Dienstag
11. Oktober 1927
T
Unterhaltung und Wissen
Jugendepisode.
Bon Ania Simon.
Am Abend eines stillen Tages begab sich noch etwas, was völlig unerwartet tam und die Bewohner des Vorortes fast so alarmiert hätte, daß sie die Polizei benachrichtigt hätten. Und damit hätten fie eine große Torheit begangen, denn es wäre wieder einmal bewiesen worden, daß alle Plätze vieredig sind und alle Straßen aufgeteilt und in die Ratshäuser der Bezirke führen, nicht aber mehr in die Winde, in die Landstraßen und zu Gott .
Das Ganze hatte mehr Humor und Weltfreudigkeit, als es bei einem gefitteten, normalen Bürger des 20. Jahrhunderts gemeinhin anzutreffen ist.,
Francis Goldbear hatte von seinen Eltern nichts geerbt. Irgendwann waren sie gestorben. Die Tante, die ihn damals zu sich genommen hatte, war auch gestorben, und das gerade in dem Augenblick, da er vom Hafen in wilder Haft herauflaufend, sie zum ersten Male fragen wollte, wie es mit seiner Mutter und seinem Vater gewesen war. Er hatte mit zwei anderen fünfzehnjährigen Jungen die Mittagspause am Hafen stehend verbracht, bis die Fabriksirene sie sämtlich zurückrufen würde, mit nichts anderem beschäftigt, als ab und zu ins Wasser zu spucken und nur bemüht, dies mit viel Kraft zu tun, wenngleich die Hände in den Hosentaschen vergraben blieben. Diese drei schlacksigen, baumligen Jungen hatten alle helle Stirnen über unverwandten, leuchtenden Augen, in die die Welt ganz gut hineinpaßte. Da war nichts anderes drin in diesen Augen als der gute Ausdruck unvorgefaßter Meinung gegenüber allem, was geschah oder geschehen konnte. Und als sie so dastanden nebeneinander, der Jim, der Charles und der Francis, da plagte noch etwas anderes unter ihren Füßen ins Wasser, als das, was sie selbst so gemächlich und so zeitvertreibend zwischen den Zähnen heruntersandten.
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Eine fleine Jolle hatte die Verbindung gemacht zwischen dem Land und einem großen lleberfeedampfer im Hafen draußen, und hatte die Mannschaft den ganzen Tag schon hin und her getragen, denn morgen sollte die Ausfahrt in die Ferne angetreten werden, und die jungen und älteren Männer aller Dienstgrade hatten noch manches zu tun. Ehe das Fefte unter ihren Schuhsohlen davonlief, wollten sie es noch einmal mit starkem Schritt durchstampfen, mit jachem Atem umspannen und die Wollust fühlen, wenn die zähe Erde braun und start an ihren Füßen flebt.
So hatte selbst der Obermaat nicht genug acht gegeben und die schlanke Jolle hatte mit leichtem, unbesorgtem Tänzeln ein hübsch gebundenes, zierliches Bafetchen über Bord gehen lassen, das mit herüber sollte auf den großen, weißen Ozeandampfer. Bielleich hatte er mit der Spize des Ruders selbst das Unheil angerichtet. Doch Francis Goldbear spudte nicht länger zwedlos wie bisher, vielmehr mit schneller Absicht den Kaugummi in leichtem Bogen aus und sprang ins Wasser, wo das zierliche Päckchen gerade verschwunden: war. Es war tief genug an dieser Stelle. Die in der Jolle hatten nur erft begriffen, was los war, als Francis schon wieder, auftauchte, das zierlich gebundene Weiße in der Hand ihnen pubelnaß und triefend überreichte, schon wieder ans Ufer schwimmend.
Bon jour, messieurs! Die Sirene ruft. Mit langen Jungen beinen läuft man zurüd zur Arbeit und trocknet schnell genug im Sauer- heißen Raum, der schwelt vom Schweiß der nackten Körper derer, für die das tägliche Brot an diesem Ort so unnatürlich wächst. Gut! Francis hatte die Sache fast schon vergessen, denn Jim und er wollten heute abend noch ihr Glück im Würfelspiel ab= schäzen und schnell durch den„ der lange Korridor" genannten Abschneider nach Hause gehen. Da wartete aber ein sauber angezogenes Bürschlein vor der Tür, in grauem Drillichanzug mit Matrosenmütze, und trat geradezu auf Francis hin. Der wurde rot bei solcher Ehre.
