— Zentral- Genofsenfchaftsrasse. Der„Reichs- Anzeiger" veröffentlicht eine königliche Verordnung, betreffend die Bildung des Ausschusses bei der Zentral- Genossenschaflskasse. Die wichtigsten Paragraphen derselben lauten: § 1. Der Ausschuß der preußischen Zentral-® enossenschafts lasse besteht aus: 1. dem Direktor der Kasse, 2. je einem Kommissar des Finanzministers, des Ministers für Landwirthschast, Domänen und Forsten, sowie des Ministers für Handel und Gewerbe 3. den sonstigen auf je drei Jahre von den vorgenannten Ministern zu berufenden Sachverständigen, 4. die Gesammtzahl der Mitglieder hat dreißig nicht zu übersteigen. § 3. Der Ausschuß ist wenigstens einmal jährlich, sonst nach Bedarf, von dem Vorsitzenden unter Mittheilung der Tages- ordnung zusaminenzuberusen. Mit Genehmigung des Vorsitzenden können auch nachträglich Gegenstände auf die Tagesordnung ge setzt werden. Z S. Dem Ausschuß ist Kenntniß von dem gesammten Stand der Geschäfte zu geben; er ist berechtigt, seinerseits Vorschläge über die etwa gebotenen Maßregeln zu machen.— Insbesondere ist der Ausschuß gutachtlich zu hören über: 1. die Grundsätze für die Kreditgewährung, namentlich die Höhe des Zinsfußes die Fristen und die Sicherheitsleistung; 2. die Grundsätze für die Annahme von Spareinlagen; 3. die Bilanz und die Gewinw berechuung.— Allgemeine Geschäflsanweisungen und Dienst instruktionen sind dein Ausschuß alsbald nach ihrem Erlaß zur Kenntnißnahme mitzutheilen. — Die Umfrage in Sachen der Apotheken reform, welche von der„Pharmaceutischen Zeitung" einge leitet worden ist, hat folgendes. Ergebniß gehabt: Es sind bis zum 10. Oktober 2143 Antworten eingegangen. Davon haben gestimmt: 1. für die Realkonzession 939, 2. für das gemischte System 735, 3. für die Verstaatlichung 127, 4. für die Niederlassungssreiheit 55, 5. für die reine Pev sonal-Konzession 21, 6. für verschiedene Systeme 229, 7. Genaue Antworten abgelehnt 7. Von den 229 Einsendern. welche für verschiedene Systeme gestimmt haben, haben sich ent- schieden: 160 in erster Linie für Realkonzcssion, 63 für das ge mischte System, 2 für Personalkonzession, 4 für Niederlaffungs freiheil. Dr. Bötiger, der Redakteur der„Pharmaceutischen Zeitung", wird nunmehr eine Denkschrift über das Apotheken wesen ausarbeiten und allen maßgebenden Behörden, sowie, wenn es nöthig ist, auch allen Reichstags- und Landtags-Abgeordneten überreichen.— eber die Briefe deS Freiherrn v o H a m ny/l stein bringen die Zeitungen täglich neue Ver muthzMen. Es genügt uns dies zu konstanliren. Wir haben die Aufgabe, all das richtig zu stellen, was andere Blätter en und ersinnen.— München , 16. Oktober. Kammer der Abgeordneten Aus der Tagesordnung stehen drei Anträge Lerno(Zentrum). Ratzinger(Bauernbund) und Löwen st ein(Sozialdemo- k r a t) auf Zl band er ung des Hei mathsgesetzes. Der Minister des Innern Freiherr v. Feilitzsch erklärt, die Regierung stehe noch heute auf dem Standpunkte des Antrages Lerno, welchen die Kammer der Reichsrüthe abgelehnt habe. Die Regierung erwäge. auf welchem Wege die Einwände der Reichsrüthe zu beseitigen seien; sobald diese Erwägungen zum Abschluß kämen, würde sie einen Gesetzentwurf auf Abänderung des Heimathsgesetzes ein- bringen.