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flr. 4$2 44. Jahrgang 1 t9(Kt0 Mittwoch, 12. Oktober 1427

Die gewaltige Umwälzung, die Rußland als Folge des Krieges deschicden war, hat eine große Zahl von Menschen in die Fremde ge- trieben. Sie sind die Emigranten, und zwar führen diesen Titel diejenigen, die noch immer auf das Wunder der Wieder- Herstellung der zaristischen Macht warten. Mit ihnen, ober von dieser reaktionären Schicht so weit als möglich entfernt, teilen die Anhänger der russischen Sozialdemokratischen Partei das Los der im Exil Lebenden. Wir brauchen nur an die Nomen Axelrod und Abramowicz zu erinnern, um die geistige Kraft dieser im Kampfe gegen das Zarentum erprobten Männer zu kennzeichnen. Begreiflicherweise überwiegt in Berlin die Zahl der Emigranten sehr stark die der jetzigen Bürger der Sowjet- republiken, die ihre Vertretung in den verschiedenen Gesandtschaften erblicken, die die Sowjetregierung unterhält. Für diejenigen, die der revolutionären Bewegung aus dem Wege gingen, ist Berlin das nächstgelegene Dorado gewesen, während die in Rußland lebenden Bürger gerode der Schicht ermangeln, die am leichtesten sich zur Seßhastmochung in einem fremden Lande entschießt: der Schicht des technisch hochgebildeten Industriearbeiters. die Sürger. Man kann die Zahl der in Berlin lebenden Bürger der«er- schiedenen Sowjetrepubliken auf 3000 schätzen: davon sind 1000 Sowjetbeamte und deren Familienangehörige, zumeist Angestellte der Sowjct-chandelsvertrewng. An russischen Studenten zählt man 250, von denen die größere Zahl Stipendiaten der Regierung sind. Diese rekrutieren sich vornehmlich aus den Minderheitsvölkern, die in ihrem Gebiete noch keine hochentwickelte Kultur aufweisen. Ein russischer Studentenverein besteht, der national gegliedert ist. Die Mehrzahl der Studierenden widmet sich technischen Fächern. Technik ist überhaupt Trumps in einem Lande wie Rußland , das noch so viele unausgebeutete Naturschätze besitzt daher finden sich de nn� auch weiterhin in Berlin in Stellungen tättge Ingenieure, so bei Siemens und Telefunken und Professoren suchen ihr Wissen nach zu erweitern. Natürlich gibt es auch private Kausleute und Gewerbetreibende, aber sie treten gegenüber den Staatsangcstellteit und den Technikern zurück. Eine Vereinigting der verschiedenen Elemente der Kolonie ist in dem Klub der Änge st eilten ge- geben, der den NamenRoter Stern" führt. Gewerkschaftlich organisiert sind nicht nur die Angestellten des chandelsamts, sondern nuch die Mitglieder der diplomatischen Vertretung vom Bot­schafter abwärts.. Die Sotfihast. Die Sowjetregicrung ist in den-Besitz einer Erbschaft gelangt, tim die sie wohl soft alle in Berlin vertretenen Staaten beneiden dürsten es ist das allen Berlinern gut bekannte Palais Unter den Linden Nr. 7. Ist nun auch die vi» triumphalis Berlins seit dem Ende des Kaiserreichs nicht mehr von so brennendem Interesse und ist der srühere Sonntagmittagspaziergang von den Linden nach dem Kursürstendomm verpflanzt, so hat doch ein Wohnen im Herzen der Stadt so viele Annehmlichkeiten, zumal für eine diplomatische Ver­

