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1. Beilage zumVorwärts  " Berliner Volksblatt. Ur. 338. Parteitag der sozialdemokratischen Partei Teutschlands. Breslau  , den 10. Oktober 1895. Vierter Verhandlungstag. Vormittags-Sitzung. Der Vorsitzende Singer eröffnet die Sitzung um 9V» Uhr. Es sind mehrere Begrüßungsschreiben eingegangen, darunter eins von einigen Mitgliedern der Ferienkolonien, das mit großeiu Beifall aufgenommen wird. Lebhafte Heiterkeit erregt folgender, dem Parteitag übersandtcr Brief aus Leipzig  : Die Sozialdemokratie(richtiger Sozial- Anarchie) sollte vor allem ihre R o h h e i t ablegen! Beweis derselben: die rohe Kindererziehung. Die sozialdemokratische Verrohung der Schul- und Straßenjugend, zumal in Leipzig  , der Geburtsstätte der Sozialdemokratie, ist geradezu himmelschreiend. Das wird der Ruin des deutschen  Vaterlandes! Das ist die Frucht Eurer Arbeit!! Fluch Euch! Fluch! Die Partei der Anti-Anarchisten." Vor Eintritt in die Tagesordnung theilt Antrick namens der Mandatsprüfungs-Kommission mit, daß nachträglich Proteste gegen die Giltigkeit der Mandate von R ö h r l e- Heilbronn und G e h r- Bremerhafen eingelaufen seien. Da beide für giltig er- klärt und die Proteste verspätet eingelaufen sind, beantragt die Kommission, über dieselben zur Tagesordnung überzugehen. Die Versammlung stimmt dem Antrage ohne Debatte bei. Hieraus wird in die Tagesordnung(Fortsetzung der Berathung des Agrarprogramn, s) getreten. David- Gießen: Parteigenossen! Seitens Schippel's ist der Kommission im allgemeinen der Borwurf des Diebstahls ge- macht worden, und die Vorschläge, die die Kommission gemacht hat, sind von ihm unter der Devisenichts als Diebstahl" ein- geführt worden. Zu diesen Vorwürfen muß ick einige Be- merkungen machen. Die Aufgabe der Agrarkommission bestand darin. Stellung zu nehmen zu den Fragen, die heute neben dem Ägrarwesen an der Tagesordnung sind und unsere Vor­schläge sollen nichts anderes sein, als die Vorschläge für die Stellung, die die ganze Partei dazu einnehmen soll. Zunächst mußten ivir da die Wünsche kennen lernen, die heute bereits von anderen Parteien geltend gemacht werden. Soweit diese Vor- schlüge dem Interesse landwirthschaftlicher Kapitalisten und Unternehmer dienen sollen, mußten wir sie ausscheiden; was übrig blieb, mußten wir prüfen daraufhin, ob es nicht nur der Landwirthschaft in ihrer Gesammtheit, sondern auch der ge- sammten Bevölkerung zu gute kommt. Was dann noch blieb, waren die Fragen, denen wir positiv näher treten mußten. Wenn Sie erwartet haben, die Agrarkommission werde Ihnen das Produkt einer ganz neuen agrarpolitischen Phantasie vor- legen, dann allerdings haben mir Ihre Erwartungen getäuscht. Aber zu dieser Erwartung waren Sie nicht berechtigt. Im besonderen fühle ich mich verpflichtet, dagegen uns zu verwahren, als ob wir unsere Vorschläge vom Grasen Falken- Hayn gestohlen hätten, dessen Name ganz geschickt dazu benutzt wurde, die Vorschläge zu verdächtigen. Zunächst ist nicht das ganz« Programm von Falkenhayn entlehnt, das enthielt 15 Punkte; es handelt sich auch nicht ein­mal um einen ganzen Punkt, sondern um einen Passus in einem Punkte. Schippel hatte erwähnt, daß auch andere Dinge dem Falken- hayn'schen Gefetz entnommen seien,$. B. der Ankauf von Ge- treibe von den Produzenten direkt und noch anderes. Aber Schippel wird nicht behaupten wollen, daß das Dinge sind, die man nur an den Namen Falken- Hayn anknüpfen kann. Das sind Dinge, die in allen agrarpolitischen Programmen vorkommen. Falkenhayn's Vorschläge sind doch sehr bekannt, und man kann nicht davon sprechen, daß wir es verheimlicht hätten, daß wir das Programm von Falkenhayn entlehnt haben. Wir sind doch nicht so