Vonnerstag 29. September 1927
Unterhaltung unö �Nissen
Seiloge des vorwärts
Leichtsinn. Don Else Aeldmann. Bei uns in der jtüche ist es sehr heiß. Dann geht die Tür nach dem Hof aus, Zugluft trifft einen bis an die Knochen wie Schläge und in kurzer Zeit hat man Rheumatismus . Der Kassenarzt sagt beinahe flüsternd, als wäre es nur eine Formel, die für den Patienten keine Gültigkeit hat: «Na ja, Kur machen— vorbeugen; das können Sie wohl nicht?" »Nein. Muh verdienen." Können sich nicht von der Kronkenkasie ins Heilbad schicken lassen— für kurze Zeit?" .Nein, muß verdienen." .Sie sind?" .Kaffeeköchin." .Wären Sie ja versorgt für Wochen." .Könnt die Stelle verlieren. Muß fürs Kind zahlen." „3a so. Dann also Aspirin bis zu drei Stück bei argen Schmerzen." „Vielleicht einreiben?" „Kann nicht schaden. Guten Tag." Na also, etwas Gefährliches ist es nicht. Schmerzen hält man aus. Milli, die mit Gebäck und Kuchen herumgeht, und ein weißes Häubchen aufhat, sagt jeden Tag: „Nein, von den Gästen schaut einen keiner an, denen ist man Luft: ich schäme mich, wenn ich einmal von einem Trinkgeld nehmen soll, der mich mit netten Augen ansieht: zum Weinen ist es mir." „3ch sage Ihnen, bleiben Sie solid, lassen Sie sich in keine Aben- teuer ein," rät ihr die alte„Gorderobefrau", die zwei ungeratene Söhne hat, sonst aber ollein ist:„nehmen Sie«inen Kellner." „Kellner?" Milli zieht ein Mäulchcn. .3a, das schlägt in ihr Fach, nur mit einem solchen kann man sich verstehen, der vom gleichen Geschäft ist: oielleicht macht man sich einmal selbständig." „Ach die Kellner, lauter kränklich? Menschen, nur äußerlich auf- gepulvert— der Dienst ruiniert— Halbinvaliden." „Schauen Sie Luis« an, die ist schon fast außer Kurs. Der Kellner 3gnatz will sie noch, den will sie nicht: sie schielt nach Hans, dem jungen." So unterhält man sich über mich, Luise bin nämlich ich. 3a, ich schwanke zwischen 3gnaz und Hans. Aber wie es schon so geht: die Alten brauchen Pflege, die 3ungen sind untreu. 3ffnaz hat feit 3ahren ein« kranke Frau im Spital liegen. .3etzt dauert es nicht mehr lang mit dar Armen, vielleicht noch ein halbes 3ahr," und 3gnaz macht mir Hoffnung. Aber mir ist nichts mehr neu an ihm. 3ch kenne die Tage, wenn seine Gallensteine sich rühren, dann ist er mißlaunig und grob: sagt sogar zur hübschen Milli: blöde Gans— nichts wirkt auf ihn.— Wenn man im Saal„Zahlen" ruft, torkelt er hinaus, sonst lehnt er in der Nähe des Herdes. Mir sogt er nie ein schlimmes Wort, in mir achtet er die künftige Gattin. 3ch werde es mir noch gut überlegen. Er ist durch und durch marode. Manchmal, wenn er schwitzt, tropft ihm vom gefärbren Haar braunes Wasser hinunter. 3ch mach ihm deshalb keinen Vor- wurf, e>r tut's nicht aus Eitelkeit— grauköpfig« Kellner entläßt man. Aber man steht alles so deutlich, wenn man täglich nah bei- sammen ist— und verliert den Geschmack. — Seit ich weiß, daß er am rechten Fuß nur vier Zehen hat— seit seiner Fuhverletzung, da wir ihm Tonerdeumschläge machten... Gut, auch«in Mann mit vier Zehen ist noch immer ein Mann. Aber es ist«in bißchen schauerlich, daran zu denken: und wenn er auch niemals ausfällig gegen mich wird, wie gegen Milli oder die alte Frau Mali, so hat er eben nicht übertrieben