tretung, die auch die Visumabteilung bei sich aufgenommen hat. Die vielen"an die Peripherie der Geschästsstadt eingesprengten Gesandt- schafts- und Konsulatskanzleien sind ein charakteristisches Kenn- zeichen für das unorganische Wachstum Berlins . Nun hat aber das alte russische Botschaftspalais noch seine besonderen Reize. Es ist 1841 von Knoblauch erbaut, in einer Zeit also, wo der Baumeister die Mauer lieber um einen Stein dicker machte, als un- bedingt notwendig war. Wenn man in dem geräumigen Warte- zinimer der Botschastskonzlei am Fenster Platz genommen hat, kann man über die Wandstärke älterer und neuerer Häuser Betrachtungen anstellen: schon der Zwischenraum zwischen den Doppelsenstern hat moderne Mauerstärke. Da das Palais, dessen Hof einen recht nüchternen Eindruck hervorruft, den, Botschafter für seine persön- lichen Bedürfnisse und repräsentativen Zwecke zu groß erschien, ist ein Teil des Gebäudes der Visumabteilung überwiesen. Das Interesse der deutschen Reisenden an Rußland wird durch die Tot- fache charakterisiert, daß im Durchschnitt täglich 40 bis 50 Visum- crleilungen ersolgen. Der Preis beträgt 12 Mark: für Amerikaner jedoch 48 Mark. Neben dem Botschostspalais besitzt die Sowjet- regierung noch das früher der Ukrainerepublik gehörige£jous Kron­prinzenuser 10. Außer Beamtenwohnungcn enthält es die Räume für die P r e s s e a b t e i l u n g. Die Sowjet-Handelsvertretung ist bekanntlich in Prioaträumen in der L i n d e n st r a ß e untergebracht. Botschafter ist Nikolas K r e st i n s k i, ihm steht als Botschaftsrat Stephan Bratman-Brodowsky zur Seite. Handelsvertreter ist Karl Begge. ein Lette. Eine Verbindung der diplomatischen Vertretung mit den in Berlin befindlichen Mitgliedern der russischen Geistlichkeit besteht nicht: in Rußland ist die Trennung von Staat und Kirche durchgeführt. die Emigranten. Ihre Zahl ist auf 25000 zu schätzen und sie rekrutieren sich aus ollen Ständen. Nicht alle haben im Exil die Tätigkeit fortsetzen können, die sie einst im Votcrlandc ausübten: die Offiziere und die früher wegen der Stellung ihrer Eltern oder wegen eigenen ReichtumsArbeitslosen" haben arbeiten gelernt. Als A r t i st e n und Dar st eller in Kino und Theater oerdienen viele ihr Brot, andere sind bloße Statisten. Aber auch Chauffeure gibt es in stattlicher Zahl. Nun: Arbeit schändet nicht, und manches Muttersöhnchen wird rauhe Hände bekommen haben. Die Zahl der Inge ni eure soll in der letzten Zeit abgenommen haben; die der Aerzte beträgt etwa 50, von denen jedoch nur ein Teil praktiziert. Wer so glücklich war, Reichtümer aus der Heiinat mit fortnehmen zu können, wird natürlich auch geschäftlich sich betätigen können, so namentlich im Ju w e l c n h a n d e l. Aber auch ein so umfang- reiches und eigenartiges Etablissement wie der Lu na park ist im Besitz eines Russen. Es gibt russische Banken, russische Kaviar- und

UMTLK DEN LINDEN

Teegeschäsle, russische Pensionen und deutsch -russische Restaurants. Sie sind meist in der Nähe der M o g st r a h e zu finden und haben natürlich auch deutschen Besuch. Aeltere Berliner werden sich noch des Versuches erinnern, der vor einem Menschenaller mit einem nationalrussischen Restaurant gemacht wurde: die Kellner trugen Nationaltracht und das Essen wies russische Gerichte auf. Aber wie so oft in Berlin gab es«inen Neuheitsersolg, doch dann erkaltete das Interesse: das in der Französischen Straße günstig gelegene Etablissement mußte bald seine Räume schließen. Neben den jetzt in Berlin befindlichenrussischen" Restaurants ist auch noch einerussische Konditorei zu erwähnen, deren Besitzer Hof- konditor in Petersburg gewesen ist. Ein Reichsdeutscher übrigens auch aber der Sprachgebrauch hat auch für die vielen lange Jahre im allen Rußland tätigen Deutschen den NamenRusse " oufge- bracht. Ein echtes Russentum tritt uns ober auf künstlerischem Gebiet entgegen. Sowohl die Istusikvereinigung der Don-Kosaken wie die der Kuban-Kosaken haben ihr Zentrum in Berlin , desgleichen das Kieinkunsttheater..Blauer Vogel", dessen Leiter I n j n n von hier aus seine Tournees veranstaltet. Ihm erwächst jetzt ein« Konkurrenz durch einesowjelrussische" KleinkunstbühneDie blauen Blusen". die ihre erste Tournee unternimmt. Von den zahlreichen ondmn Künstlern, die Russen sind, sei der erste Ecllist der Philharmonie P j a t i g o r s k i genannt. Daß die starke Emigrantenkolonie in der Zugehörigkeit zur griechisch-orthodoxen Kirche einen Zu- sammenhalt sucht und findet, beweist die Tatsache, daß neben der seit langem in Tegel bestehenden Kirche St. Konstantin und Helena Probst Rosanofs eine große neue Kirche im Werden ist. Die auf dem Fehrbelliner Plag sich erhebende, im Januar fertig werdende Kirche trägt die BezeichnungOrthodoxe Kathedrale Aus- Derstehung Christi mit russischem Hause in Berlin ". Der Weihbischo- T i ch o n hat hierfür neben privaten russischen Geldern auch deutsche Beiträge sowie Staatsbcihilie zu verschassen gewußt. Der Architekt ist ein Russe, W a s s i l i« f s. Die p u b l i z i st i s ch c B c t ä t i g u n g in der Emigrontenkolonie beschränkt sich aus das BlattR u l" (Das Steuer). Ein früher in Berlin erschienenes Blatt mit d e m a- kratisch-sozialistischem ProgrammD n j"(Der Tag) ist vor Jahressrist nach Paris übergesiedelt.