Und das saubere Bürschlein hatte tausend Dank zu bestellen vom Kapitän Goodsen für die Rettung des Päckchens. Bom Kapitän Goodſen ſelbſt! Er solle ihm ein Stück Geld überreichen, aber wenn etwa dem Francis daran läge mitzufahren, auf dem großen Ozeandampfer morgen hinaus in die Welt, dann solle er es sagen, dann dürfe er mitkommen. Abends um 9 Uhr wird das letzte Berbindungsboot vom User abstoßen und wenn er wolle, solle er mur pünktlich da jein und sich bereithalten.
Donnerschlag!! Das Bürschlein ist schon ab. Linksumkehrt! Schon um die Ede ab! Donnerschlag!! Da stehen die drei. Der Jim, der Charles, der Francis! Und ihm, dem Francis, gilt Was soll er? Was? Was wollte er? Würfelnd sein Glück beweisen? Heute abend? Was ist da noch zu beweisen?
es.
Die drei Halbwüchsigen sehen sich groß an mit jenem hellen, unvoreingenommenen Blick, aber es ist doch, als sei etwas zwischen fie gefallen, hätte sie auseinandergesprengt, so daß der eine jetzt ganz allein und ganz wo anders steht. Zum Teufel noch einmal! Jungens, Jungens! Ich gehe, ich werde
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Er sieht es noch vor sich: das blaue, wehende Band mit der goldenen Aufschrift Pacific" auf der Müße, aber schon nicht mehr genau, ob das wirklich darauf gestanden hat? War es nicht etwas nderes? Vielleicht come here", vielleicht farewell"? Es wird ihm fremd ums Herz da innen, und mit einem Male jetzt er sich in Bewegung, rennt und läuft und überspringt sich und steht vor Tantes Haus und will's ihr sagen, daß er heute abend fortfährt in die Welt. Er kommt nicht gleich dazu. Denn auf der Stiege find unbekannte Menfchen. Man sagt ihm, es wäre Trauriges geschehen, sie sei aber doch lange frant gewesen, und nun sei es wohl besser so, die Kraft hätt' nicht mehr hingereicht zum Leben und sie sei tot. Die Tante tot? Das ist wohl heut ein sonderbarer Tag? Tot, Francis was ist das? Tot? Er fühlt sich heut' so lebend wie noch nie. Wie soll er tot" sich vorstellen? Auf ihrem Bett tegt fill und leblos und sehr seltsam in sich abgeschlossen eine alte Frau Eine alte Frau jetzt nur nicht seine Tante! Die blaue Müze mit dem fliegenden Band, das zierlich verschnürle Batet, eine tote Frau in seiner Tante Bett, Farewell come here, was ist das alles? Traum vielleicht?„ Dummer Traum, ich will erwachen!" Jedoch die„ Pacific". das herrliche Schiff, der Ozean, der Kapitän: Nein, ja, nein, ja- ja, es ist doch. ist doch wahr!" Schnell, schnell! Ein Köfferchen vom Schrank dort oben, hinein, was nur hinein kann. Die lieben Bücher, der Katechismus liegt dazwischen, fo, etwas Strippe, Hammer, Nägel, Seife, ein Spiegel, Hemden, der Sonntagsanzug. Und hier die Bilder seiner Eltern. Ach, ich will doch mal die Tante fragen, sie will mir noch Die Tante? Sie vom Vater und von der Mutter etwas sagen! Gott , sie tann ja nicht, sie ist ja jetzt die tote alte Frau. Sie wird mir nichts mehr sagen. Ich kann sie nicht mehr fragen!" D. Francis, o, Francis! Doch die Stunde duldet teinerlei Begreifen.
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„ Süh, Hein, de annern hebbt tom Geburtsdag flaggt, tom Wahldag flaggen wi, wer to lett flaggt, flaggt am besten!"
Er stürzt davon!
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Die einfachste Antwort wäre ja nun, daß hier eben einer der Fälle vorliegt, wo etwas lleberflüffiges gemacht wird. Aber das genügte nicht.
