

Vorwärts=

Berliner   Volksblaff

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Zentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands  

Rechtspflege und Volksvertrauen.

Die Nationalratsdebatte in Wien  .

Wien  , 27. Juli, 13 Uhr.( Eigenbericht.) Der Nationalrat   setzte heute nach 11 Uhr die Besprechung der Regierungserklärung fort. Zunächst sprach der christlichsoziale Abg. Dr. Gürtler. Er behandelte das Problem der Ausein andersehung zwischen Volk und Staat, zwischen Rechtsempfinden und Rechtspflege in rein theoretischen Auseinandersetzungen und versuchte zu beweisen, daß sei dem Bestand der Republik   sich zwischen das Recht und die Staatsautorität eine neue Instanz einzumengen versucht habe, die durch Straßenfundgebungen rechts. gültige Urteile abzuändern versuche. Das sei ein unmöglicher Zu­stand, und, es sei notwendig, zunächst auf der einen Seite mit Demonstrationen überhaupt Haus zu halten, auf der anderen Seite aber doch eine Korrektur des ganzen Strafrechts vorzunehmen, die das ungeminderte Bertrauen der Voltsmassen in die Rechtspflege wieder herstelle. Unmöglich sei es auch, daß jemand, der eine Berufsverpflichtung im Dienst des Staates übernimmt, gelegentlich parteipolitische Weisungen oder auch seine persönliche parteipolitische Ueberzeugung vor die übernommene Verpflichtung stelle. Das geschehe aber, wenn durch Arbeitsniederlegung aus polittschen Gründen die Berufspflicht gegen den Staat verletzt

werde.

An dieser Stelle wiesen lebhafte Zwischenrufe der Sozialdemo fraten darauf hin, daß doch mindestens ebenso der Geschworene nicht seine Parteigefühle über das Recht stellen und sein Urteil dadurch beeinflussen lassen dürfe!

Abg. Genosse Dr. Karl Renner   untersuchte, gleichfalls in afa­demischem Tone, die aus der unglüdseligen Konstruktion und der ganzen Verderblichkeit der aufgezwungenen Selbständig feit des Bundesstaates Deutsch  - Desterreich erwachsenen Brobleme wirtschaftlicher, fultureller und sozialer Natur. Renner sprach in außerordentlich versöhnlichem Tone und appellierte an die Mehr heit, doch unabhängig von parteipolitischer Einstellung, die un parteiische Untersuchung der entsetzlichen Vorgänge in Wien   durch einen parlamentarischen Ausschuß zuzugestehen und mit der Opposition den Weg zur Förderung des Gemeinsamen, des Wohles für Staat und Bolt zu suchen.

Für den späten Nachmittag erwartet man den Abschluß der Debatte. Es gilt als sicher, daß die Regierungsmehrheit trotz des neuen Appells Renners den Antrag der Sozialdemokraten auf Ein­fegung eines Untersuchungsausschusses ablehnen wird.

Karl Renners   geftrige Rede.

In unserem Bericht über die Nationalratsdebatte am Dienstag ist die Rede unseres Genossen Dr. Karl Renner   schlecht weg­gekommen. Wir laffen hier einen ausführlicheren Bericht folgen: Abgeordneter Renner( Soz.) führte aus: Ein Abbau der fogenannten illegalen Formationen würde von würde von allen Seiten begrüßt werden, wenn nicht ein allgemeines Mißtrauen bestände, daß die gefeßlichen Mittel nicht ausreichen, um Leben und Freiheit der Bürger zu schützen. Die Vorwürfe der Sozialdemokratie wegen der blutigen Ereignisse am Freitag richten fich nicht gegen einzelne Polizeibeamte, sondern gegen die Füh

Für Sacco und Vanzetti. Amnestieforderung des französischen   Gewerkschafts­

tongresses.

Paris  , 27. Jufi.( WTB.)

Der Nationalfongreß des Allgemeinen Arbeiterverbandes hat auf Antrag Jouha ug' einstimmig eine Entschließung angenom men, in der die Begnadigung Saccos und Banzettis gefordert wird. An die amerikanische   Regierung wurde ein Telegramm mit dieser Forderung gerichtet.

Neuer Aufschub.

