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Nr. 442 44. Jahrgang Ausgabe A nr. 225

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Zentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands

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Sonntag, den 18. September 1927

Rakowski muß gehen.

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Kein Bruch mit den Sowjets.- Ein Nichtangriffspakt?

Paris , 17. September. ( Eigenbericht.)

die Erklärung abgab, daß Rußland zum Beweis feines guten Der am Sonnabend in Gegenwart Briands vom Ministerrat Willens, mit Frankreich freundschaftliche Beziehungen zu pflegen, gefaßte Beschluß, die Beziehungen zu Rußland nicht abzu- bereit fei, über ein Nichtangriffsabkommen zu verhandeln, das auch brechen, wird von der gesamten Linkspresse lebhaft begrüßt. Der die westlichen Nachbarn Rußlands umfassen fönnte. Es Beschluß ist, wie wir erfahren, nicht ohne heftige Debatte handelt sich dabei um Bolen und Rumänien , die aber in der zustande gekommen. Die Minifter der Rechten, besonders Marin, Note nicht namentlich aufgeführt sind. Sofort nach der Rückkehr widersetzten sich lebhaft der von Briand vertretenen Auffaffung. Briands aus Genf , wohin er inzwischen zurückgekehrt ist, wird das Aber die Mehrzahl der Minister, auch Poincaré , schloß sich französische Auswärtige Amt Verhandlungen mit Warschau und zuleht Briand an, der ausdrücklich betonte, daß Frankreich im Falle Bukarest über diese Frage aufnehmen. Wenn in der amtlichen Rakowski durch die Desavouierung des Botschafters durch Tschiffche- Mitteilung über den Ministerrat ausdrücklich betont wird, daß rin ausreichend Genugtuung erhalten, habe. Briand sich vorher vergewissern müsse, ob die zum Abschluß eines solchen Abfommens notwendigen Borbedingungen erfüllt ſeien", so scheint das darauf hinzudeuten, daß man sich in Paris über die praktischen Aussichten dieser Verhandlungen feinen zu großen Illusionen hingibt.

Wie jedoch der Matin" mitzuteilen weiß, hat der Ministerrat zugleich beschloffen, in der höflichsten diplomatischen Form der Sowjetregierung befannt zu geben, daß der ruffische Botschafter in Paris , Ratowiti, nicht mehr willkommen sei, und daß es daher der franzöfifchen Regierung angenehm wäre, wenn er fo fchnell als möglich durch eine andere Persönlichkeit ersetzt werden würde.

Diese Meldung des Matin" widerspricht nur scheinbar dem Kommuniqué, das heute nach dem Ministerrat veröffentlicht wurde. Wenn die Regierung in dem heute veröffentlichten Kommuniqué diesem Wunsch nach dem Rücktritt Rafowstys nicht Ausdrud ver. liehen hat, so ift dies anscheinend in der Abficht geschehen, der ruffi­fchen Regierung die Abberufung Ratowftis zu erleichtern und jede überflüssige Kränder russischen Regierung zu ver. meiden.

Die amtliche Mitteilung, daß Briand beauftragt wurde, die Berhandlungen über ein von Rußland vorgeschlagenes Abkom men eines gegenfeitigen Richtangriffes fortzufeßen, hat hier überrascht, denn man wußte bisher nicht, daß ein solcher Borschlag erfolgt war. Briand hat den Ministerrat davon durch die Mitteilung unterrichtet, daß in der Tat Tschitscherin in der jüngsten Note, in der er die Handlungsweise Ratowskis desavouierte,

Langsamkeit der Sowjetjustiz. Ungeheuerliche Dauer der Untersuchungshaft. Mostau, 16. September.

Das Justizkommissariat hat einen Entwurf zur Vereinfachung und Beschleunigung des Gerichtsverfahrens ausgearbeitet. In den Boltsgerichten sollen die eingelaufenen Sachen nicht später als 48 Stunden nach Empfang bearbeitet werden, auch ist eine Er­weiterung der Kompetenzen der Volksgerichte als notwendig er­fannt worden. Bei den Dorfsowjets find Schiedsgerichte einzurichten, die bei geringfügigen Geldforderungen entscheiden sollen, um die Gerichte zu entlasten. Ferner ist in Aussicht genommen, Berbannungsorte in den entlegensten Gegenden der Sowjetunion für Schwerverbrecher einzurichten.