Längst steht Francis mit seinem Röfferchen am Ufer, als das lezte Boot die fezte Mannschaft heranträgt zur stolzen Pacific" In der ersten Zeit nach der Erkenntnis der biogenetischen Regel Und Jim und Charles find auch gefommen und sehen ihm sehr. seltsam nach:„ Kamerad, heut' abend beweist du dein Glück; Kame- dachte man darüber gar nicht nach, man hatte damit zu tun, sich über augenfälligere Dinge flar zu werden und nach dem inneren rad, du, ja wir nicht!" Und Francis ruft noch laut und fest, Anstoß der Entwicklung zu suchen. Ob es kleine Abänderungen doch brüchig flingt es ihnen schon herüber: Farewell farewell ( Variationen) oder große Sprünge( Mutationen) seien, darum ging farewell! der Streit. Ob vielleicht die Entwicklung nur im Reimplasma liegt oder im fertigen Tier. Ob sich erworbene Eigenschaften, z. B. ein neuer Instinkt oder auch etwas Körperliches, wie ein durch Recken nach Baumblättern länger gewordener Hals, vererben tönne oder nicht. Einige dieser Fragen wurden entschieden, andere nicht. Die nach der Möglichkeit der Bererbung erworbener Eigenschaften beispielsweise unter Umständen bejahend.
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Das Wasser wogt. Bunt hängt die Welt am Mast. Heut' hier und morgen dort. Des Francis Augen werden groß, und in den Tag verschlungen fühlt er seinen jungen Sinn erwachen und hingegeben jedem Augenblick. Die fremden Länder! Küsten von ernster Schönheit fliegen vorbei; das Paradies stand hier- nein dort. Tropische Glut vermählt sich mit phantastischen Düften. Und grenzenlose Weite! Felsen ragen, Landzungen lecken gierig in die sal zige Flut, Seeleuchten flackert pastellzart und schaumbehaftet bis zum .flachen Horizont, bewegt und ewig. Sprißendes, Wogendes, Tanzendes ringsher und Himmel unbewegt und fern darüber.
Ein Schüler Haeckels, Richard Semon , rollte die Frage nach der inneren Ursache der Parallelen zwischen Onto- und Phylogenese wieder auf.
Und beantwortete sie auch gleich.
Und einige andere Fragen mit.
Diese anderen Fragen waren sonderbare Experimente, die Roug
in Halle gemacht hatte. Nämlich die der halben Froschembryonen. war darauf durch eine Beobachtung des Tieffeeforschers Chun gekommen. Chun hatte nach Stürmen von manchen Seetieren regelrechte halbe Eremplare erbeutet. en wirbellofen Aber nur nach Stürmen. Es schien, als wüchsen sich diese halben Tiere wieder zu ganzen aus. Man nahm nun an, daß die halben Tiere so entstanden waren, daß durch die Sturmwellen befruchtete Eier der Tiere, die sich einmal gerade geteilt hatten( ein befruchtetes Ei ist nur eine Belle,
So Wochen, herrlich lange Wochen.... Am liebsten fizzt der Francis, pfeifend vor sich hin, auf einem großen Kringel, den das schwere und geteerte Seil macht, unten an der linken Bugseite, mo die Kühe und Kälber verfrachtet sind. Und es gibt richtig schöne Melodien, wenn so der Wind pfeift, die Maschinen rhythmisch dröhnen, der Francis singt, die Wellen braufen und das liebe Bieh mit seinen Hufen aufschlägt auf dem hohlen Plankenboden. Da kann man immer figen, träumen und Vergnügtes finnen. Doch hilft der waren und jede Zelle sich zunächst zu einem halben Embryo entunge auch, wenn wieder mal ein Hafen kommt, in den das Schiff die sich dann in 2, 4, 8, 16, 32 usw. teilt), auseinandergerissen worden anläuft. Waren verden verladen, Waren werden verstaut. Der wickelt hatte. Roug konnte den Wahrheitsbeweis führen, indem er große Leib der Pacafic hat Platz für viele Dinge aus aller Welt. Froscheier, die auch gerade sich einmal geteilt hatten, auseinanderUnd Francis hilft mit, was er fann. Und alle Männer gehen dann schüttelte oder die eine Zelle mit einer Glühnadel tötete. Aus diesen an Land. Fast scheu erst, abwartend. Das Feste unter die Füße! Bellen wurden dann regelrechte halbe Froschembryonen, die auf einer Und Warmes in die Seele! Drängend die Sehnsucht in den Adern gewissen Stufe die fehlende Hälfte ergänzten. und im Blick! ( Schluß folet.)
Urwelterinnerungen.