(Beifall.) Angesichts dieser Erklärung zieht Lerno seinen Antrag zurück. Im Laufe einer längeren Geschästsordnungs Debatte erklärt Freiherr von Feilitzsch, er könne über den Zeitpunkt der Einbringung keine bindende Erklärung ab- geben; die Sache werde jedoch für eine brennende erachtet und die Vorlage baldmöglichst fertig gestellt werden. Darauf zogen auch Dr. Ratzinger und Löwenstein ihre Anträge zurück. Auf der morgigen Tagesordnung steht die geschäftliche Ve. Handlung des Antrages Grillenberger, betreffend die Ertheilung eines Mißtrauensvotums an die Regierung. Die„Franks. Ztg." schreibt zum Antrag Grillenberger und zur Charakterisirung des Zentrums ganz treffend folgendes: „Ein dem Ministerium zu ertheilendes formelles Mißtrauens- votum ist in deutschen Parlamenten nicht zu häufig, in Bayern genießt der Antrag sogar den Reiz der Neuheit, da eine Be- schlußfassung in dieser Form bisher nicht vorgekommen ist. Das neue an dem Antrag vermehrt offenbar das Unbehagen, niit dem die Politiker der beiden großen Parteien ihn sichtlich aufgenoimnen haben. Gan� besonders das Zentrum versetzt er in eine nicht geringe Verlegenheit, die sich in allerhand Seitensprüngen offenbart. Diese Partei weiß sich in Bayern , manchmal mit Geschick, inanchmal ziemlich tölpelhaft, den Anschein eines besonders rücksichtslose» und unerschrockenen Vorgehens zu verschaffen. Sie ist reformfreundlich bis in die Knochen, sie steckt voller weit- ausschauender Pläne, sie will die volksthümlichste Politik, sie wüthet bei passender und unpassender Gelegenheit gegen die Minister— aber im entscheidenden Moment thürmen sich ihrem Vorgehen immer unüberwindliche Hindernisse entgegen und es bleibt alles beim alten. Was hat sie in der letzten Session nicht alles an wirlhschaftlichen Reformen versprochen— um hinterher wie Kronos die eigene» Kinder zu verschlingen. Ein klassisches Beispiel ihrer Schaumschlägereien bildet auch die Behandlung des Wahlrechts. Unzählige Male hat sie dessen Reform den Wählern zugesichert, als aber die Möglichkeit dazu vorhanden war, warf sie sich durch die Fiktion der Unmöglichkeit einer Verfassungsänderung unter der Regentschaft die Thür selbst vor der Nase zu. Ganz genau nach diesem Muster arrangirte sie die Fuchsmühler Interpellation. Die entscheidenden Fragen wurden möglichst abgeschwächt gestaltet, dann aber ein großes Wortgefecht mit einer„vernichtenden" Kritik elablirt, das den Minister» gewiß nicht angenehm ge wesen ist, das aber nach den getroffenen Veranstaltungen resultatlos verlaufen mußte. Die Zentrums-Abgeordneten hüteten sich sehr wohl, in ihrer Opposition über eine gewisse Linie hinaus zugehen, die es ihnen nach eingetretenem Waffenstillstand gestaltete, mit de» Minister» wieder in der allen Weise hinter den Koulissen zu verhandeln, wie das der Kammerpräsident seinen Wähler» ja so schön geschildert hat. Keiner der Zentrunrsredner erhob in der Debatte den Ruf:„Fort mit den Ministern", das überließ man der Presse, deren nachträglicher Lärm praktisch be- deutungslos war und nur den Ziveck hatte, den Wählern die „Mannhaftigkeit" derer vom Zentrum in Brillantbeleuchtung zu zeigen... Aber freilich, wenn das Zentrum wieder einmal vor die Entscheidung gestellt ist, komme» abermals die„unüberwindlichen Schwierigkeiten". Ganz ähnlich wie bei dem Wahlrecht sucht man auch jetzt eine Kulisse, hinter der man sich verstecken kann, um im eutscheidenden Moment nicht Farbe bekennen zu müssen. Das Vorgehen der Sozialdemokraten ist gewiß ungewöhnlich, weil es nichts anderes bedeutet, als eine geschlossene Debatte wieder zu beginnen und zu korrigiren. Aber es handelt sich dabei weniger um die Form, als um die Sache. Wäre das Zentrum innerlich so überzeugt von der Unfähigkeit des Ministeriums, von dessen Gefährlichkeit und Schädlichkeit, die Formfrage wäre gewiß das geringste Hinderniß eines entsprechenden Vorgehens. Aber wie schon so häufig in der Geschichte des bayerischen Parlamentarismus, so muß man auch diesmal streng unterscheiden zwischen dem, was den Wählern gegenüber behauptet und den Mini st ern gegenüber getban wird. So klug. nun nicht plötzlich das Vertrauen zu den Ministern auszusprechen. sind die Ultramontane» natürlich. Den Mantel, den sie zur Bedeckung ihrer Blöße umschlagen, finden sie in der Verfassung. Sie behaupten — und die Minister wie die„Liberalen " schließen sich ihnen an— die Beschlußfassung über ein Mißtrauensvotum gehöre nicht zu den verfassungsmäßigen Obliegenheiten der Kammer. Daber beruft sich das Zentrum auf seinen Charakter als„monarchische Partei", die nicht in die Befugnisse der Krone in der Ernennung und Entlassung der Minister eingreifen wolle. Das klingt sehr schön, es ist aber doch nicht viel mehr als eine Phrase, die durch die Vergangenheit wider- legt wird. Denn das Haus in der Prannerstraße ist schon öfter von ähnlichen Stürmen durchtobt worden wie sie die Sozialdemokraten jetzt herbeiführen möchten. Der jetzige Reichskanzler wurde als bayerischer Minister durch ein Mißtrauensvotum der Kammer gestürzt, das die Ultramontanen� die sich damals„Patrioten" nannten, herbeiführten; 1875 sprachen die Ultramontanen gleichfalls dem Gesammtministerium ihr Mißtrauen aus, obgleich sie doch auch damals eine „monarchische Partei" darstellten. Der Unterschied zwischen damals und jetzt ist von untergeordneter Bedeutung; damals wurde das Mißtrauen in einer Adresse votirt, während die Sozialdemokraten lediglich einen formellen Beschluß herbeiführen wollen. Die Adresse greift aber genau so viel oder so wenig in die Prärogative der Krone ein, wie der Beschluß. In dem einen wie in dem anderen Falle steht es der Krone frei, dem Votum der Kammer nachzukommen oder nicht. Beschlu gefaßt und abgestimmt werden muß jedesmal und die Krone kann, wenn sie das vorzieht, in dem einen wie in dem anderen Falle an das Volk appelliren, sie kann auch— wie 1375 geschah— einen Beschluß ebenso unbeachtet lassen� wie eine Adresse, obgleich die Situation zwischen Ministerium und Parlament dadurch äußerst gespannt werden müßte. Denn dadurch, daß ein Parlament seine Meinung über das Ministerium äußert, wird ein Land noch nicht parlainentarisch regiert, dazu gehört denn doch das Uebergewicht der Beschlüsse des Parlaments. Die Frage ist von größerer Bedeutung, weil sie eine Macht- frage für den Landtag, d. h. für das Volk darstellt. Kein Par- lament kann eines seiner Rechte preisgeben, ohne Verrath am Volke zu üben. — Die Annehmlichkeiten der Vereinsgefetz werden auch schon dem Zentrum fühlbar, was übrigens den frommen Schwarzen durchaus nichts schaden kann. Aus München berichtete nämlich Sigl's„Vaterland": Der hiesige Arbeiter-Wahlverein desZentrums gilt nun auch schon als„staatsgefährlich"! In einer Versamm- lung, die er am Sonntag in Giesing hielt und der auch der Abgeordnete Dr. Frank beiwohnte, wurde über alles Mögliche und noch einiges gesprochen. Als der Schriftsetzer Völkel zur „römischen Frage" sprach, gefiel die Rede dem überwachenden Polizei kommissar nicht, der den Vorsitzenden aufforderte, Völkel das Wort zu entziehen. Als nun ein anderer Redner, Schlosser Schirmep meinte, dazu habe der Kommissar kein Recht gehabt, er« hob sich der Kommissar, setzte die Amlsmütze auf und verlangte vom Vorsitzenden, daß auch Schirmer das Wort ent- zogen werde, und da nun Schirmer ihm zurief, die Mütze abzunehmen, löste der Kommissar gegenüber der �..allgemeinen Entrüstung" die Versammlung auf und forderte auf, den Saal zu verlassen. So hochgradig soll die„Erregung" gewesen sein daß der Kommissar Bedenken trug, sich ungefährdet entfernen zu können, was ihm aber„zugesichert" wurde.— Der Arbeiter Wahlverein will gegen die Auslösung dieser Versammlung„Protest erheben".— Charakteristisch scheint uns an der Mittheilung besonders. daß es sich um einen Arbeiter- Wahlverein handelte. Daß die Versammlungen anderer Zentrumsvereine heute, nach- dem das Deutsche Reich längst nach Kanossa gegangen ist, irgendwo aufgelöst worden wären, davon haben wenigstens wir noch nichts gehört.