Zu der geplanten Reform schreiben die offiziösen" swestija": Es handelt sich besonders darum, die Langsamteit des Ge richtsverfahrens zu beseitigen. In den Bolksgerichten werden Kriminalfälle durchschnittlich etwa zwei bis fünf Monate hindurch untersucht und verhandelt. Wenn man nun in Betracht zieht, daß gegen 70 Broz. dieser Fälle zulegt entweder mit Freispruch endigen oder mit der Einstellung des Verfahrens, so folgt daraus, daß eine ungeheuer große Zahl von Personen etwa ein Bierteljahr lang ohne jeden Grund unter ge= richtlicher Untersuchung steht."

Wohnungsnot- wie bei uns!

Der Trud"( 9. September 1927 Nr. 205) bringt folgenden

Arbeiterbrief aus Mostau:

,, Die 18 großen vier Stockwerke hohen Arbeiterhäuser der Zindel­schen Fabrik waren ehedem in gutem Stande, weil alle drei bis fünf Jahre Ausbefferungsarbeiten vorgenommen wurden. Jetzt sind aber bereits 15 Jahre verflossen, ohne daß Instandsegungsarbeiten erfolgt wären. Die Dächer sind nicht gestrichen worden, das Blech verrostet, es bilden sich Löcher. Die Fensterrahmen sind derart ver­fault, daß die Fenster herauszufallen beginnen. Die Küchenräume find so verrußt, daß vom weißen Anstrich feine Spur mehr zu sehen ist. Von der Decke fällt der Ruß in die Kochgeschirre. In den Wohnräumen tropft es von der Decke und der Kall bröckelt ab, so daß allenthalben die Bretter und Nägel hervortreten. Dabei fann man nicht behaupten, daß die Fabrit arm sei. Wir führen doch Rationalisierung durch und erhöhen die Arbeits­ergiebigkeit. Alles das bringt dem Trust große Gewinne. Sollte er tatsächlich keine Mittel haben, um die Häuser instand zu fetzen, statt zu warten, bis die Wohngebäude der Arbeiter sich in Ruinen verwandeln?"

Warum neue Wohnungen so teuer find. " Trud" vom 8. September 1927, Nr. 204:

Eine unlängst durchgeführte Untersuchung der Bautätigkeit in ber Union während der letzten Jahre hat eine Reihe von Umständen ertennen lassen, durch die die Kosten des Wohnungsbaues unge mein gesteigert werden, mas zur Folge hat, daß die Woh

Wiederanknüpfung mit England?

London , 17. September.

Der diplomatische Korrespondent der Westminster Ga zette" berichtet, er habe Grund zu der Annahme, daß in aller nächst er 3eit die Sowjetregierung einen Berfuch machen, würde, Berhandlungen zur Wiederherstellung normaler Beziehungen mit England zu eröffnen. Die Basis der Berhandlungen würde die Regelung der Ansprüche britischer Gläubiger sein, wogegen die Sowjetregierung britische Stredite zu normalen Bins fäßen für die Entwicklung der russischen Industrie zu erhalten hoffe. Die Frage einer eventuellen Aufnahme diplomatischer Be ziehungen fönne mit diesem Projekt in Zusammenhang gebracht werden. Im Augenblick würden halboffizielle Fühler aus geftredt. Sobald die Revolutionsfeiern in Rußland porüber seien, würde im Oktober die Angelegenheit mit großer Energie verfolgt merden.

nungen in den neuerbauten Häusern für geringer befoldete Arbeiter­gruppen unerschwinglich find. Ungeachtet eines Ueberschusses an Behörden, deren Aufgabe darin besteht, die Blanmäßigkeit im Wohnungsbau durchzuführen, werden etwa 50 Broz. aller Auf­wendungen für den Wohnungsbau außerplanmäßig bewidigt. Außer: dem sind die Kostenvoranschläge für den Wohnungsbau nicht in Uebereinstimmung gebracht worden mit der Erzeugung der Baumaterialien, und der verspätete Beginn der Bausaison Deranlaßt eine Berteuerung dieser Materialien und zeitigt Schwierigkeiten hinsichtlich der Arbeitskräfte. Die Qualität der Baumateralien ist nach wie vor eine sehr geringe. Das Holz wird in feuchtem Zustande verarbeitet, und der Bruch von Ziegeln und Glas ist sehr groß.

