Hr. 406 ♦ 44.Iohrgang
1. Heilage öes vorwärts
Sonntag, 2S. August 1027
..Hier nnb dar« warf ein tanifprecher Jazzmusik auf die Straßen. - So heißt es in dem Bericht, der uns aus B o st o n über die Schreckensnacht vom 22. zum 23. Auqust übermittelt wurde, in der man Succo und Vanzettk hinrichtet«. Ja. es ist Tatsache! Während in der ganzen Welt jeder Gesittet« mit Bangen daran dachte, ob das furchtbare Justizoerbrechen Ereignis würde oder nicht tanzt«n in den Großstädten der Union die Söhne der Stahlmagnat«n mit den Töchtern der Viehkönig« zu den Klängen «incr fafhionablen Musikbande Charleston oder Blues... Nicht nur Amerikas Justiz ist mit Verbrechen belastet, auch wir Europäer haben in einer Zeit, die wie keine zuvor sich brüstet niit Zivilisation und Kultur, Schlimmes erleben müssen. Was waren die 12 Jahre Sozialistengesetz, das der Säkularmensch mit der Fiktion sozaüstischer Attentäter begründete, die nur in seiner >md seiner Gefolgsmänner Phantasie exstierten, anders als ein ein- giges großes Justizverbrechen? Frankreich erlebt« seinen Fall Dreyfus, der einen Unschuldigen als Opfer antidemokratischer Rietze jahrelang auf die Todesinsel der Sträflinge verbannte; aber Frankreich erlebte auch, daß sich im eignen Lande ein Entrüstungs- stürm erhob, die Edelsten aufftanden, Emile Zola sein:„Ich klag« an!* in die Debatte schmetterte und die Machenschaften der Reaktion mit Erfolg angeprangert wurden. Ungeheuer war die Empörung. Äs am 13. Oktober 1909 Francisco Ferrer auf der Feste Moni- juich bei Barcelona unschuldig erschossen wurde; und noch noch Jahren gellte hinter dem Wagen des Königs Alphons von Spanien der Ruf:..Mörderl' her. Uns allen ist noch der Fall Felix Fe ch e n. b a ch in allzufrrscher Erinnerung, und täglich melden uns die Blätter von den Verbrechen einer rechtsoerleugnenden Klassenjustiz aus dem faschistischen Italien , dem bolschewistischen Ruhland. Der Justizmord von Chikago. _ In keinem Lande der Welt aber werden Justizmorde so kalt- blutig ousgesührt, so schamlos und scheinheilig mit verlogenen Phrasen von Recht und Freiheit drapiert wie im Lande des reinsten Kapitalismus, in den vereinigten Staaten von Nordamerika . Nichts beweist dies deutlicher als der Justizmord von C h i k a g o vom Jahr« 188 7. Vor kurzem haben wir über dies Ereignis, das ewig einen Schandfleck der amerikanischen Nationalehre bilden wird, berichtet, doch gerade nach der Ermordung Saccos und Vanzettis erscheint es geboten, gewisse Einzelheiten noch genauer herauszuarbeiten. Führen wir uns kurz die Geschichte des Justiz- rnordes vor Augen! Das im Jahre 1878 vom Kongreß der USA . angenommene Gesetz zur Einführung des Achtstundentages für Re- gierungsarbeiten war ein toter Buchstabe geblieben. Deshalb de- schloß im Oktober 1884 die Gewerkschaftssöderation der Vereiniaten Staaten und Kanadas , die in Ehikogo tagte, daß vom 1. Mai Z886 an der Achtstundentag eingeführt werden und jede Gewerkschaft alles aufbieten solle für die Durchsetzung dieses Beschlusses. Im No- vember 1883 bildete sich in Chikago eine Achtskunden-Assoziation. und infolge der Anstrengungen dieser Liga wurde die Bewegung in Chikago ollgemein. Beide Parteien, Kapitalisten und Arbeiter, rüsteten auf den großen Kampf, der für den 1. Mai 1886 erwartet