In dem Wartezimmer der Botschastskanzlei hängt ein Bild Lenins , aber auch ein Wandkalender, der obgleich in russischer Sprache doch von den Siemcnswerken stammt. Dieses klein« Zeichen mutet an dieser Stelle! wie ein Symbol der Huldigung des großen Ruhland vor der deutschen Arbeit an. Möge die in der friedlichen Arbeit liegende Beeinflussung der beiden Völker für die ganze Welt segensreich sein!

10s

�Zement. vornan von Fjodor Gladkow .

Das rote Kopftuch. 1. Der erloschene Herd. Gljeb ruhte nicht zu Hause aus: dieser verlassene Winkel mit den verstaubten Fenstern(nicht einmal Fliegen surrten gegen die Fenster), mit dem ungewaschenen Boden und den in einen Hausen zusammengeworfenen Fetzen war fremd, unwohnlich, schwül. Die Wände erdrückten ihn. es war kein Platz, wo man sich umdrehen konnte. Zwei Schritte die Wand, rechts die Wand, links die Wand. Abends rückten die Wände ndch enger zusammen, und die Luft wurde so dicht, daß man sie fassen konnte. Und am schrecklichsten waren Mäuse und Schimmel. Und seine Frau Dascha war nicht da. Gljeb ruhte sich im erloschenen Werke aus, in den Stein- brächen, die von Unkraut und Sträuchern überwuchert waren. Er irrte, saß, dachte... Nachts kam er nach Hause, fand nicht Dascha, sie er- wartete ihn nicht an der Schwelle der Wohnung, wie es vor drei Iahren war. wenn er von der Schlosserei nach Hause kam. Damals war es hell und gemütlich im Zimmerchen. An den Fenstern Batistvorhänge, auf dem Fensterbrett loderten wie Flämmchen Blumentöpfe ihm schon von der Ferne entgegen. Wie ein Spiegel glänzte der angestrichene Boden im elektrischen Licht, und das weiße Bett und das silbrige Tischtuch glitzerten und flimmerten wie Reif. Und ein Samowar.. Das singende Klirren des Geschirrs... Hier lebte in jedem Winkelchen seine Dascha sang, seufzte, lachte, sprach vom morgigen Tag, spielte mit der lebendigen Puppe, mit dem Töchterchen Njurka. Und die Augenbrauen über der Nasenwurzel machten für kurze Momente schon damals den Versuch, sich zu einem Knoten zu verschlingen. Und durch ihre Liebe schnitt sich schon damals ihr eigen- finniger Charakter in ihre Augenbrauen hinein. Lange ist es her. Es war gewesen. Und das Bergan- gene wurde zum Traum, der erst unlängst geträumt war/ Und es war eben deshalb schmerzlich, weil es gewesen wak. Und es war schrecklich, daß das Nest verlassen war. von Schimmel überwuchert. Wo die Mäuse ihren Dünger zurücklassen, kann man