ein- fältig, daß wir Dinge, die seit Jahren diskutirt werden, daß wir die als unser Eigenthum reklamiren könnten. Ich will annehmen, unsere Forderung sei identisch mit Falkenhayn's Vorschlage des Ankaufs eines Gutes bei der Vcr- gantung durch die Gemeinde. Dieser Gedanke ist nicht jetzt»um ersten Male von den Süddeutschen vorgebracht worden, schon Genosse Vollmar hat im bayerischen Landtage ein Referat darüber gehalten; sein Referat ist als Sonderabruck als Bauern- agitions-Broschüre verbreitet worden. Es handelt sich also nicht uni Dinge, die im Schooß der Kommission geheimnißvoll behandelt worden wären. Aber der Name Falken- Hayn kann gegen die Vorschläge nicht ausgespielt werden; wenn wir alle die Dinge nicht wollen, die von unseren Gegnern stamme», dann hätten wir auch dßs allgemeine Wahlrecht zurückweisen müssen, weil es vom Blut- und Eisenmanne stammt. Schippel hat ja auch die Ansicht der Gegner für seine Meinung in Anspruch genommen, als er von der Waldstrcu sprach und sagte, daß die Bauern das Wald- streurecht selbst nicht wollen. Er hat sich an die Autorität der Männer gewandt, an deren Händen das Blut von Fuchs- mühl klebt. Wir sollen nun Anträge gestellt haben, die hinaus- laufen, das Privateigenthum der Bauern zu schützen. Das ist nicht richtig. Wir sagen nur, der Ankauf durch die Gemeinde und die Ueberlassung des Gutes an den früheren Bc- sitzer als Nutznießer soll den Nutznießer durchaus nicht im Privat­ besitz   erhalte». Aus taktischen Gründen wollten wir nicht von Pacht sprechen, denn Pachtverträge sind heute anrüchig, und wir find der Ueberzeugung, daß, wenn man einem Landwirth die Nutz- incßung giebt, doch die Pacht so stellen muß, daß ihm genügende Zeit bleibt, Verbesserungen zu mache» und zu er- halten. Also die Pacht soll über das Maß der heutigen Pacht hinausgehen, aber vor dem Schritt zum Privateigenthum haben wir Halt gemacht. Eine solche Pacht, wie ich sie gekennzeichnet habe, kann doch nie in Privateigenthum hineinwachsen. Falken- Hayn wollte mit seinen Vorschlägen die große Masse der kleinen Landwirthe hinter sich bekommen gegenüber der Arbeiterbewegung. Die Absicht, so etwas zu wollen, hat uns fern gelegen. Von den, Entwurf ist in unserer Vorlage nur ein Gedanke festgehalten, den wir unbeschadet unserer Prinzipien annehmen können, nämlich die Kleinbauern in eine einheitlich organisirte Wirlhschaftsordnung überzuführen. Die Vorwürfe von Schippel waren so ungerecht wie möglich. Ich will nicht in denselben Fehler wie er verfalle», und Vorwürfe wie Unverstand und Gewissenlosigkeit gegen ihn erheben. Ich überlasse es dem Urlheil der Genossen, auf wessen Seite hier der Unverstand liegt. Bezüglich des Waldstreurechts haben wir uns von wissen- fchaftlichen Grundsätzen leiten lassen. Schippel hingegen hat die Interessen der rationellen Forstkultur mit dem Interesse der Ge- sainmtheit, das Interesse des Fiskus mit dem des Volkes zu- faniwengeworfen, obgleich das zwei ganz verschiedene Dinge sind. Die Forstverwaltung ist eine staatskapitalistische Verwaltung. Die Holzkultur ist ihr die Hauptsache. Deshalb ist es ihr an- genehm, wenn der Bauer mit seinem Vieh aus dem Walde fern bleibt. Die Darstellung ihrer Beamten über die Forstkultur ist also einseitig, und kann nicht für uns maßgebend sein. Das fiskalische Interesse kommt nicht in Frage, wenn es sich um fürst- liche Jagdvergnügnngen handelt. Wohl aber tritt es sofort dem Bauern gegenüber in kraft, dessen Existenz an der Benutzung des Waldes kür kein Vieb gebunden ist. Freitag, den 11. Oktober 1893. Genosse Schippel hat sodann die Frage der Allmende aussührlich erörtert. Er zitirte ans Buchenberger die Ansicht, daß die Allmende zur Schollenkleberei führe. Ich sage hierzu: Die Allmendtheilhaber sind auch einsichtig genug, um zu wissen, ob es für sie sich lohnt, zu bleiben oder auszuwandern. Was die Lohndrückerci der Arbeiter betrifft, die aus Dörfern mit niedriger Lebenshaltung in die Stadt kommen, so wird sie viel schlimmer, wenn, wie Schippel will, durch Aushebung der Allmende und des Waldstreurechtes so und soviel bäuerliche Elemente vernichtet, aus ihrem Eigenthum vertrieben werden und nun nach der Stadt kommen, wenn wir den Zustrom der länd- lichen Bevölkerung so vermehren.