— - Geschäft und Politik. Hinsichtlich einer anti- semitischen Kandidatur im zweiten Dresdener Wahlkreise (Johannstadt) wird der„Sächsischen Arbeiter-Zeitung" gemeldet, daß sich die Antisemiten gegen Zahlung einer Abfindungssumme (man munkelt von 556 M.) bestimmen ließen, von einer eigenen Kandidatur abzustehen. Die lange Ungewißheit scheint demnach daran gelegen zu haben, daß man sich nicht über den Kaufpreis einige» konnte Oesterreich . — Das Arbeitsprogramm des Kabinets B a d e n i. In erster Linie will man das Budget noch vor Be- ginn des Budgetjahres fertigstellen. Außer dem Budget sollen nach den bestehenden Dispositionen noch das aus dem Herren- hause zurückgelangte Gesetz über die Verfälschung der Nahrungs- mittel und das Gesetz über das statistische Arbeitsamt vom Ab geordnetenhause erledigt werden. Der Wahlreform-Entwurf des Grafen Badeni wird jedenfalls noch vor den Weihnachtsfeier- tagen dem Abgeordnetenhause unterbreitet werden. Aus dem Programm der Frühjahrssession würden dann die Verhandlung über die Wahlreform, die Berathung der Exekutionsordnung und die Beendigung der Steuerreform stehen. Finanzminister Dr. v. Bilinski hegt den Wunsch, die Steuerreform zum Ab 'chlusse zu bringen.— Ungarn . — Die Demonstration in Agram anläßlich des Besuches des Kaisers habe» sich wiederholt. Aus Agram wird hierüber telegraphirt: Bei den Diensttägigen Kundgebungen vor der serbischen Kirche bewarfen Studenten das Gebäude der serbischen Bank mit Steinen. Hierdurch wurden mehrere Fenster zertrümmert, auch sollen mehrere Personen verletzt sein. Um die Menge zu beruhigen, wurde an der Kirche neben der serbischen auch die kroatische Fahne -zehißt. Die Gendarmerie zerstreute die Ruhestörer mit gefälltem Vajonnet. Die Serben riefen:„Es lebe der Kaiser!" was die Kroaten mit dem Rufe:„Es lebe der König von Kroatien !" er« widerten. Die Demonstrationen dauerten bis 6 Uhr abends, um welche Zeit die serbische Fahne auf der Kirche eingezogen wurde, worauf ofort Ruhe eintrat. Bei den Nachmittags- Demonstrationen machten Polizei und Gendarmerie von den Waffen energisch Gebrauch, mehrere De- monstranten sowie ein Polizist wurden verwundet. Während der Fahnen-Krawalle, welche den ganzen Nach- mittag über angehalten hatten, mußte die Gendarmerie mit blanker Waffe einschreiten; doch trat abends nach Einziehung der serbischen Fahne vorübergehend Ruhe ein. Kaum aber war die Gendarmerie abmarschirt, so kam es zwischen Serben und Kroaten zu neuen Zusammenstößen, so daß die Polizei abermals einschreiten mußte. Auf beiden Seiten erfolgten mehrere Ber « wundungcn. darunter einige ziemlich schwere.— Der Rechtshörer Frank war gestern Nacht wegen Jnsulti- rung der ungarischen Fahne mißhandelt und zur Polizeistation gebracht worden, wo ihm die Wunden verbunden wurden. Um Revanche zu nehmen, zogen heute Vormittag 33 Juristen mit der Universttätsfnhne nach dem Jelacies-Platz, wo die mitgebrachte ältere ungarische Fahne öffentlich verbraunt wurde.— Belgien . — Lockfpitzelei. Wir haben schon vor einigen Tagen unseren Lesern die Mittheilung gemacht, daß der sozialistische Deputirte Alfred Defuisseaux, der 1889 in dem großen Komplot« Prozeß in contumaciani verurtheilt war, von den Geschworenen einstimmig freigesprochen ist. Wie sehr recht wir nrit unserer Annahme hatle», daß niemandem die Verhandlungen unangenehmer seien, als der belgischen Regierung, die ehr konipromittirende Enthüllungen zu erwarten hatte, das be- tätigt sich jetzt, wo ausführlichere Meldungen über den Gang des Verfahrens vorliegen. In der Sitzung vom 16. Oktober wurden, wie wir der K. Volksztg." entnehmen, alle Zeugen verhört, die schon in dem Prozesse von 1889 eine Rolle gespielt haben. Während der damalige Untersuchungsrichter Oblin be- hauptete, Defuisseaux habe die Anwendung von Gewalt- maßregeln gepredigt und ihm fielen thats Schlich die damaligen Unruhen, Brandstiftungen