Sonntag
16. Oktober 1927
Unterhaltung und Wissen
Sie war zu einfach gekleidet.
Bon Jwan Heilbut.
,, Sprecht nicht vom Tod! Seid doch still vom Tod!- Nun so schweigt doch endlich..." sagte die Alte.
Der Alte biß sich denn auch auf den Bart und schwieg. Er wadelte nur noch ein wenig mit dem grauen Kopf. Aber die blasse, blonde Näherin, die Untermieterin aus dem Nebenzimmer, die abends in der Stube bei ihren Wirtsleuten saß, um im eigenen Zimmer die Heizung zu sparen, sagte mit ihrer monotonen ergebenen Stimme: ,, Wenn er einem so nahe bevorsteht wie mir...“ Die Alte jagte: ,, Na, na..." Und dann schwiegen sie alle.
-
-
-
Die blasse, blonde Näherin lebte still und für sich. Eine Zeitlang war sie ab und zu in der Woche ausgegangen und mit gesünderer Farbe nach Hause gekommen. Damals brachte sie auch das Paar Ohrringe mit, daß sie noch jetzt an den zierlichen silbernen Kettchen trug. Außer diesem Schmuck trug fie feinen; sie war fagte die Alte oft für ein junges Mädchen viel zu einfach gekleidet.- ,, Das ist ein Paar kostbarer Ohrringe," hatte die Alte damals gesagt. Ja." ,, Wer hat sie Ihnen denn verehrt, wenn man fragen darf, Fräulein?" Schweigen. Die blasse, blonde Näherin ging in ihr Bimmer faß an der Maschine und nähte. Der Alten fiel bald darauf auf, daß das Fräulein, wie früher, nur immer zu Hause war, und daß ihre Baden, wie früher, hohl waren und bleich. Nur ganz selten besuchte sie entfernte Berwandte. Die Alte aber fragte nicht mehr.
-
-
Die blaffe, blonde Näherin behielt recht. An einem Januarmorgen, als auf den Fenstersimsen und Laternenhauben und auf den Dächern gegenüber der dicke Schnee lag, ruhte ihr schmaler Rörper friedlich gestorben im Bett. Für die Alte, die sie so am Vormittag fand, gab es da nichts zu jammern, denn ,, ihr ist wohler so, als im Leben," fonnte sie sagen. Und damit hatte sie wahrscheinlich recht. Daß es einem Gestorbenen schlechter ginge als den Lebendigen, das ift, wie ihr alle wißt, nur ein Vorurteil.
Aber wiewohl seit Monaten schon erwartet, war er nun doch, nach seinem langen Zögern, so still und hurtig gekommen, der Tod, daß die blaffe, blonde Näherin entweder im Dunkeln feine Zeit oder feinen Gebanten mehr daran hatte haben fönnen, ihre Ohrringe aus den Dhren zu nehmen. Die Alte, die das sogleich bemerkte, hatte 3war für den laufenden Monat die Miete erhalten; aber es war um die Mitte des Monats gar feine Kündigung erfolgt, wie das rechtmäßig hätte geschehen müssen. Nun ist freilich der Tod ein Ausnahmefall, sein Besuch in jedermanns Leben ist ja sein erster Besuch, daher auch die große Achtung herrührt, mit der man ihm begegnet; aber die Alte fand diese Sache trotzdem nicht in Ordnung, und fand sich geschädigt, jawohl, geschädigt, durch die blasse, blonde Näherin.
-
Wenn aber die Verwandten tämen, zu erben? So braucht man nur einfach zu sagen, die Ohrringe wären als letztes Geschent, für treue Pflege, der Wirtin vermacht. Oder wenn die Ansprüche erst nach der Bestattung erhoben würden fo fönnte man eben behaupten, sie hätte die Ohrringe mit in die Grube genommen. Ja, alles wäre sehr einfach gewesen, hätte die blaffe, blonde Näherin die Ohrringe nicht eben in den Ohren gehabt.
-
,, D, Gott, o, Gott !" gaderte die Alte und lief wie eine richtige Henne hin und her und kam am Ende immer wieder ans Bett. Denn sie hatte weder den Mut, an die kalte Gestalt der Toten zu rühren, noch die Kraft zum Berzicht auf das, was ihr kostbar erschien. Sie war mit der blassen, blonden Näherin seit dem frühen Morgen allein in der Wohnung gewesen, sie war noch immer allein mit ihr. Sie hätte gern ihren Wunsch befriedigt, ehe sie mit irgendeiner Seele ihr Geheimnis hätte teilen müssen. Aber sie brachte die Kaltblütigfeit zu der Tat nicht auf, und nach Verlauf einiger Stunden kam der Alte zurüd. Sie suchte ihn zu bereden. Er weigerte sich. ,, Bist du ein Mann?" schimpfte sie mit ihm; ,, o, Gott, o, Gott, ein Mann will das fein!" Sie ließ ihn allein in der Stube am Bett; er betrachtete das stille Gesicht, setzte sich hin und dachte... dachte über das Leben den Tod
-
Aber die Ohrringe ließ er da wo sie waren.