(Beifall, Zwischenruf.) Es wird mir zugerufen: Das heißt revolutioniren! Ja, wenn die Lohndrückcrei revolutioniren wäre, dann wäre doch die ganze Thätigkeit unserer Gewerkschaften eine antirevolutionäre.(Sehr gut!) Sind denn die Gegenden, wo Hungevpreise gezahlt wer­den, der Boden, auf dem wir Gelegenheit zu revolutioniren haben?(Zuruf: A» die Scholle gefesselt!) Ja, bei dieser Fessel hat es der Kleinbauer doch jederzeit in der Hand, sie zu lösen, sobald er eingesehen hat, daß dies seinem Interesse entspricht. Was man jederzeit von sich schütteln kann, ist nach meiner Meinung keine Fessel. Was nun die Verstaatlichung der Hypotheken betrifft, so sagt Schippel, die Börse hätte den Vortheil davon. Nein, heute haben die Kapitalisten Vortheil davon, und der soll ihnen ja gerade genommen werden. Dem Genossen Oertel g-genüber, der ja selbst, soviel ich weiß, Hypothekenbesitzer ist, bemerke ich, daß nian eine Grenze für die erste, zweite oder dritte Hypothek festsetzen kann. Die Endgrenze kann einsuch da liegen, wo der eigentliche Werth des Gutes aufhört. Will man über den Werth des Gutes hinaus noch ein Geld- leihen ermöglichen, so kann nur Personalbeleihuiia erfolgen. Und auch hier ist man schon ans dem Wege, den Personalkredit zu organisiren und dieses an sich beschränkte Gebiet dem Wucherer zu entziehen. Genosse Kautsky   ließ das Gespenst der Staats- sklaverei des Bauern aufmarschiren. Jetzt haben wir die Sklaverei des Privatkapitals, die unter Umständen direkt politischen Einfluß auf den Bauer ausübt. Ich erinnere an die Eschweger  Wahl. Der Bauer ist eine viel demokratischere, Widerstands- sähigere Natur, als etwa der ostelbische Landarbeiter. Sollte es dem Staat einfallen, den Bauer mit den Hypotheken zu kujoniren, so würde es lebensgefährlich für den Landrath werden, in die Dörfer zu kommen, der Staat würde die Bauern selber revo- lutionire». Nun zur geforderten Vermehrung des Gemeinde- landes und zum Verbot des Verkaufs öffentlicher Lände- reien. Diese Forderung bezeichnet Schippel als Charlalanerien. Auch westeuropäische Sozialisten, die wir bisher nicht gewohnt sind, als Charlatane zu bezeichnen, stimmen in der Forderung der Vermehrung des Gememdelandes mit uns ei». Das Pro- gramm unserer französischen Genossen enthält diese Forderung und unser Genosse Vandervelde   hat dies ebenfalls in seiner be- kannten Rede näher begründet. Unserm Prinzip entspricht ja diese Forderung auch voll und ganz, es könnte sich ja nur darum handeln. ob es jetzt schon an der Zeit ist, diese Forderung geltend zumache». Sie können also unsere Vorschläge annehmen, da sie sich in der Richtung bewegen, die wir einschlagen müssen. Uns wird vor- geworfen, wir wollen das Privateigenthum des Bauern ver- mehren, während wir doch lhatsächlich das Privateigenthum in Gemeinde- Eigenthum überführen wollen. Wir müssen dafür sorgen, daß heute nicht ein Besitzwcchsel, sondern eine Ueber- führung in Gemeinde- Eigenthum stattfindet. Ein Bauer. der zum Pächter von Land geworden ist, ist für uns infolge der wirthschastlichen Vorbedingungen viel leichter zu gewinnen, als wenn er Eigenthümer wäre. Wenn man sagt, der Kleinbetrieb haftet am Privateigenthum. so ist das nicht richtig. Wo wollen Sie