und Dynamitanschläge zur Last, stellte die Verlheidigung durch geschickte Zwischenfragen fest, daß die Hauptbelastungszeugcn Pourbaix, Andrs und ein ge- wiffer Adam in der That Polizeispitzel waren, was bis zum letzten Augenblicke jedermann, dem Gerichtshose sowohl als den Angeklagten aus dem Jahre 1389 unbekannt war. Pourbaix halte Defuisseaux wiederholt in seinem Aufenthalt an der französischen Grenze aufgesucht und ihn auf. gereizt, die Grenze zu überschreiten, ja einmal sogar telegraphisch die Ankunft Defuisseaux', die das Zeichen zum Losschlagen sein sollte, bekannt gemacht. Das alles wurde unwiderleglich dargethan durch Verlesung mehrerer Briefe Pourbaix' an die Sicherheitspolizei. In seinem Plaidoyer, das am Nachmittage begann, begründete der Staatsanwalt zunächst rein formell die Erhebung der An- klage, weil ein Abwesenheitsurtheil gegen Defuisseaux vorliege, sodann thatsächlich, weil er überzeugt sei. daß er eine Revolution habe entfesseln wollen Obwohl er übrigens nicht glaube, eine Verurtheilung des Angeklagten erreichen zu können, dessen ehemalige Mitangeklagte schon zweimal freigesprochen wären, so müßten doch die Geschworenen bedenken, daß er ziveifellos eine revolutionäre Bewegung habe entfachen wollen: er habe behauptet, durch den allgemeinen Ausstand das allge» meine Stimmrecht haben erwerben zu wollen, offenbar durch eine Revolution, bei der er sogar an eine Einmischung des Auslandes gedacht habe; in der Arbeiterbevölkerung habe er den Klassenhaß genährt, die revolutionären Artikel und die Verschwörung, auch die Verlheilung von Dynamit, alles sei sein Werk. Der Vertheidiger Picard griff mit Schärfe den merkwürdigen Widerspruch in der Rede des Staatsanwaltes an, der erst die Anklage habe fallen lassen und dann zwei Stuude» die Geschworenen für ein Schuldig bearbeitet habe. Nachdem der zweite Vertheidiger nochmals ausführlich dargelegt hatte, daß v om Staate bezahlte Polizeispitzel die Hauptmacher gewesen seien, machte der Staatsanwalt in seiner Replik die charakteristische Bemerkung, daß er zwar an die Schuld des Angeklagte» glaube, aber nicht der Ansicht sei, daß in der gegenwärtigen Lage die Gerechtigkeit verlange, ihn zu bestrafen: er glaube, hier als oppor- tunistischer Politiker handeln zu müssen! Mit recht entgegnete Picard, er wisse kaum noch, vor wem er stehe, denn es handle sich hier dämm, Gerechtigkeit zu finden, nicht Politik zu treiben. Nach kurzer Be- rathung sprachen die Geschworenen, wie gemeldet, den Freispruch. Die charakteristischen und wichtigen Lehren dieses Prozesses sind aber wohl zu merken: erstens, daß die belgische Regierung 1389 durch bezahlte Spitzel die Arbeiterbewegung in die Bahnen der Gewalt lenken und dadurch für immer unterdrücken wollte, und zweitens, daß auch in Belgien allgemach die Politik zu einem ausschlaggebenden Faktor der Rechtspflege wird. Der erste bedenkliche Schritt dazu ist in voller Oeffentlichkeit von dem Brüsseler Staatsanwalt vor den Geschworenen gethan. Con'ost quo le prernier pas qui coüte— nur der Anfang ist schwer. Für unsere deutschen Leser können wir vielleicht noch hinzu- fügen, daß es in Deutschland keine Polizeispitzel giebt— wie Herr Brausewetter von hoher Gerichtsstelle herab bekannt gemacht hat. Frankreich . Paris , 14. Oktober. (Eig. Bericht.) Kammer- und Ge- m e i n d e r a t h s- W a h l e n. Bei der gestern in Lyon statt« gehabten Abgcordnetenwahl, bei der es sich darum handelte, an stelle des verstorbenen Regierungs-Abgeordneten Guichard einen neuen Abgeordneten zu wählen, ist der bisherige sozialistische Gemeindernth Bonnard mit 2793 Stimmen als Sieger aus der Urne hervorgegangen. In M o n t l n g o n. das durch den ver- storbenen Genossen Thivrier vertreten war, der bei den all- gemeinen Wahlen von 1893 in der Stichwahl gegen den Regierungs» kandidaten gewählt wurde, kommt es auch diesmal wieder zu einer Stichwahl; und hat auch Herr Vacher diesmal 466 Stimmen mehr als der sozialistische Kandidat Lätang erhalten, so kann man doch hoffen, daß der Sitz den Sozialisten erhalten bleibt, da deren Kandidat mit dem ihm folgenden sozial-radikalen Kandi- baten um 966 Stimmen mehr auf sich vereinigt haben als der Regierungskandidat.