Außerdem führen die hohen Binsfäße für Darlehen zu einer Bohnungen in den neuen Häusern bezogen haben, sehen sich vielfach weiteren Verteuerung des Wohnungsbaues, und Arbeiter, die bereits genötigt, wieder auszuziehen, weil sie nicht in der Lage find, die Wohnungsmieten zu bezahlen."

Rockefeller- Stiftung in Genf . Einweihung eines Institute für internationale Politik.

Genf , 17. September.

Der schweizerische Bundesrat und die Kantonal- und städtischen Behörden von Genf hatten die in Genf anwesenden Bertreter der fremden Mächte, die Presse und einen Kreis ausgewählter Personen der Einweihung des in Genf neugegründeten Universitäts . zu einer Festlichkeit in die Räume des Theaters geladen. Es galt instituts für internationale Politif, das unter Leitung Mantoux, mit Mitteln der Rockefeller- Stiftung ins Leben tritt. des bisherigen Direktors der politischen Abteilung beim Bölferbund, Bei der Beranstaltung sprachen u. a. der schweizerische Bundespräsi­dent Motta, der französische Delegierte Louche u'r, der englische Sir Cecil Hurst, der belgische de Broudère und Reichstags­abgeordneter Dr. Breitscheid, der mit seinen in deutscher Sprache vorgetragenen Ausführungen über Grundgedanken und Aufgaben einer solchen internationalen politischen Hochschule besonders reichen Beifall erntete.

China soll nicht Vorsitz führen.

Condon, 17. September. Der diplomatische Korrespondent des Daily Telegraph " wendet sich dagegen, daß auf der Bölferbundratstagung im fommenden De­zember China den Vorsitz führt. Es sei zu hoffen, daß angesichts des Fehlens einer China repräsentierenden Regierung und des Rückstandes der Finanzbeiträge zum Bölkerbund der chinesische Delegierte die Bescheidenheit besigen würde, das ihm nomi­nell zustehende Recht auf die Präsidentschaft aufzugeben. Diese Uebernahme würde einen Standal und eine Sinnwidrigkeit bedeuten. Es wäre wünschenswert, etwas über die Tätigkeit des Komitees zu hören, das sich mit der Stellung von nichtzahlenden Mit gliedern beschäftigt.

Vorwärts- Verlag G.m.b.H., Berlin SW. 68, Lindenstr.3

Boftichedtonto: Berlin 37 536 Bankkonto: Ban! der Arbeiter, Angeftelten und Beamten. Wallstr. 65: Diskonto- Gesellschaft, Devontentafe Lindenstr. 3.

Tannenberg.

Randbemerkungen zu einer Denkmalsweihe.

In Genf stockt die Arbeit für den Frieden, rund herum in der Welt ergeht man sich in Erinnerungen an den Krieg. In Belgien enthüllt man Denkmäler zum Gedächtnis der Greuel vom August 1914, in Paris empfängt man mit Pomp die amerikanischen Legionäre, und in Tannenberg wird heute das Dentmal eingeweiht zur Erinnerung an die große Schlacht, die dem russischen Borstoß nach Ostpreußen ein Ende bereitete. In allen Ländern benützen die Nationalisten die Gelegenheit, den Geist zu feiern, in dem die verschiede­nen Befreiungstaten des großen Krieges vollbracht und seine Schlachten geschlagen worden find. Da und dort flingen dabei Töne an, als ob sich der eine oder der andere nach jener fchönen Zeit zurücksehnte..