viel Freundlichkeit für mich— danach aber verlangt mein Herz. — Das Liebenswürdigste, das er mir zu sagen weiß, ist: „Na also, es geht bald zu Ende, gestern war ich dort; die Arme wird bald ausgelitten haben." Und sieht mich mit seinen entzündeten Augen an, in denen nur Gram und kein Zukunftslicht zu selben ist. Und dann schweig« ich und denke nur: ach, das heißt nicht viel. Und er muh meine Gedanken erraten, gebeugt schleicht er davon, als hätte ich ihn bestraft. Daß zwischen Hans und mir etwas ist, ahnt er nicht, so sehr ist er eingesponnen in olle seine Leiden. 3a, Hans, der ist freilich intakt und verursacht mir öfter am Tag Herzklopfen. Aber ich komme nicht von der Stelle mit ihm. Unsere Zusammenkünste sind immer voll Hindernisse. Er hat noch keinen Groschen für mich ausgegeben. 3ch für ihn hingegen... Da kam sein Nomenstag, entschloß ich mich, ihm den Ring, den ich meinem toten Bräutigam von, Finger gezogen, zu geben. Der Ring ist Gold, und wenn ich ohne Stelle und in Not war, könnt' ich ihn immer zu Geld machen und«in paar Tage davon leben. Da kam plötzlich der Gedanke über mich: schenkst ihm den Ring. Und er?— Was tat er? Hat ihn lachend genommen und sich kaum bedankt. Wie aber mein Namenstag war und sie mir in der Küche gratulierten, da hat er nichts für mich gehabt, weder ein Wort, noch ein Geschenk?— im Gegenteil: ein Stammgast, den ich seit langem kenn«, hat mir bei einer Frau ein paar Blumen gekaust, billige Blumen, aber ganz schön. Als Hans sie im Glas erblickte, kam er mit der Frage: Wem gehören sie? „Mir." „Könntest mir einige schenken?" „Bitte, nimm dir alle." 3ch schämte mich nicht— Liebe und Leidenschaft können den Menschen verändern— das weiß jeder. Als er ging, schlich ich ihm nach, sah, daß er meine Blumen einen, Mädel gab, dos ihn in einem Gasthaus erwartete. Was nun? sagte ich mir. Aufhören? Schluß machen mit dieser Sache? 3hn ignorieren? Dann aber muß ich täglich seinen blonden Scheitel sehen, seine lächelnden Augen und den schlanken Rücken im schwarzen Rock und mir wird schwach. „Wir könnten einen Ausflug machen," sagte er.„Samstag ist mein freier Tag." „3ch habe bis 3 Uhr nachmittag Dienst" „Gut, dann kommst du mir nach, löst«ine Schiffskarte, nimmst dir Proviant mit." „3ch kann nicht: diesen Monat muß ich sparen, muß fürs Kind zahlen: meine Schuhe besohlen lassen. Wenn schlechtes Wetter ist, Hab' ich die Füße naß— dos ist bös bei meinem Rheinnatismus." Er schwieg.
9er Maulkorb öer üeutsthnationalen presse.
hergt:»Nichts mehr erwidern zur kriegsschulöfrage! der Worte sinö genug gewechselt, jetzt lassen wir— keine Taten sehn!'
Aber an, Samstag kam ich doch. Um 3 Uhr fuhr ich ihm nach. die zerrissenen Sohlen sieht man noch nicht— und solange das Wetter schön bleibt— höchstens riskier ich einen Schnupfen. Wie lange dauert noch die 3ugend? Ein bißchen Leichtsinn schadet nichts. Ohnehin heißt's nicht viel. Und w«nn die alte Frau Mali mich nächstens wieder fragt:„Also wie steht's? Der 3g, mz oder der Hans?" Kriegt sie meinen alten Erfahrungssatz zur Antwort: daß die Alten nur Pfleg« brauchen, di« 3ungen aber untreu sind. Sonst gibt es nichts? O ja. Daß sie sowohl Pfl«ge brauchen, als auch untreu sind. Darum lieber Leichtsinn, als gar nichts haben...