theoretisch den kleine» Pächter unterhringen? Die Forderung des Naturalzinses im süddeutschen Programm ist als etwas Ungeheuerliches hingestellt. Wir wollten dadurch dem Bauern den Uebergang zu dem Gedanken des Gemein- eigenthums erleichtern, ihm die Sache plausibel machen. Wir Süddeutschen sind mit dieser Forderung in der Kommission nicht durchgedrungen; gewichtige Erwägungen wurden uns entgegen- gehalten, viel gewichtigere, als die Schippel's. Die Frage: ist der Großbetrieb dem Kleinbetrieb überlegen, ist eine theoretische, die zu entscheiden ist von Leuten, die sich mit diesen Fragen besonders befassen. Außerdem heißt es auch hier: Probiren geht über Studiren. Die Frage der Betriebstechnik in der Landwirthschaft ist eine unter den Fachleuten durchaus unentschiedene Streitfrage. Ein fester Boden der Wissenschaft existirt nicht; es giebt nicht zwei Professoren, die in einer Frage das gleiche denken. Die Wissenschaft hat den Muth, sich beständig zu mausern. Wir haben in dem Sinne auf dem Boden der Wissenschaft zu stehen, daß wir ihr Fortschreiten wahrnehmen und uns zu nutze machen. Das haben wir gethon, wir haben uns nicht auf eine Theorie festgenagelt, und deshalb hat man gegen uns den Vor- wurf erhoben, wir wüßten selbst noch nicht, was wir wollen. Wir müssen doch überall die thatsächliche» Verhältnisse berücksichtigen und uns danach richten. Die Natur der Sache bedingt es eben, daß die Dinge verschieden behandelt werden. Wir können doch nicht einer Gemeinde, die noch gar kein Gemeindeland hat, vorschlagen, sie soll eS in Regie nehmen. Das ist unmöglich. I» solchem Falle müssen wir es eben an Selbstbewirlhschafter ver­geben. Vor allen Dingen müssen wir darauf bedacht sein, daß. was wir auch immer vorschlagen, auf keinen Fall der kapitalistischen   Ausbeutung anheimfällt. Nun sagt Kautsky  , wenn wir das thun, so bewirken wir, daß die Landwirthschaft nicht mehr rationell betrieben wird. Es ist eine Streitfrage, ob es wahr ist. Kautsky   meint, je mehr die kapitalistische Landwirthschaft sich entwickle, desto mehr werde der Boden ausgeraubt. Nun gut, dann lasse man doch dem Bauern feinerückständige Betriebsweise". Einigen wir uns doch über den Begriff Bauern. Schließen wir denBauern mit Dienstleuten" aus. Ter Bauer mit Dienstboten ist nicht in Masse für uns zu gewinnen. Kautsky   hat Quarck gegen- über, der Engels zitirte, von Seiltänzerei gesprochen. So wie ich Engels verstanden habe, habe ich mich auch der Seiltänzerei schuldig gemacht. Ich glaube ihn aber richtig ver- standen zu haben. Engels kommt in dem Artikel trotz seiner Ansicht, daß es mit dem Bauern zu Ende gehe, doch zu der Meinung, es müsse für den Bauer in der Gegenwart.etwas geschehen. Er spricht ausdrücklich davon, daß der Absturz der Bauern ins Proletariat gehindert werden müsse. Kautsky   sagt in seiner Resolution, das Interesse der Landeskultur sei das Interesse der Besitzer. Wenn Sie dieses Prinzip der Resolution annehmen, so legen Sie sich in dem Sinne fest, daß Ausgaben für Landeskultur im Interesse des Proletariats in Zukunft nicht mehr bewilligt werden dürfen. Das würde uns ungeheuer schaden. Ueberall werden für Landes- kulturzwecke jährlich von unseren Genossen Mittel bewilligt. So isi in Hessen   eine Landeskreditbank ins Leben gerufen, für die nnverzinsbare Darlehen aus Staatsmitteln bewilligt sind, und dafür sind unsere Genossen eingetreten. Aehnliche Beispiele lassen sich in Menge nicht nur aus Hessen  , sondern auch ans anderen Einzelstaaten anführen. Durch die Resolution Kautsky   aber wird diese bisher geübte Praxis unmöglich gemacht. Dasselbe gilt für Summen. die man für Gewerbe-Ausstellungen, Gewerbeschulen und dergl. IS. Jahrg. bewilligt. Für uns ist die politisch