— Im hiesigen fünften Wahlbezirke und zwar im Sorbonne-Viertel fand gestern eine Gemeinderathswahl statt, bei der die meisten Stimmen auf Genossen Andre Lefövre, einen Redakteur der„Petite Ropublique", entfielen. Kommt es auch zu einer Stichwahl, so ist doch kein Zweifel, daß dieser Sitz für die Sozialisten gewonnen ist, da selbst der ihm zunächst olgende Kandidat ebenfalls ein Sozialist ist. Man sieht, daß üs zur Vernichtung der Sozialisten die Herren Bourgeois sich noch ein wenig werden gedulden müssen.— Ruhland. St. Petersburg. Abschaffung der Prügel» straf e. In der Generalversammlung der„Kaiserlichen freien ökonomische» Gesellschaft", deren Präsident Graf Heyden ist, wurde beschlossen, alles aufzubieten, um die schmachvolle Prügel- strafe auch für die Personen des Bauernstandes abzuschaffen.— Rumänien . — Das konservative Kabinet wurde durch ein liberales ersetzt.— Türkei . Koiistantinopel, 16. Oktober. Das armenische Komitee hat gestern in Galata und Stambul abermals die Sperrung jener armenischen Geschäfte herbeigeführt, welche in den letzten Tagen geöffnet worden waren; heule wurde das Gleiche in Pera ins Werk zesetzt. In der Kirche in Pera haben neuerdings wieder 156 und in der in Galata 66 Flüchtlinge Zuflucht gesucht.-Der Grund hierzu liegt in einigen in de» letzten Tagen vorgekommenen Zusammen» stößen in den Vorstädten von Stambul und am Goldenen Horn in Kasstm Pascha und Hasköi, deren Opfer sich der Zahl nach nicht genau feststellen lassen. Außer auf diese jedenfalls uu- dedeutenden Vorgänge ist die neue Flucht in die Kirchen Haupt» 'Schlich auch anf die Eriverbs- und Obdachslostgkeit der bedrohten armen Klasse» und ferner auf die Furcht der in den kürkischen Vierteln vielfach isolirt Wohnenden zurückzuführe», zuletzt auch auf die aä hoc gerichtete Agitation des armenischen Komitees, dessen ungeschwächt fortgesetzte Thätigkeit auch aus anderen Anzeichen klar hervorgeht. Auch unter der türkischen Be» völkerung hält die ausgeregte Stimmung an, Haupt» Schlich infolge alarmirender Gerüchte, so z. B. über bevor- 'tehende große Zugeständnisse an die Armenier. Es werden immer noch Plakate an den Moscheen und Straßenecken gefunden. die eine sehr erregte Sprache führen. In den letzten Tagen wurden abermals Verhaftungen und zwar auch unter den Türken vorgenommen. Nach einer Meldung der„Daily News" aus Konstantinopel hat am 9. Oktober in Slkhissar, 126 Meilen von Konstantinopel , türkischer Pöbel Armenier angegriffen, wobei fünfzig Personen -tetödiet und eine große Anzahl verwundet wurden. Da gerade Markttag war, wurde der Markt geplündert; die Behörden 'chützten die Christen nach Kräften. Der„Daily Chronicle" meldet aus Konstantinopel vom 14. Oktober, der britische, französische und russische Botschafter unterzeichneten gestern in völliger Uebereinstimmung die Vor» chläge, die sie der Pforte unterbreiten wollten, und übergaben ic dann Said Pascha. Bis 4 Uhr nachmittags war noch keine Antwort eingelaufen, was als ein ungünstiges Zeichen an- tesehen wird. Sollte noch eine weitere Verzögerung eintreten, ind die Botschafter entschlossen, der Pforte ein Ultimatum zu überreichen, welches fast dieselben Forderungen aufstellt, wie der Reformvorschlag vom II. Mai, indem nur auf die Anstellung eines christlichen Oberkommissars verzichtet wird,
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