Zola öer Sozialist. Zu seinem 25. Todeslage. Von Kurt Offenburg. Man muß mir die Titel der Romane nennen—„Geld", „Der Bauch von Paris".„Germinal ",.Zusammenbruch" usw.— um zu erkennen, daß Zola , und er als erster Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, als er diese Romane schrieb, ein neues Stück Leben für die Literatur erschlossen hat: die Masse. Die Gesetze der Klassenschichtung waren, als Zola seine Werke entwarf, noch kaum bekannt: der Kapitalismus war noch in den Ansängen seiner Entwicklung. Balzac hat in seiner„Menschlichen Komödie" den Einzel- menschen im Kampf für und gegen die Gesellschaft gemalt. Zola erst hat die Seele der Masse gestaltet, die Gemeinschaft gefühlt, die die Enteigneten und Enterbten, das Proletariat, zusammen- schmiedet gegen den Würgengel Kapital. Es war kein Zufall, daß dieser Dichter den Weg zum Volt gefunden hat. Die psychologische Feinmalerei Stenbhals, die skeptische Sezierkunst Flauberts war der starken Natur Zolas fremd. Er selbst, der Mensch Zola , empfand nach einfachen Gesetzen: er glaubte an die Zukunst, an den Sieg der Wahrheit und der Gerechtigkeit, und er erkannte in dem einfachen Menschen der Masse den Bruder. Er wollte nichts anderes gestalten als das Schicksal, das allen Gliedern einer Gesamt- heit gemeinsam ist. Sein Held ist nicht mehr der besonders geartete Einzelmensch, dessen Schicksal so oder so verläuft: Sein Held i st d i e M a s s c. Es sind die Bergarbeiter in„Germinal", ihr Elend und ihre Empörung, ihr heroischer Kamps und ihre verzweifelte Niederlage: in„Zusammenbruch" ist der Mittelpunkt das Kaiser - reich: und selbst da, wo die Einzelgestalt Trägerin des Geschehens ist, ist sie nur Typus: Symbol einer Lebensgemeinschaft. 3n „Mutter Erde" ist das nie endende Ringen des Bauern ums arme Brot, das Leben und Vergehen des primitiven Menschen im Ur> schlämm der nährenden Mutter Erde: in„Schnapsbruder"(„Tot- schläger") ist das hoffnungslose Ende geschildert, des von der tätigen Schicht der Arbeit ausgeschiedenen und für den Kamps und das Werk verlorenen Lumpenproletariats gestaltet. 3n„Bauch von Paris" sieht man einen Querschnitt durch die oerschwindende Welt des Kleinbürgertums von Paris , die üppigen Farben und Gerüche des Fraßes, der der Großstadt von den kleinen Leuten— Metzgern, Bäckern, Gärtnern, Geflügelhändlern, Fischern und ihrem Anhang— geliefert wird. Nirgends sucht und findet der Dichter das individuelle Einzel- erlebnis. Der allgemeine Gott steht groß und tragisch notwendig hinter Freude und Leid der Menschen. Die Natur, die Familie, der Beruf, der Staat, das Geld, der Glaubcnswahn stitd die Motoren, aus denen man dos Einzelschicksal gespeist sieht. Dieser Dichter erkannte so intuitiv die ökonomische Entwicklung der Zeit, daß seine Gestaltungen etwas von Prophetie haben. Er wußte nichts von den Gesetzen des historischen Materialismus, als er im„Paradies der Damen " die Umgruppierung des Waren- Handels voraussagte. Dieser Roman wirkte auf das Publikum der achtziger 3ahre wie eine kühne Phantasterei: aber der Autor selbst hat noch erlebt, daß die 3dee seines Romans— die Aufzehrung des Einzelhandels durch das Warenhaus, die Erdrosselung der Einzelexistenz durch das Großkapital— sich in der Wirklichkeit in einem gigantischeren Maßstab erfüllte, als sich die Phantasie dieses Sehers ausgemalt hatte. Alle diese düsteren Gesichte, die in Zolas Gestaltung lebendig wurden, haben nicht seinen Glauben gemindert. Er fühlte, wie er die Ungesetzlichkeit und Unmoralität seiner Zeit fühlte, daß das Recht und die Notwendigkeit der 3dee siegen müssen. Er hätte im Dreyfus-Prozeß, der ganz Frankreich in zwei Lager teilte, nicht für die schwache Partei der Wahrheit gezeugt, wenn er nicht geglaubt hatte, daß er dadurch für die Ewigkeit zeuge. Er glaubte an das Gute, an das Glück, glaubte an die Möglichkeit einer sozialen und gerechten Verwaltung aller Güter dieser Erde.