Als Charles Darwin auf seiner Weltumsegelung als junger Naturforscher aus dem Pampafton das Skelett eines eiszeitlichen Großsäugetieres ausgrub, fam ihm zum ersten Male der Gedanke, ob das von Linné aufgestellte Dogma, daß alle Tierarten schon bei Erschaffung der Welt gesondert erschaffen worden seien, auch wirklich ftimme. Auf den vielbesagten und wenig besungenen Galapagos inseln kam diese Erkenntnis dann klarer, und die Frucht der lleberlegungen war Jahre danach das Buch von der Entstehung der Arten. Während man sich allgemein ablehnend und abwartend verhielt, griff in Deutschland Ernst Haeckel die neue Lehre mit aller Energie auf und ging auch sofort daran, die ersten Stammbäume aufzustellen. Einige Jahre später gelang ihm dann der damals überraschende Fund, daß die Entwicklung der Tiere im Ei( bzw. im Mutterleibe) und die vermutete Entwicklung der betreffenden Tierart in der Urzeit ganz auffallende Parallelen zeigte. Der Affe, so hieß es, der in der Urmelt die Stadien des einzelligen Wesens, der Bellgemeinschaft, des Bellbechers( Gestrula), des Wurmes, Fleisches, Reptils und Urjängers gegangen war, oing bei seiner persönlichen Entwicklung noch einmal andeutungsweise denselben Weg. Haeckel nannte das das biogenetische Grundgesetz, jetzt sagt man, weil man inzwischen auch einige menige Ausnahmen entdeckt hat, biogenetische Regel. Nun erhob sich natürlich auch sofort die Frage Warum"?. Warum machte der Affe oder der Frosch oder der Sonstwas bei seiner persönlichen( ontogenetischen) Entwicklung noch einmal die des ganzen Stammes( phylogenetische Entwicklung) durch? glichen sich, nun einmal wissenschaftlich ausgedrückt, Phylogenese und Ontogonese so auffällig? Daß sie es tun und taten, steht feft, daß sich allerlei Echlüsse daraus ziehen ließen, auch, aber warum? Eine direkte Ontogenese( die Fremdwörter sind ja nun flar) wäre doch viel einfacher, und die Natur macht doch sonst nur selten Ueberflüssiges.
Warum
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Was hatte das nun wieder veranlaßt?
Semon gab als Antwort nur ein Wort: Mneme!
Zu deutsch etwa soviel wie Gedächtnis. Er erinnerte an die Macht des Gedächtnisses beim Menschen. Wer einmal etwas Aufregendes erlebt hat, beispielsweise eine Löwenjagd, der braucht Jahre danach nur das Bild eines Löwen zu sehen, um sofort sich an die ganze Jagd mit allen Einzelheiten zu erinnern. Phylogenese sei ein„ Körpergedächtnis",
Semon sagte nun nicht, die Parallele zwischen Ontogenese und er meinte, dasselbe, was bei uns das Gedächtnis veranlaßt, mache auch diese körperliche Barallele. Erwirke ebenso die Ergänzung des halben Froschembryos zu einem ganzen.
Man hat in der Fachwissenschaft wenig zu dieser Lehre gesagt und man kann sich des Verdachtes nicht erwehren, das dies lediglich auf ein Nichtverstehen beruht. Ganz leicht zu fassen ist das ja mirtlich nicht, aber wenn man erst einmal den Kern der Sache begriffen hat, leuchtet es durchaus ein.
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Man hat nämlich nun auf einmal auch etwas, was die Atavismen denfmöglich macht. Als Atavismen bezeichnet man die fonderbare Geschichte. daß manchmal plötzlich bei einem Menschen förperliche Eigenschaften hervortreten, die den tierischen Vorfahren zufamen, sonst aber fehlen. So z. B. mehrfache Brustwerzen, eine weiße Haarlocke auf der Stirn( bei den Tieren die Blesse), riesige Muttermale, die der Mediziner mit einem bezeichneten Ausdruck Auch hier ist die Semonsche „ Tierfellnaevi" nennt und anderes. Mnemotheorie die beste Erklärung.
Ob es auch geistige Atavismen gibt und wieweit manche Geistesfrankheiten vielleicht geistige Rückschläge auf Vorfahrenstufen sind, steht noch nicht fest. Man redet neuerlich soviel davon, daß die Drachenfagen der Völker Erinnerungen an die Dinosaurier seien. Erinnerungen aus der Zeit, da der Mensch selbst noch Tier war. Man bekämpft diese Ansicht von vielen Seiten. Aber warum soll sie denn gar so widerfinnig sein, wenn doch auch der Körper Erinnerun gen aus dieser Zeit aufbewahrt und manchmal ans Tageslicht bringt?
Wir stehen noch ziemlich am Anfang der Forschung, und wer weiß, wie weit die Parallelen auch zwischen förperlicher und geistiger Mneme" noch gehen mögen.