•
Die Polizei mußte benachrichtigt werden, über den Tag kamen verschiedene Amtspersonen. Sie fragten nach einem Testament, nach Berwandten; sie schrieben in ihre Bücher, und gingen. Der Sargmacher tam und besah sich den Schaden. Dann ging auch er. Es war dunfel geworden.
Langsam wurde es Nacht. Die Ohrringe hingen immer noch in Den Ohren. ,, Gott, o, Gott!" gaderte die Alte, ich sehe die Brillanten schon mit in die Grube fahren!" Brillanten..." sagte der Alte ,,, pa, ha, ha Brillanten..." Er legte sich schlafen.
Aber die Alte ging noch nicht zu Bett, sie war noch längst nicht so weit. Ihre Lage war nun schlechter geworden. Denn soundsoviele Menschenaugen, Beamtenaugen, hatten die Ohrringe in den Ohren gefehen und hatten sich darüber etwas notiert. Wer weiß, was Beamte sich alles notieren! Solche Leute zeigen ja nie was sie denten -aber mit einem Male wird erweislich, sie haben sehr viel gedacht. Was zu tun? Man könnte die Ohrringe zur Probe einmal aus den Ohren nehmen, und abwarten, ob etwas geschähe. Wenn ja, so wäre noch Zeit zum Rückzug; wenn nicht, so wäre ja alles gut...
Sie ging also hinein, schlich sich durchs Dunkel bis an den Tisch. und unternahm es, das Gas anzuzünden. Dreimal starb das Streichholz vor Aufregung hin. Als es dann hell in der Stube war, ging fie, ohne redt hinzusehen, zum Bett. Aber als sie wenige Schritte entfernt stehen blieb, schrie sie auf. Ihr schien, die Augen, die vorher geschlossen gewesen, hätten sich inzwischen ein wenig geöffnet, und nun glänzte es wie das Leben durch einen Spalt. Sie stand still und horchte. Nein... fein Atemgeräusch... Sie streckte die runzeldurchkreuzte Hand langjam vores nügte ihr aber nichts fie zog sie wieder zurück. Die blauen Ohrringe an silbernen Kettchen lagen still auf dem rottarierten Kissenbezug. Das blonde Haar schien dunkler im Baslicht.
Die Mte zog an der Lampenfette, es wurde finster, fie ging hinaus. Sie legte sich schlafen, schlief aber nicht ein. Die unruhigen Bewegungen ihres Alten verrieten ihr, daß auch er noch nicht schlief. Der Schlafftubenofen war nicht geheizt; aber nach seinen pustenden Lauten zu schließen, schien der Alte zu schwißen. Auch der Alten war heiß, fie lag aber still.
Mitternacht schlug, und die Wanduhr tickte durchs Haus. Die Stunde schlich weiter, es schlug eins, und zwei. Endlich hörte die Alte das gleichmäßige Geräusch seines Schnarchens, das fie nun seit Jahrzehnten fannte, es hatte ihr immer beruhigend den guten Schlaf ihres Alten bezeugt. Sie wartete noch eine halbe Stunde, dann entschloß fie fich feine Feder fnacte, mit der Kerze verließ fie barfuß das Zimmer, Auf dem Korridor erst entzündete sie das
-
-
Problem.
Es geht, daß sich v. Keudell hinter Marx versteckt...
2
Beilage
des Vorwärts
Es geht auch, daß sich Marx hinter
v. Keudell versteckt...
H. ABEKING.
44
Aber wie bekommen sie es im Falle v. Tresckow fertig, sich beide gleichzeitig hintereinander zu verstecken?!