rmrrde, da brach in der Gerätesabrik von McCormick ein Konflikt aus. Am 16. Februar 1886 um �10 Uhr morgens wurde die Fabrik geschlossen, 1200 Arbeiter wurden aufs Pflaster geworsen. Was war der Grund? Die Arbeiter hatten ihre Organisationen vervollkommnet, und aus Wut hierüber suchte die Fabritleitung einen Grund zum Streit, der bald gefunden wurde. Vor» tragswidrig entlieh man die Mitglieder des Arbeiterkomitees, und als sich die Belegschaft beschwert«, schloß man die Bude. Laß sie betteln gehn, wenn sie hungrig sind! Am 2. März fand eine Massenversammlung der Aus- geschlossenen statt, in der vornehmlich dagegen protestiert wurde, daß uniformiert« Polizisten und„Pinkertonianer", die Privatdetektive der Fabrikanten, bis an die Zähne bewaffnet, zur Einschüchterung der Arbetter aufgeboten worden waren. Tagtäglich wurden friedliche Proletarier zu Boden geschlagen und in die Gefängnisse geworsen! Fast allabendlich fanden in den nächsten Wochen Versammlungen statt, bei denen die später zum Teil er- mordeten, zum teil lebendig begrabenen Führer der Arbeiterschaft zumeist die Redner stellten. Am 1. Mai kam es zum allgemeinen Streik. Am 3. Mai er- öffneten die„Pinkertonianer" aus nichtigem Grund auf eine Ansammlung von Ausständigen ein mörderisches Feuer. Sechs Tote und zahlreiche verwundete blieben auf dem Platz. Die E m p ö- rung steg ins Ungeheure, und für den Tag daraus ward eine Protestkundgebung auf dem Heumarktplatz einberufen. Die Polizei traf umfangreiche Vorsichtsmaßnahmen, die Versammlung selbst verlief ruhig, bis die Beamten gegen Schluß der Versammlung als der Platz sich schon fast geleert hatte, mit gezogener Wasfe ein- schritten. Da explodierte plötzlich eine Bombe; niemand weih und niemand wird wohl j« erfahren, wer sie geworfen hat. Ein furchtbares Wüten der Polizei setzte ein: Nach wenigen Tagen waren acht Arbeiter, August S p i e H Albert R. P a r s o n s, Adolf Fischer. Georg Engel , Samuel Fielden. Michael Schwab , Louis Lingg und Oskar Neebe, verhastet. Man erhob gegen sie die Anklage des Mordes, trotzdem auch nicht die
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Spur eines Beweises vorhanden war, daß sie an dem Verhängnis- vollen Bombenwurf in irgendeiner Weise beteiligt waren, und die aufgehetzte Bourgeoisie verlangte ihren Tod. Halte sie doch in ihrer Press« Artikel gelesen wie diesen der„Chicago Times":„Es ist sehr hübsch, wahres Elend zu bessern; aber die beste Mahlzeit für einen lumpigen Vagabunden ist Blei. Man sollte genügende Por- tionen geben, um ihren Appetit und ihre Gefräßigkeit zu stillen". Ein unglaubliches Verfahren begann. Leumundszeugen wurden von der Staatsanwaltschaft gekauft, um, wenn sie ungünstig für die Angeklagten ausgesagt hatten, einen Posten bei der Polizei zu er- halten. Das Urteil war unzweifelhaft, noch ehe der Prozeß an- gefangen hatte. Das wußten Richter und Angeklagte. Siebe» Angeklagte wurden zum Tode durch den Strang, Neebe wurde zu fünfzehn Jahren Zuchthaus verurtellt. Der bürgerliche Mob trium- phiert«! Die acht unschuldig vor den Richter geschleppten Arbeiter hatten sich während des Prozesses wie die Helden benommen. Adolf Fischer rief dem Staatsanwalt zu: ,Jch habe nie einen Mord be- gangen, aber ich kenne jemand, der auf dem Wege