entscheidende Stellung in diesen Fragen die, daß wir in die Forderungen der Agrarier unser demokratisches Oel hineingieße». Wir dürfen nicht cinsach sagen, wir lehnen es ab, sondern wir treten auch dafür ein, aber wir zwingen euch, es so zu gestalten, daß es nicht den Groß- bcsitzern allein, sondern der Gesammtheit zu gute kommt. Von dem Standpunkte aus müssen Sie unsere Forderungen betrachten. Thun wir für die Landeskultur nichts, so leisten wir den Großagrariern einen Dienst, die uns dafür beim Bauern verklagen können. Wir Hessen   hatten in diesem Sommer eine große Zusammenkunft landwirthschaftlicher Vereine. Da wurde beschlossen, die Viehzucht einheitlich zu gestalten. Dazu sind staatliche Hilfsmittel nölhig, also unsere Genossen werden noch mit dieser Frage zu thun bekommen. Außerdem liegt der hessischen Kammer ein Antrag vor, die ganze hessische Boden- Melioration einheitlich und staatlich zu organisiren. Wenn wir da nach der Resolution Kautsky   alle Hilfe verweigern, dann jagen wir ja vollends die Bauern ins Elend. Wir wollen Landeskultur im Interesse der Bauern treiben, nicht im Interesse der Große». Sie werden es sich also sehr überlegen müssen, sich nach der Resolution Kautsky   festzulegen. Kautsky   hat gemeint, es wäre leicht, über die Frankfurter   Resolution zur Tagesordnung überzugehen. Wir wollen doch keinen Zickzackkurs einschlagen; hüten Sie sich, den Gegnern durch Aenderung Ihrer Ansichten eine Waffe in die Hand zu geben. Wenn Sie meinen, daß die Fragen noch nicht spruchrus seien, so ist hiergegen nichts zu sagen. Aber nehmen Sie nicht die Kautsly'sche Resolution an, die dem Beschluß des Frankfurter  Parteitages eine Ohrfeige giebt. Nicht dadurch haben wir, wie Kautsky   sagt, die Massen gewonnen, daß wir die Köpfe re- volutionirten. Durch die praktische, an die Gegenwart an- knüpfende Thätigkeit haben wir die Massen gewonnen. Mit dem Revolutioniren der Köpfe können wir einige Studentev. gewinnen. Mit Zukunftshoffnungen, mit Ideen, die nicht leicht zu begreisen sind, gewinnen wir die Massen nicht. Die Revolutioni- rung der Massen geht nicht vom Kopfe, sondern vom Magen aus. Mit der Rcvolutionirung der Köpfe wären wir eine Sekte wissenschaftlicher Sozialisten geblieben, hätten aber keine Massen- bewegung. Das ist nicht meine Ansicht, die Ansicht eines jüngeren Mannes allein, die erfahrensten, ältesten Genossen stimmen mit mir überein.(Redner zitirt eine Stelle aus einer Rede Bebel's aus dem Halle'schen Kongreß.) Es ist weiter gesagt, wir kommen schon heute mit unserem Pro- gramm aus. Ja. wenn das richtig wäre, so brauchten wir ja gar keine Vorschläge zu unterbreiten. Es fragt sich nur, ob wir wirklich mit dem heutigen Programm auskomme». Allerdings können wir aus grund unserer sestgelegten Prinzipien alles das begründen, was wir in dem Agrarprogramn, fordern. Aber wenn wir damit zu dem Bauer kommen, so müßten wir ihm sagen, heute stimmen wir gegen olles, was wir selbst fordern, weil es nicht der Allgenieinheit zu gute kommt, erst muß der Zukunfts- staat eintreten. Damit erreichen wir aber nichts. Kautsky   sprach von der Diktatur des Proletariats  , aber darauf können w,r lange warten, wenn wir 45 Millionen Menschen für garuichts halten und den Bauern sagen, ihr müßt erst zu gründe gehen. Wenn wir den Uebergangszustand wolle», so müssen wir praktische Politik treiben. Ich weiß aus persönlicher An- schauung, daß der Bauer im allgemeinen«in einsichtsvoller, prak- tischer Mensch ist, einSinnierer". Man darf des Bauern Eigenarten nicht als Rückständig- leiten betrachten. Wenn die Bauern nach der Aufhebung des Privateigenthums fragten, dann sprach ich zu ihnen von der Verstaatlichung der kapitalistischen   Produktionsmittel; es fällt uns