nicht ausruhen. Wo der häusliche, gemütliche Herd erloschen ist, stinkt es nach Moher. Dascha kam nach Mitternacht sie fürchtete sich nicht, in der Nacht durch die finsteren Winkel des Werkes zu gehen. Matt und fremd brannte die ruhige Zunge der Flamme in der Lampe, unter dem durch Fingerabdrücke verschmutzten Zylinder, und die lichte Rosette auf dem Lampenschirm war wie eine Eisblume in der Luft auf dem schwarzen Drahte verwelkt. Gljeb lag im Bett. Schaute verschlafen durch die Wim- pern Dascha an. Nein, das ist nicht Dascha, die frühere Dascha. Die Dascha war gestorben. Das ist eine andere, mit einem von der Sonne verbrannten, harten Gesicht, mit eigensinnigem, hartem Kinn. Vom roten Tuch ist der Kopf groß und feurig. Sie zog sich vor dem Tische stehend aus. Die Haare waren geschnitten. Sie kaute an einer Rinde des rationierten Brotes und schaute ihn nicht an. Und er sah ihr müdes, aber gespannt-strenges Gesicht streng, als ob sie die Zähne fest zusammengebissen hätte. Störte er sie, oder wollte sie ihn in seiner Ruhe nicht stören, oder fühlte sie nicht die Ver­änderung, die sich in ihrem Leben jetzt durch seine Ankunft vollzogen hatte. Fremd und fern war ihm seine Dascha. Er beschloß, sie auszufragen. Erkläre mir. Dascha. solqendes Rätsel. Ich war in der Armee, das ist eins. Ich Hab alles Mögliche durchgemacht, hatte kein Heim, keine Stunde für mich, das ist zwei. Und nun bin ich nach Hause gekommen, in meine Wohnung... von dir keine Spur. Ich warte und schlafe Nächte lang nicht, wie ein Hund. Wir haben uns doch drei Jahre nicht gesehen." Sie erschrak nicht vor seiner Stimme, blieb dieselbe, wie sie gekommen war. Und als sie antwortete, sah sie ihn nicht an. Ja, drei Jahre, Gljeb." So, und du freust dich nicht mit mir. Was bedeutet das... Erinnerst du dich an die Nacht, als wir uns von ein- ander trennten? Ich war zerschlagen und war noch nicht zu mir gekommen. Erinnerst du dich, du pflegtest mich oben auf dem Boden wie ein Kind? Und als wir uns trennten, wie hast du geweint. Worum bist du jetzt so zugeknöpft?" Ja, ich bin zugeknöpft, Gljeb. Ich bin nicht mehr zu Hause, bin nicht die alte geblieben." Ja, eben darüber svreche ich." Unser Heim habe ich vergessen, Gljeb. Es tut mir auch nicht leid. Ich war doch damals dumm."

Oho! Und wo wird also unsere Wohnung sein? Am Ende gar dieses Rattenloch?" Dascha sah ihn aufmerksam an und verdeckte ihre Augen mit den Brauen. Sie zerknüllte mit ihren Händen das rote Tuch und stützte sich mit den Fäusten auf den Tisch.(Auf dem Tisch war kein Tischtuch mehr, er war schwarz vor Schmutz und sah aus wie Stahl.) Du willst, Gljeb, daß sich auf den Fenstern Blumen kräuseln und das Bett sich vor Federkissen blähen soll? Nein. Gljeb: im Winter wohne ich in einer ungeheizten Kammer (wir haben eine Holzkrise, das mußt du wissen) und MittZz esse ich in der Volksernährungsküche. Du siehst, ich bin eme freie Sowjetbürgerin." Und nicht so wie früher sah sie ihn an, als sie einer Braut glich. Da steht sie, sehnig, fest, kennt ihren Wert. Gljeb setzte sich im Bett auf, und in seinen Augen, die Blut und Tod gesehen hatten, glomm eine Unruhe. Teufel,- weib, gegen sie muß man irgendwie anders sein. Und Njurka? Hast du sie vielleicht zusammen mit den Blümelein vor die Schweine geworfen? Das ist eine schisi»- Geschichte.. Wie dumm du bist, Gljeb!..." Sie wandte sich weg. Ging vom Tisch fort, tat, als ob sie Gljeb vergessen hätte. In der Finsternis, hinter den Fenstern, in der Schlucht, seufzte einsam wie ein Kind ein Käuzchen: Chli chlip... und unter dem Boden spielten hungrige Ratten mit der Erde und mit Holzspänen. Gut. Also Njurka ist im Kinderheim. Morgen werde ich hingehen und sie herschleppen." Gut, Gljeb. Ich habe nichts dagegen: Du bist der Voter. Und da ich keine Zeit habe, wirst du sie pflegen, füttern. Ist es so?" Wirst du für sie keine Liebkosung finden?" Du, Gljeb, teile mit mir dein Bett, ich habe nichts unter den Kopf zu legen." Nun gut! Wenn es so ist. eröffnen wiif die Dis­kussion. Ich erteile mir selber das Wort!..." Von welchen Himmeln bist du heruntergefallen. Gljeb? Es gibt keine Diskussionen, und man erteilt sich nicht das Wort. Schweig!" Gljeb stand vom Bett auf, ging zur Tür. Und fühlte wieder, es mar ihm zu eng: die Wände erdrückten chn und der Boden krachte und schwankte unter seinen Stiefeln. (Fortsetzung solgt.)

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