Man kann zehn Romane von Zola nacheinander lesen: zehn Bände, die voll ausschweifender Beschreibung, überhäuft von pathetischen Steigerungen, von Vcrgröberungen sind, und man wird nicht ubersättigt. Bild reiht sich an Bild, Ereignifle überstürzen sich, eine ganze Welt von Menschen, niedrig und stürmisch, gut- mütig und boshaft, lebensträchtig und sentimental, streberisch und ursprünglich, naiv und lüstern, tanzen den Ringelreihen des sozialen Lebens. Zolas Menschen stehen, wie der Meister, der sie schuf, in einem sehr einfachen Dasein mit heftigen Effekten von Licht und Schatten, von Gut und Böse. Soweit der Roman Zolas Forin hat— und er hat Form im Vergleich zum tausendmal literarischer gearbeiteten deutschen Roman — entspringt sie der natürlichen Anlage des Romanen sür Abrundung und Gleichgewicht. Die Entwicklung, die Zola in der Rougon-Macquart-Rcihe, dieser endlosen Geschichte einer Familie unter dem zweiten Kaiser - reich, zugrunde legt, ist keineswegs von innerer Notwendigkeit und auch keineswegs zwingend in ihrer Folgerung. Es mag sein, daß die damals aktuellen Vererbungstheorien für Zolas enthusiastischen, leicht entzündbaren Bildungstrieb so etwas wie eine höhere Weihe für sein Werk zu versprechen schienen. Der Entwicklungsgedankc fiat Zola vielleicht nur gedient, um in dem brandenden Chaos einer Eindrücke und Einfälle einen Weg zu haben, um sich nicht in der Maßlosigkeit der Stoffe zu verlieren(denn, wo gibt es einen Stoff, j>er diesen Giganten nicht gereizt hätte?). Die Einzelromane aus der Rougon-lDWquart-Reihe sind, wie alle Werke Zolas, dramatische Darstellungen des sozialen Menschen in seiner gesellschaftlichen Lagerung: sind Beute. die sein stürmischer Blick aus der interessanten Bühne des Lebens einfing, um seine Gestalten wie Spielzeug zu packen und zu be- wegen; sind kaleidoskopische Bilder, zusammengeschüttelt zu starten Kontrasten von Gut und Böse. * Die unversiegbare jugendliche Schöpfungslust dieser 3ünglings- kraft, der himmelblaue fortschrittgläubige 3dealisnnis, der nie die Spannungen der Pubertätsjahre verlor, gibt Zolas grandiosem Werk die blendende Färbung: zeigt sich in seinem Leben aber als drollige Mischung von Heroismus und Spießbürgerei. Zola hat in der Dreyfus-Affäre die fast hoffnungslose Partei der Gerechtigkeit ergriffen: er hat seinen Ruhm, seine schwer er- rungene Popularität, sein Vermögen, sogar sein Leben aufs Spiel gesetzt. Das ist die eine Seite. Die andere Seite: als Vollard , ein Freund C�zannes, den Dichter um die Briefe des großen Malers bat, hatte Zola nur seine eigenen Briefe(Briefe voll schulmeisterlicher Belehrungen) als die allein wertvollen dieser ganzen Korrespondenz ausgehoben: ESzannes Briefe jedoch vernichtet, obgleich alles, was der Maler schrieb, über- raschend und ursprünglich war, aber„um keinen Preis der Welt hätte ich(Zola ) gewollt, daß sie von anderen gelesen werden: wegen dieser etwas nachlässigen Form".— Beides: opferfreudiger Heroismus und selbstgefällige Eitelkeit stammt aus einer Quelle, aus der Natur eines mächtigen, ewig kindlichen Temperaments, das in seiner Größe und seinem bezwingenden Reichtum jedes Werturteil sprengt— und über alle Kritik erhaben ist. Die hinreißend« Güte, mit der sich Zola auf die Seite der Armen stellte, diese instinktive Beredsamkeit sür die Schwachen, ent- sprang aps seiner natürlichen Hilfsbereitschast und wirkte mit jener bezwingenden Suggestion, die nur das echte Gefühl auszugeben hat. Zola , der Zeitgenosse von Karl Marx , kannte noch nicht dessen Theorien des historischen Materialismus: aber wie die Lehre von Marx nicht ohne das instinktive Gefühl der Empörung gegen die Unnatur der bestehenden Gesellschaftsordnung gefunden worden wäre— so sind Zolas Voltsschilderungen nicht zu denken ohne sein gefühlsmäßiges Wissen von der Schönheit und Macht und dem Reichtum des Volkes. Man braucht nicht zu beweisen, wie unzählig viele Proselyten diese Werke gemacht haben, in wie vielen Seelen sie das schlum- mernde Empfinden für das soziale Elend geweckt haben. Wind und Lungentuberkulose. Die Frage nach der Bedeutung des Klimas für Entstehung und Verlauf der Lungentuberkulose ist neuerdings in Frankreich Gegenstand eingehender Beobachtungen gewesen. Es stellte sich dabei heraus, daß derjenige Teil d«r Be- völterung, der„starken regenbringenden und vorherrschenden Winb«n" ausgesetzt ist, wesentlich mehr unter Lungentuberkulose zu leiden hat als die anderen, die in windstilleren Gegenden leben. Bei der erstgenannten Gruppe ist die Häufigkeit der Erkrankungen an Lungentuberkulose weit höher, die Sterblichkeit ungleich bedeutender, dagegen ist die Zahl der Heilungen viel geringer als bei der zweiten klimatisch günstiger gestellten Kategorie. Vor ollem scheint die Statistik dafür zu sprechen, daß weniger die Feuchtigkeit als die Wirkung des Windes ausschlaggebend ist. Starke und häufige Winde lösen schädigende Abkühlung und Ermüdung des Organismus aus und setzen auf diesem Wege die Widerstandsfähigkeit des Körpers gegen die Tuberkulose herab.
t.