ist, ein Meuchel- mörder zu werden, und das ist Staatsanwalt GrinnellI" Oskar Neebe aber sagte, als man gegen ihn 15 Jahre Zuchthaus bean- tragt«:„Nur eins tu, mir leid: wenn es noch geändert werden kann, wenn es noch möglich ist: Lassen Sie mich auch hängen! Es ist ehrenvoller, mit einem Ruck zu sterben, als zollweise getötet zu werden". Auch nach dem Mordspruch flehten die Verurteilten nicht um Gnade. Im Gegenteil: Als von dritter Seite eins Begnadigung angeregt wurde, schrieben Lingg, Fischer und Engel an den Gou- verneur des Staates Jllionis, Oglesby,«inen Brief, in dem es heißt:„Als Mann von Ehre, von Gewisien und Prinzip kann ich keine Gnade annehmen. Ich bin kein Mörder. Wenn ich keine Gerechtigkeit erhalten kann, ziehe ich vor, daß das Urteil vollstreckt wird". Der Verteidiger indessen, der unermüdliche Rechtsanwalt B l a ck, die Arbeiterschaft aller Länder und alle rechtlich Denkenden diesseits und jenseits des Ozeans ließen nichts unoersucht, Gerechtig- keit oder, wenn dies unmöglich war, Gnade zu erlangen. Aber die Verantwortlichen Amerikas blieben hart und unerbittlich. Das Ober- gericht von Jllionis lehnte eine Aushebung ab, wie wir es fast genau so im Fall Sacco-Vanzetti erlebten. D i e Mitglieder
des Bundesgerichts verkrochen sich hinter dürft!» en Entschuldigungen— wie im Fall Sacco-Vanzetti. ouverneur Oglesby blieb bei seinem brutalen Nein,— wie Füller im Fall Sacco-Vanzetti . Nur Samuel Fielden und Michael Schwab wurden zu lebenslänglichem Gefängnis„begnadigt". Für den 11. November 1887 wurde die Hinrichtung angeordnet. Am Tage zuvor hatte sich Louis Lingg den Kopf mit einer Patrone zerschmettert; das halbe Gesicht war ihm fortgerissen. Wie er in den Besitz der Patrone gekommen war, ist ungeklärt. Man legte den Sterbenden, der nichts mehr sprechen, wohl aber noch sehen und hören konnte, auf einen Gefängnistisch, und nun zeigte sich die ganze Herzlosigkeit der Schergen. Die Gesängnisbeamten waren viehisch genug, zu debattieren, ob Lingg, falls er noch lebe, am nächsten Tage gehängt werde, und der Scheriff Matfon erklärte laut:„Ihr könnt überzeugt sein, daß er hängt, wenn er noch lebt!" Lingg starb in stummer Qual. Am anderen Morgen um 1114 Uhr erhoben sich die vier Gefangenen, um dem Henker zu folgen. Sie gingen festen Schrittes und ohne Stütze. Um 12 Uhr 5 JNmuken, am 11. November 1887, war die Exekution vollstreckt, der Justiz- mord vollzogen. Drei Tage später beerdigte Chikagos Arbeiterschaft, in einer Stärke von 150 000 Mann ausmarschiert, die Opfer einer bestialischen Klassenjustiz. Das letzte Wort von August Spies , das er am Galgen sprach, war:„Die Zeit wird kommen, da unser Schweigen im Grab« mächtiger sein wird als unsere Reden!" Sechs Jahre später ordnete John P. A l t g e l d t, Gouverneur von Jllionois, eine neue Untersuchung an. Er stellte fest, daß Unschuldige hingerichtet worden waren. Er tonnte nur noch die drei im Gefängnis Dahinsterbenden begnadigen. Der Justizmord war eingestanden.. Chtkagoer Richter können auch anders. Es war rund vierzig Jahre später, im Jahre 1924, als in Chikago ein Prozeß stattfand, der in den USA . fast das leiche Aufsehen erregte, das 1886 das Versahren gegen August pies und Genossen hervorgerufen hatte. Da aber zeigte sich, daß die amerikanische