-
Flämmchen und so schlich sie, kaum daß ihre Sohlen schlurften, im Nachthemd, mit hängendem, zottelndem Weißhaar, an das Bett- wo die Ohrringe immer noch auf dem rotkarierten Kissenbezug lagen. Sie hatte sich auf jedweden entsetzlichen Anblid gefaßt gemacht, aber wie sie nun hinsah, schien ihr das stille Geficht zu lächeln. Bei Gott ! Sie hob die Kerze und führte sie näher heran, aber das Lächeln wollte nicht weichen. Sie lebt noch! durchfuhr es die Alte dies Lächeln bringt teine Tote fertig. überhaupt, mer weiß die Wahrheit über den Tod, es hat noch keiner von ihm erzählt, vielleicht ist das Leben noch lange im Körper und nimmt alles wahr, was im 3immer geschieht, nur äußert es sich nicht mehr in Worten. Die blasse, blonde Näherin lächelt. D, du Räuberin, lächelt das tote Fräulein... Zum Teufel! sagte die Alte energisch, das sind Kindereien, ich werde dir zeigen... Sie stellte die Kerze auf die Nähmaschine dicht neben dem Bett, und als sich das Flackern der Flamme beruhigt hatte, griff ihre runzlichte Hand an das Ohr, an das linke die Enden von Daumen und Zeigefinger hielten richtig
-
-
das Läppchen- aber dann schrie fie, als ob falt oder heiß ein Strahl ihren Arm durchschossen, und sie flog wie von einer innerlichen Ge= walt geschleudert, rückwärts bis gegen die Tür Sie zitterte, ächzte. In diesem Augenblick wurde die Tür geöffnet. Ehe sie hätte hinsehen fönnen, wer fäme fiel die Alte bewußtlos zu Boden. Uebrigens war es nur der Alte, der von der Nähmaschine neben dem Bett nun die Kerze holte und die bewußtlose Alte ins Schlafzimmer trug. Als fie, lallend atmend im Bett lag, ging er noch einmal zurück an die Stube, um die Tür, hinter welcher die Tote lag, zu verschließen. Am nächsten Tage, nachmittags um drei, tamen verschiedene Männer. Sie nahmen die blaffe, blonde Näherin, die immer noch lächelte, und legten sie in den Sarg hinein. Der Alte sah zu; die Alte war ausgegangen; Verwandte oder Bekannte des Fräuleins waren nicht da. Die Sonne schien hell durch die Scheiben herein. Die Eisblumen waren nun gänzlich zerschmolzen. Von den Fenster simsen und Dächern troff Wasser. Die blasse, blonde Näherin existierte nicht mehr, sie war unter Deckel und schwarzem Tuch. Aber der Alte, der sie bis hinaus vor die Türe an das Automobil begleitete, fah durch Tuch und Deckel gleichsam hindurch jene zwei blauen Steinlein, die sie nicht hergeben wollte.
-
Ueber die Adamsbrücke.
Bon Andreas Lahko.
Boetisch angehauchte Geographie professoren nennen die Injel Ceylon gern die Perle Indiens ", weil sie an einer Reihe winziger Inselchen unter der Spizze Borderindiens hängt, wie ein kostbares Juwel an goldener Chatelaine. Dieses Infeltettchen, dessen einzelne Glieder kaum über den Meeresspiegel ragen, zum Teil sogar unter Wasser liegen, führte eigentlich den Namen Adamsbrüde", eben weil der vielfach zerrissene Damm feine Verbindung zwischen Ceylon und dem Festlande war. lleber diese schmale Landzunge follte nämlich das erste Menschenpaar vor dem flammenden Ballasch des Erzengels geflohen fein, aus dem Edengarten hinüber in die verwunschene, ausgedörrte Sandwüfte Südindiens. Zischend fuhr hinter den Vertriebenen das glühende Schwert ins Meer, zerstückelte den Steg, damit die Sehnsucht der Sünder sich nicht zurückfinde unter das hochgewölbte Dach aus Brotbäumen und Kokospalmen, mo Mangoustinen, Jadfrüchte, turmhohe Bananenstauben ein unerschöpfliches Arsenal stellen gegen die Hungersnot, die jenseits des schmalen Golfes, in Sichtweite solchen erstickenden Ueberflusses, den fieberzerrissenen Boden Südindiens verheert.
Seit rund zwölf Jahren usurpiert die Adamsinsel" zu Unrecht ihren Namen, denn ein Flechtwert aus englischem Stahl und Eisen spottet der Schwertstreiche des Erzengels, schwingt sich von Insel zu Insel, leitet über Caissons und Pfeiler das Gleisband Ceylons in das indische Schienennez über, wodurch den Bostsäcken von Colombo die Geereise bis in die Höhe von Bombay erspart bleibt, und der Europaurlaub der englischen Beamten um eine halbe Woche länger ausfällt, menn sie Indien im Expreß durchqueren, statt seiner Küste entlang durch den Monjun zu stampfen.
Ueberraschenderweise hat die Technik in diesem Ausnahmefalle der Sage feinen Abbruch getan, im Gegenteil. Bis 1915 hatte die stürmische Nachtfahrt in dem rasend hüpfenden Küstendampfer das feuchtende Bild Colombos immer schon ein wenig verwischt, wenn man am Morgen durch das ftaubgraue Land ratterte. Der Wechsel war nicht gar so plöglich wie jetzt, da nur einige Kilometer den zimtroten, palmenbeschatteten Boden der seligen Insel von dem ersten, fluchbeladenen Pariadors des Hinduvoltes trennen. Nicht mehr vertrauensvoll offene Laubhütten, mürrische, geborstene Häuser aus gelbem Lehm deuten die Dörfer an, wie ein böses Tier faucht das perödete Land seinen glühenden Staub dem Zuge nach, und feindfelig verschmigt, wie das Antlitz der ganzen Landschaft, sind auch die gelben Gesichter der Eingeborenen, die, friegerisch und gehässig zugleich mit unheimlich lüfternem Leuchten in den fahlen Augen an den Sahib heranschleichen, als wäre man viele Lagereisen weit von den frohen singhalesischen Kindern, und dem Bligen ihrer lachenden Zähne. Wie sollte, ohne den Zorn Gottes, ein Damm mit einer Brücke aus dem Paradies so furzerhand in die Hölle einer Armut hineinführen, die alles in Schatten stellt, was der Europäer am Eiterrande seiner Großstädte fürchten lernt?