New York  , 27. Juli.  ( WTB.) Der Entscheid über die Begnadigung oder Verurteilung von Sacco und Banzetti, der dieser Tage erfolgen sollte, ist um weitere 14 Tage verschoben worden, weil noch zehn 3eugen anzuhören find. Gouverneur Fuller besuchte die beiden Verhafteten gestern wieder in ihren Zellen. Beide sezen den am 17. Juli begonnenen Hungerstreit fort.

Westarp in London   abgeblikt.

Selbst die Diehards ekeln sich vor ihm! Graf Westarp soll, wie aus verschiedenen Pressemeldungen hervorgeht, die Gelegenheit einer Reise nach London   benugt haben, um den Diplomaten zu spielen. Er dachte, als deutscher Ultra­reaktionär würde er von den englischen Diehards mit offenen Armen empfangen werden. Was ungarischen Magnaten so glänzend ge­lungen sei, müßte ihm, dem ostelbischen Junter, nicht schwer fallen.

rung der Polizei. Die Mehrheit mag bedenten, daß man mit Gewalt, welche offenbar unter dem Einfluß der Beitung plöß lich angewendet wurde, auf die Dauer ein Staatswesen nicht er­es der Sozialdemokratie gelun halten kann. Dagegen ist abzulenten und zu beruhigen, auch am Freitag hätte die te­die allgemeine Erregung durch den Streit gen, ruhigende Tätigkeit der Sozialdemokratie auf die Massen, wobei der Bürgermeister seine ganze Persönlichkeit einsetzte, Erfolg gehabt, wenn nicht der Feuerangriff der Polizei dazwischen gefommen wäre. Wenn der Kanzler von einer schweren Wunde der Republik   ge­sprochen hat, so möchte ich sagen, in dieser Wunde ist eine

fchwere innere Krankheit der Republik   zum Ausbruch gekommen, weil seit Jahren die Wahrung des Rechts und des rechtsstaatlichen loren gegangen ist. Die Sozialdemokratie brauchte feinen Tren Gedankens in einem großen Teile der bürgerlichen Welt ganz ver= nungsstrich zu ziehen; sie ist immer eine Partei des Aufbaues, der schöpferischen Tätigkeit, der Belehrung und Erziehung der Massen auf dem legalen Wege der Demokratie gewesen und wünscht dabei in Ruhe gelassen zu werden Dies mögen auch die Länder bedenken, da dies der Weg der Arbeitsteilung ist. Die Er­fenntnis muß durchgreifen, daß Wien   und die Länder neben und miteinander bestehen müssen. Kommunistenverhaftungen in Wien  .

Wien  , 27. Juli.  ( TU.) Die Polizei hat am geftrigen Tage abermals Haussuchungen bei Kommunisten vorgenommen. Die Wiener   Kommunistenführer Tomann und Koritschoner sowie Mitglieder des Zentral­fomitees der fommunistischen Jugend wurden verhaftet. Da­gegen konnte der Redakteur der Roten Fahne", Willi Schlamm  , gegen den ein Haftbefehl vorlag, nicht aufgefunden werden. Auch bei einigen Sozialdemokraten sollen Haussuchungen vor­genommen worden sein.

Pieck abgeschoben.

Der preußische Landtagsabgeordnete Pied wurde Dienstag vormittag von der Wiener Polizei nach Bassau abgeschoben. Ein Bolizeibeamter in Zivil begleitete ihn.

Die Gemeinde Wien   bringt die Kinder der Opfer aufs Land.

Die Gemeinde Wien   hat den Entschluß gefaßt, die Kinder der in den Straßenfämpfen Gefallenen und Verwundeten rasch aus ihrer traurigen Umgebung zu entfernen und für ein paar Wochen in den Erholungsheimen des Jugendhilfswerkes unterzubringen. Schon liegt die Liste der Opfer vor, die magiftratischen Bezirksjugendämter erhalten bereits die Berzeichnisse der Betroffenen in ihrem Bezirke, die Fürsorgerinnen erheben die Anzahl der Kinder und in wenigen Tagen fönnen sämtliche Vorbereitungen getroffen und Buben und Tagen fönnen sämtliche Vorbereitungen getroffen und Buben und Mädel auf dem Wege in ein Ferienheim sein. In allen bedürftigen Fällen werden Freiplätze gewährt und dadurch den Müttern und er­wachsenen Geschwistern für einige Zeit die Sorge um die Erhaltung der Kleinen genommen.