aber nicht ein, Euch Euer Eigenthum zu nehmen. Ferner verwies ich sie auf die Kautsky- Schoenlank'sche Broschüre über das Programm und sagte ihnen, daß Kleinbesitz und Kleinbetrieb zwar noch einige Zeit nach unserem Siege fortbestehen werden, aber daß deren Besitzer höchstwahrscheinlich dann von selbst ihre Kleinbetriebe aufgeben würden. Ich ver- wies sie auch auf Liebknecht's   Grund- und Bodensrage, kam aber niemals vollständig mit dieser Literatur aus; wir müssen sie also wieder einmal revidiren, um zu sehen, ob etwas Neue? nöthig ist. Unser Standpunkt ist der: Unbedingt nöthig ist, daß wir praktische Thätigkeit entwickeln, die gegenwärtigen Menschen sind mir ebenso lieb, als die des Znkunftsstaats. Jetzt liegt die Sache ähnlich wie damals, als es sich um die Frage des Parla- n'.entarismus handelte. Die ganze Frage ist nicht nur eine Bauernfrage. Sie ist in höchster Linie die Ernährungs-, die Brotfrage selbst. Das war unser Grundgedanke, keine theoretische Spielerei. Er legt am schärfsten unfern Gegensatz zu der Auffassung der eigentlichen Agrarier dar, die immer nur die Erhaltung der Bauern, der festesten Stütze der Monarchie, durch Kanitzpreise u. f. w. wollen. Uns steht das Interesse der Gesammtheit am höchsten, nicht das Interesse eines Berufsstandes. Die Agrarkrage ist«ine politische Frage ersten Ranges. Daß sie in den Reihen der Ge- »offen noch nicht volles Verständniß findet, liegt nicht an einem intellektuellen Mangel. Die Schwäche des Standpunktes der Kommission liegt darin, daß hinter ihr nicht eine Masse steht, die die ländlichen Verhältnisse am eigenen Leibe kennen gelernt hat. Diese Masse soll erst gewonnen werden. Die Kommission befindet sich in derselben Lage, wie die ersten Sozialisten aus der Bourgeoisie. Aber diese Schwierigkeit muß überwunden werden. Sonst gefährden wir den Fortschritt der Partei. Die Ab- lehnung der Vorschläge der Kommission wird von unseren Feinden als feindselige Stellung gegen die Nothlage der Bauern gedeutet werden. Legen Sie sich also durch die An- nähme der Kautsky'schen Resolution nicht fest. Wenn Sie den Vorschlägen der Kommission nicht zustimmen wollen, so lassen Sie sich wenigstens Zeit. Wir sind in den Bauern nicht ver- liebt, das ist Unsinn. Aber wir halten es im Partei-Jntereffe. und ich scheue mich nicht zu sagen, auch aus humanen Gesichts- punkten für geboten, daß einer großen Arbeiterschicht in der Roth des Lebens geholfen werde.(Beifall.) Singer theilt mit, daß Genosse Rauch aus Hannover  durch die Verhaftung feines Kollegen an derVolksstimme" zur Abreise gezwungen worden ist. An seine Stelle wird Fülle in die Neunerkommisston gewählt. Ein Antrag, die Redezeit auf eine halbe Stunde zu be- schränken, wird von Hoffmann-Bielefeld begründet, von Lieb- knccht bekämpft. Der Parteitag lehnt ihn ab. Zetkin  - Stuttgart  : Genossen und Genossinnen! Ich be- dauere zunächst, daß ich nicht zu Ihnen sprechen kann in der Rolle von Stubengelehrten, von denen man so wegwerfend ge- sprachen hat. Ich bin auch nicht mit Stubengelehrten ver- schwägert oder verschwistert, aber gerade deshalb, weil ich nicht pro äomo spreche, will ich doch betonen, daß unsere Theoretiker nicht dasselbe sind, wie die bürgerlichen Stubengelehrten. Ohne unsere Theoretiker wären wir noch gar weit zurück. Nun zur Sache! Wenn Sie auch nunmehr Ihre Anträge in drei Theilen vorgelegt haben, so ist noch gar nichts geändert worden. Nicht um die Form der Anträge, um ihre Ein- schachtelung in das Programm handelt es sich, sondern darum, daß viele von ihnen unseren Prinzipien widerlaufen. Was den bekannten Einlcitungssatz betrifft, so bin ich der Meinung, daß unsere Demokratisirung gegen die bestehende Staatsordnung geht: wir wollen doch nicht