Justiz auch anders kann und daß nicht immer der Strick oder der elektrische Stuhl verendete Opfer zu fordern brauchen. �wei Millionärssöhne, Richard L o eb und Nathan e o p o l d nämlich, standen vor den Assisen, und zynisch gaben sie zu, einen Studienkameraden, den vierzehnjährigen havardschüler Robert Francks. in Ihr Auto gelockt, entführt und kaltlächelnd ermordet zu haben. Mit blasierter Gleichgültigkeit erklärten sie. es hätte sie gereizr, einmal zu sehen, wie. es ist, wenn jemand stirbt. Sonst hatten sie nichts gegen den jungen Mann. Aufgewachsen in höchstem Luxus, heruntergekommen und müde geworden durch die frühzeitige Kenntnis jeglicher Sinnenlust und jeglichen Lasters. fanden sie keinen Reiz mehr an den faden Freuden, den lang» weiligen Alltäglichkeiten. So jagten sie neuen Reizen nach, und ihre entartete Moral führte sie zum Morde. Beschäftigungslos, wie der Reichtum ihrer Eltern sie machte, fanden sie eben nichts anderes mehr, was ihnen das Dasein schmackhaft gestalten konnte... Aber diese Millionärssöhn« gingen noch weiter: Als Jakob Francks, der Vater des ermordeten Schülers, nach vergeblichem Suchen um seinen vermißten Sohn in seine Villa kam, teilte ihm sein« Frau mit, daß der Vermißte ihr und dem Vater gegen Er- stattung eines beträchtlichen Lösegeldes ausgeliefert würde. Die jungen Snobs wollten die„Sache", die sie zu Mördern gemacht hatte, eben bis auf die Spitze treiben! Es war ein Vcr- brechen aus Ucberfütterung. Wenn die Todesstrafe überhaupt berechtigt ist,— sie i st es nicht!—, so war sie es diesmal! Aber schon der Staats» a n w a l t hielt eine Rede, der man allenfalls, wenn sie der Ver- leidiger geholten hätte, eine Anerkennung hätte zubilligen müssen. Ging es doch um Angehörige der Geldaristokratie, um Söhne von Dollarmillionören! Da mutzte man sich krümmen wie ein Wurm, da mußte man Rücksicht nehmen, selbst wenn man Staatsanwalt war. Trotz alledem konnte die Jury nicht umhin, aus formal- juristischen Gründen zwei Todesurteile zu fällen. Was kommen mußte, kam doch: Die Begnadigung ließ nicht aus sich warten! heute sitzen die beiden Mörder in einem Sanatorium und spielen in ihren Freistunden Polo und Golf... Handelte es sich ja nicht um Anarchisten, Kommunisten, Syndi- kalisten oder Sozialisten,— was für einen hundertprozentigen Pankee ein und dasselbe ist!
Die Justiz Amerikas hat sich schwer belastet, und es ist geboten, die Verbrechen einer extrem kapitalistischen Rechtsprechung vorzu- weisen. Aber wir vergessen nicht die Mahnung, daß, wer sich über Unrecht bei anderen beklagt, zuerst vor seiner eigenen Tür kehren soll. Dazu ist auch bei uns Gelegenheit genug! Immer wieder erleben wir, daß unser Rechtsgefühl sagt: Hier stand ein Angehöriger des Bürgertums vor Gericht, und er fand Milde! Oder ober: Hier war ein Arbeiter angeklagt, und man hat auf die Höchststrose erkannt! Unsere erste Pflicht sei, in Deutschland ein Recht zu schassen, das für alle Bürger des Staates nicht nur formal, sondern auch tatsächlich gleich ist. Wenn wir diesen Kampf ums Recht siegreich bestehen, dann haben wir eine Schanze des Kapitalismus erstürmt, die wohrhast schwer zu erobern, deren Be- zwingung aber unumgängliche Vorbedivgung des endgültigen Erfolges ist.
lllalsarv
töel wie üerRame
Zigarette