Französische   Beschwerde in Moskau  .

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Nach Ferdinands Tode.

Der Kampf um die Macht: Bratianu oder Carol? Bukarest  , Ende Juli.

Ich bin sehr müde," waren die letzten Worte des. verstorbenen Rumänenkönigs. Man kann sie begreifen bei einem Manne, der seit Monaten dem Tode geweiht war, deffen fabelhaft robuste Konstitution aber von den Aerzten zur Bollführung jenes vielbestaunten Wunders ausgenutzt wurde, einen Halbtoten weit über die Frist hinaus am Leben zu erhalten, die ihm von der Natur gewährt war. Doch die Leiden des Sterbenden wiegen im Urteil der Geschichte weniger als die Leiden eines Millionenvolkes, das unter der Herrschaft der Liberalen" zu erhalten das oberste Regierungsprinzip Ferdinands war. Unter seiner Regierung wurde das allgemeine Wahlrecht erlassen, aber Er war es, der den Bauern die Aufteilung des Herren­unter seiner Regierung auch sofort schamlos verfälscht. Sabotage ber Agrarreform ohne weiteres seine bodens verheißen hatte, er war es auch, der kurz darauf zur Zustimmung gab. Immer wieder hat er dem offen zutage tretenden Willen des Volkes zum Troy die ,, Liberalen  " an die Macht gebracht, sie auf diese Weise sogar unmittelbar nach dem Kriege vom politischen Tode gerettet. Während der Wahlen aber war fein Lieblingszeitverteib die Jagd, weil er nicht die Proteste der Opposition gegen den Wahlterror hören wollte. Kurzum, niemals hat er sich unterfangen, Bra tianus Wünschen und Intereffen entgegenzutreten, immer war er ihr treuer Bollstrecker. Ihm die volle Berantwortlich­feit für das oligarchische Regime aufzubürden, wäre freilich ungerecht. Er war doch nur ein Scheinfönig und sich der Tragweite seiner Handlungen nicht bewußt. Aber es muß gesagt werden: wenn auch nicht ein Tyrann, so ist doch Seine Leiden können mit seinen Taten nicht versöhnen. mit ihm der Lakai eines Tyrannen dahingegangen.

Im Sterben noch leistefe Ferdinand dem ungekrönten Herrscher Bratianu   den letzten Dienst. Als Averescu mit der Diktatur liebäugelte und deshalb von den Liberalen über Nacht gestürzt wurde, war der Tod des Königs noch nicht un­mittelbar zu befürchten. Die Energie, mit der Bratianu die Macht wieder an sich riß, und der maßlose Terror, den er zur Eroberung der parlamentarischen Mehrheit aufbieten ließ, bewiesen dennoch, daß er auch gegen die Eventualität der Thronvakanz gesichert sein und Averescu   die Möglichkeit nehmen wollte, an der Macht den Prinzen Carol gegen die gesetzliche Regentschaft auszuspielen. Inzwischen ver­schlechterte sich der Zustand des Königs. Das Parlament wurde in aller Eile einberufen. Wäre es im Augenblicke des Todes des Königs nicht konstituiert gewesen, so hätte das alte averescanische Parlament wieder zusammentreten müssen, um den Treueeid der Regentschaft entgegenzunehmen oder abzuweisen. Aber, kurz nachdem die gesetzgebenden Körperschaften formell tonstituiert waren, kam die Nachricht vom Tode des Königs, dessen verschlechterter Zustand bis zum letzten Augenblick ein Geheimnis der Minister und des Hofes geblieben war. Wenn Ferdinand wirklich am 20. Juli um 2 Uhr früh gestorben ist, so hätte er auch aus freiem Willen feinen besseren Augenblick wählen können. Bratianu   brauchte keinen König mehr. Er hatte sein Parla­ment und damit seine Regentschaft.