Nun fann gar kein Zweifel daran sein, daß die Gefühle, mit denen die Völker die damaligen Ereignisse begleiteten, tief und echt waren. Auch der letzte belgische und französ sische Arbeiter hat den Rückzug der Deutschen begrüßt, und ebenso war im Herbst 1914 in Deutschland der Jubel über das Mißlingen der russischen Invasion allgemein. Die Zeiten, in denen die Völker einrückende feindliche Heere mit angenehmen Erwartungen aufnahmen und die Herren Bürgermeister mit denselben Untertänigkeitsgefühlen vor dem Stadttor standen, gleichviel welcher Eroberer es gerade paffierte, sind ein für allemal vorbei. Die zunehmende Demotratifierung des öffentlichen Lebens hat es mit fich gebracht, daß sich jede Bevölkerungsschicht, mag auch ein noch so starter sozialer Drud auf ihr lasten, nach außen hin doch mit dem Staatsganzen verbunden fühlt. In diesem Sinn ist für unsere Zeit das Wort wahr geworden, daß sich das Nationale nicht das Nationalistische von selbst versteht.

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hängen feine Ahnung. Sie begreifen nicht, daß die Siege, Unsere Nationalisten haben aber von folchen Zusammen­die im Weltkrieg mit wechselndem Glück bald dem einen, bald dem anderen zufielen, mit bloßer Untertanengesinnung nie zu erstreiten waren. Sie sehen daher auch nicht den Grund ein, warum auf den Schlachtfeldern des Weltkriegs als erfte Macht diejenige zusammenbrach, die sich auf die bloße Untertanengesinnung am meisten verlassen hatte 8 aristische Rußland .

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das

Der Zusammenbruch des zaristischen Rußlands hat bei Tannenberg eingesetzt. Er war, noch lange ehe die Kanonen auf den übrigen Schlachtfeldern der Welt schwiegen, voll­endet. Bedauern über diese Tatsache hat es damals kaum in, Deutschland gegeben bei den arbeitenden Massen ganz gewiß nicht. Denn von allen unerträglichen Vorstel­lungen war die, daß der Barismus als Sieger hervorgehen und Teile des Deutschen Reiches unter seine barbarische Knutenherrschaft bringen fönnte, die allerunerträglichſte. Es die damals so eifrig folportiert wurden, um den Massen des bedurfte wahrlich nicht der Geschichten über Kosafengreuel, deutschen Volkes gegen einen möglichen Besuch der zarischen Heere in Königsberg und Berlin die allerentschiedenste Ab­neigung einzuflößen.d

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Die deutsche Generalität gab sich übrigens damals sehr sehr revolutionär. Schon zu Beginn des Krieges wurde z. B. liberal und soweit die Revolution Exportartikel mar an Sozialdemokraten die etwas naive Frage gerichtet, ob sie nicht ein paar zuverlässige russische Anarchi­ste n" zur besonderen Verwendung im Rautafus nachweisen tönnten. Von da bis zu dem berühmten plombierten Zug, in land zurückgebracht wurden, geht eine gerade Linie. dem die russischen Bolschewiki aus der Schweiz in ihr Bater­

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Gerade die vielzitierte Auguststimmung", der so oft her­aufbeschworene Geist von Tannenberg" sind Kronzeugen gegen die blödsinnige Dolchstoßlüge. In jedem Volke, das sich von einer militärischen Invasion bedroht sieht, ist der Ab­mehrinstinkt elementar, und er war im deutschen Bolte sicherlich nicht geringer als im belgischen und im fran­zösischen. Wenn also die herrschenden Mächte Deutschlands den Krieg als einen Verteidigungstrieg mit dem Ziel eines Friedens der Selbsterhaltung führen wollten und das war das einzige Ziel, das sie sich vernünftigerweise steden konnten dann fehlte es ganz gewiß nicht an Kräften zur Ausführung dieses Rettungsplans.

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Heute aber fann fein rauschendes Fest über die Tatsache hinwegtäuschen, daß es nicht das Volt, sondern die Führung war, die versagte. Der Sieg von Tannenberg befreite Ost­ preußen und gab dem 3arismus den ersten furchtbaren Stoß - aber er wurde erkauft durch die Vernachlässigung der Westfront und die Niederlage an der Marne , die den Ausgang des Krieges schon vier Jahre vor seinem Ende ent­schied. Eine schrankenlose Verherrlichung der militärischen Führung Deutschlands im Kriege muß man daher im Inter­esse der geschichtlichen Wahrheit ablehnen auch wenn man