Und wahrhaftig, hier herrscht der Zorn der Götter, gleich in der ersten größeren Station auf indischem Boden grüßt das mächtige Monument ihrer Ungnade: der große Tempel, den zu Ehren des Alles zerstörers", des Gottes Schiwa, König Tirumala in der Stadt Madura erbaute. Jenseits der Adamsbrücke herrschie Buddha ohne geistliche Vermittlung, ohne einen hunderttausendtöpfigen, habsüchtigen Instanzenweg verkehrten die Gläubigen mit ihrem Gotte, dessen Milde für einige Lotosblüten und ein Räucherferzchen ein leichtes, ruhig gleitendes Leben schenkte. Hier aber leiden die Opfer des Sündenfalles, die Bertriebenen aus dem Paradiese, der Hungertod ist, nicht anders als eine Art Grippe, in jeder Hütte bekannt, alle Strafen des Himmels: Dürre, Not, Unterdrückung striemen Leib und Seele; hart wie das Dasein und die Erde müssen hier auch die Götter sein!
-
Alles während der kurzen Wagenfahrt verstimmt medt drohende Erwartung: die Knochenleiber ber bettelnden Kinder, bas ftaubgraue Gesicht des Kutschers, die hündische Demut des Führers, von Stimmung und Buchwissen präpariert, nähert man sich dem ersten Hofhalt der Bramahnenherrschaft und schreit doch auf, wenn bei einer Biegung der Straße ein Turm des Schiwa- Tempels um die Ecke springt. 3wanzig Meter hoch ist die Umfassungsmauer, die, mit blutroten Streifen bemalt, den ganzen Tempel von der Außenwelt abschließt. Ueber jedes der neun Tore, die Einlaß gewähren, ragt eine Gopura" auf, ein pyramidenförmiger Turm, zwanzig und mehr Stockwerke hoch, jedes Stockwert eine ringsumlaufende Reihe von zahllosen Schiwa- Figuren in verwirrenber Häufung. Sechsarmig, Mordwerkzeuge vieltausendfach wiederholt in allen Händen, über- und nebeneinander immer die gleiche drohende Götterfrage, steinernes Gekröse spiß in den Himmel stoßend.
Hinter der Mauer gerät man zunächst in einen Jahrmarkt und begreift zum erstenmal, was die Vertreibung der Händler" zu Chrifti Zeiten bedeutet hatte. Nicht nur Opfergaben etwa, wie in den stillen Höfen der Buddhatempel, auch Schuhwert, Kleidung, Nahrungsmittel, alles ist innerhalb der Umfriedung, im äußersten Tempelhofe zum Kaufe ausgestellt. Büfter Lärm ebbt hier nie ab, ein ewiges Feilschen, Streiten, Drängen, bunte Stoffe laufen durch surrende, amerikanische Nähmaschinen nur wo die Wohnungen der allmächtigen Bramahnen wie winzige Einfamilienhäuser an die Mauer lehnen, dort herrscht feierliche Stille. Hochmütig stelzen bie Gefürchteten vor ihren Türen auf und ab, unnahbar, weiter abgerüdt von dem Gedränge ihrer Gläubigen, als der König von England vom letzten Trunkenbold in White Chapel. Denn hier herricht die kaste! Wer die würgende, vernichtende Wirkung dieses Fluches annähernd sich vergegenwärtigen will, muß erfahren, daß z. B. der Sohn eines Fischers, dessen Finger das Netz von rechts nach links fnüpfen, mit allen Nachkommen aus seiner Kaste ausge stoßen, zum Baria degradiert wird, wenn er die Tochter eines Fischers freit, dem heilige Tradition das Netz von links nach rechts zu knüpfen befiehlt! Flichen werden ihn alle Gerechten, weit außerhalb aller menschlichen Niederlaffungen darf er sich nur seine Hütte bauen, leinen Tempel darf er mit seinen Gebeten entweihen, und wer ihm die Hand reichen, ihm helfen, mit dem geringsten Almosen fein namenloses Elend mildern würde, verfiele sofort dem gleichen hoffnungslosen Berderben,