Gegen die kommunistische Propaganda. Was nun? Der Tod des Königs, der bei geregelter Erbfolge nur ein bedeutungsloses Zwischenspiel gewesen wäre, Botschafter Herbette hat laut Matin- Meldung" gleich nach gewinnt in der monarchischen Maskerade der Bratianus ge­seiner Rückkehr vom Urlaub in Mofsau bei Tschitscherin vorgewaltige innenpolitische Bedeutung durch die Unmündig­sprochen und ihn wissen lassen, daß Frankreich   der kommunistischen   feit des neuen Königs und die Thronanwärterschaft Machenschaften überdrüssig sei und daß das Zusammen des Erprinzen Carol. Das schwierigste Problem der rumäni­wirten ber tommunistischen Propagandisten mit den diplomatischen Politik hat plöglich akute Formen angenommen. Zwar schen Bertretern der Sowjetunion   in Paris   immer unerträg licher werde. Man scheint sich allerdings in Paris   keinen Julu­fionen über die Folgen dieses Schrittes hinzugeben, denn der " Matin" erwartet, daß Tschitscherin wie gewöhnlich antworten werde, die Propaganda sei nicht Sache der Sowjetregierung, son­dern der Dritten Internationale und er besize nicht die Autorität, dieser Propaganda ein Ende zu bereiten.

Gefecht in Nicaragua  .

New York  , 27. Juli.  ( TU.) Nach einer Meldung aus Managua   tam es zwischen nicara­guanischen Regierungstruppen und Aufständischen unter Führung des Generals Sandino   bei San Fernando zu fcheren Kämpfen, in deren Verlauf 20 Aufständische getötet und 200 per wundet wurden. Die Regierungstruppen waren von ameri tanischen Marinesoldaten unterstüßt. Die Amerikaner haben die Berfolgung der Revolutionäre auch mit Flugzeugen aufge­

nommen.

Er bot nun den englischen Lords Hilfe gegen den Bolschewismus Gegen Krieg u. Kriegsgefahr man hat, so wird versichert, diesen plumpen Anbiederungs- Für Frieden und Sozialismus

zurüd­

versuch des deutschnationalen Führers fchroff gewiesen. Westarp ist unverrichteter Dinge heimgekehrt. Jetzt lautet wohl für ihn die Parole wieder: Gott strafe England! Bielleicht versucht er es jetzt mit Poincaré   und bietet ihm, ähn­lich der Kreuz- Zeitung  ", den Berzicht auf den Anschluß als Gegenleistung an?

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demonstriert die sozialdemokratische Arbeiterschaft am Montag, den 1. August, abends 7 Uhr, auf dem Wittenbergplatz Erscheint in Massen!

haben es die Liberalen verstanden, die Zügel in der Hand zu behalten, und es ist zweifellos, daß ihre Macht gegen= wärtig groß genug ist, um die von ihnen geschaffene Si­tuation zu wahren. Aber Carol wartet in Paris   auf seine Stunde, und im Lande ist die Strömung für ihn offen­kundig im Wachsen. Die politisch unbewußten Massen erhoffen- mit Unrecht freilich von einer Aenderung innerhalb des monarchischen Systems eine Verbesserung ihrer Lage. Andererseits stehen sämtliche bürgerlichen Oppositions­parteien insgeheim oder offen der Regentschaft feindselig gegenüber, eben weil sie eine liberale Regentschaft ist. Die Nationale Bauernpartei hat zwar seinerzeit und auch anläßlich der Zwischenregierung Stirbey der Einsegung einer Regentschaft zugestimmt, weil sie hoffte, sich so den Weg zur Macht zu ebnen, ist aber seither abgeschwenkt. Averescu  , durch seinen jähen Sturz verbittert, ist nicht mehr wie früher ein Strohmann der Liberalen und Jorga nimmt offen für Carol Partei. So spielen alle Oppositions= parteien mit dem Gedanken, den Sturz der Liberalen, der in direktem Kampfe unmöglich war, unter dem Banner Carols durchzusetzen. Augenblicklich freilich rührt sich feine. Das Bestehen des Belagerungszustandes iſt ihnen allzu deutlich in Erinnerung gerufen, den Zeitungen

jebes erwähnen des Erprinzen verboten wor­tommen könnte, macht ben Parteien feine Sorge. Gie fifchen alle im Trüben, aus Verzweiflung und aus Haß gegen die allmächtigen Liberalen.

den. Aber die Frage als solche bleibt offen. Was dann

So bleibt Rumänien   im Zeichen stetiger politischer Un­ruhe und gerade deshalb im Zeichen der Dittatur. Die Liberalen wissen sehr wohl, daß ihre Machtstellung von Der Aufrechterhaltung der gegenwärtigen Situation abhängt,