Nr. 506 ♦ 44. Jahrgang
1. Beilage öes Vorwärts
Mittwoch, 26. Oktober 7027
Unsere überlasteten Gerichte.
Prozesse, die überflüssig flnd.
Unsere Gerichte klagen ständig über Arbeitsüberlastung. Aber immer wieder muß man Prozesse erleben, die zeigen, �nit welchen überflüssigen Dingen sie sich beschäftigen müssen. Aus der großen Zahl solcher Prozesse, die unnötig Zeit, Kosten und Nerven fordern, seien im folgenden zwei mitgeteilt, die man geradezu als Muster- beispiele betrachten kann. Der Arbeitslose und öer Iahrsthein. Einen Betrugsfall, der erst mit der Einführung der Umsteige- fahrschein« möglich geworden ist, beschäftigte die Berufungskammer des Landgerichts l. Der arbeitslose Handlungsgehilfe K. war vom Amtsgericht wegen Betruges zu drei Tagen Gefängnis ver- urteilt worden, weil er von der Straße einen Fahr- schein aufgelesen hatte und ihn zur Weiterfahrt benutzte. Di« Verhandlung entrollte ein soziales Bild von Arbeits- losenelend. Der junge Mann hatte als Arbeiter, Hausdiener, Laufbursche. nachdem er seine kaufmännische Stellung wegen Abbaus verloren hatte, gearbeitet, bis er im Dezember v. I. keine Arbeit mehr fand. Seitdem lebte er von der wöchenllichen Unterstützung von 12�0 Mark. Am 10. Mai war er in der Gormannstraße zum Stempln gewesen und wollte nach Tempelhof , um sich wegen einer Arbeitsgelegenheit zu bemühen. Er hatte nur noch 20 Pf. in der Tasche und konnte erst nach vier Togen mit dem neuen Unterstützungsgeld rechnen. Seine letzten Pfennig« wollte er behalten. Wäre er die zwei Stunden zu Fuß gelaufen, dann war es ihm sicher, daß ihm schon ein anderer die Stelle weggeschnappt hätte. Dor einem Warenhaus am Alexanderplatz sah er ein« Menge weggeworfener Fahrscheine auf der Straße liegen. Er bückte sich, um einen Schein herauszu- suchen, der noch nicht zur Weiterfahrt benutzt worden war. Ein uniformierter Aufsichtsbeamter der Straßenbahn rief ihm zu:„Laß die Toten ruhen." Der junge Mann erwidert« ihm darauf: „Man kann die Toten ja auch lebendig machen." Da der Beamte mit einer Straßenbahn weiterfuhr, benutzte der Angeklagte, sicher geworden, einen Schein ohne abgerissen« Ecke, um nach Tempelhof zu kommen. Er war aber noch nicht weit, als derselbe Beamte zu seinem Schrecken auf seinen Wagen aufsprang und die Ungültigkeit des Fahrscheins feststellte. Der Missetäter wäre glimpflich davongekommen, wenn« die eine Mark Straf« hätte gleich zokssen können. Di« hatte er ober nicht, und so wurde er wegen Betruges angeklagt. Auf den Hinweis von Landgerichtsrat Cloar, daß er doch einen Betrug verübt habe und Strafe bekommen müsse, antwortete der Angeklagte, daß er das wohl einseh«, daß es aber doch nicht bei seiner ersten Strafe gleich Gefängnis sein brauche. Der Staatsanwalt hielt drei Tage Gefängnis für durchaus angemessen und beantragte die Der- wersung der Berufung. Die Strafkammer hatte jedoch Einsicht für die sozial« Notlage des Angeklagten und verurteilt« ihn ju drei Mark Geldstrafe oder einem Tage Gefängnis. Ein mildtätiger Herr, der der Derhandlung beigewohnt hatte, überreichte dem Angeklagten mit Genehmigung des Vorsitzenden den Taler, damit er nicht ins Gefängnis gehen brauch«. Buch eine ,kinöesentführung�. Ein Ehemann, angesehener Arzt und vielbeachteter Künstler. lebt in unglücklicher Ehe und läßt sich von seiner Frau scheiden. Ueber die drei Kinder ist ein nach der Ansicht des Borsitzenden in der gestrigen Verhandlung„geradezu furchtbarer Ver- trag" geschlossen worden. Die Kinder sollen abwechselnd dem Vater und der Mutter zur Erziehung übergeben werden, und der Vorsitzende, Landgerichtsdirektor Krahne, ruft aus: ,Lch ver- stehe nicht, wie der gegnerische Anwalt zu einem derartigen Ver- trage, die Kinder auseinanderzureißen, die Hand bieten tonnte." Hinzu kommt, daß die geschiedene Ehefrau inzwischen einen lungen- kranken Mann heiratete, und der Vater befürchtet Ansteckung. Deshalb stellt der unglückliche Vater beim Gericht den Antrag, der Mutter die Kinder wegen Unwllrdigteit zu entziehen. Dieser
Antrag hat Erfolg: Der Vormundschaftsrichter ordnet an, daß die Kinder vorläufig beim Vater verbleiben. Dann aber betreten eines Tages ein Gerichtsvollzieher und ein Schupowachtmeister die Wohnung des Vaters. Eine vor kaum fünf Stunden gefällte Entscheidung des Landgerichts wird verlesen, nach der die Kinder der Mutter zu übergeben sind. Der Gerichtsvollzieher verlangt sofortige Auslieferung der Kinder. Den Vater bestürzt vor allem das Erscheinen des uniformierten und be- waffneten Schupomannes, und er vermag sich nicht auszumalen, daß «in Gerichtsvollzieher unter polizeilichem Schutz ein« Entscheidung im selben Augenblick verkünden und vollstrecken will. Er bittet um eine kurze Frist, um mit seinem Anwalt zu telephvnieren, und im Nebenzimmer trifft er sein« Kinder und die Erzieherin. In dieser Aufregung sagt er:„Gehen Sie so rasch wie möglich mit den Kindern spazieren!" Am Telephon bestätigt ihm dann sein Anwall, das Vorgehen des Gerichtsvollziehers sei gesetzlich nicht zulässig. Darauf lehnt der Vater die Herausgabe der Kinder dem Gerichtsvollzieher gegenüber ab. Gestern stand dieser Fall vor dem erweiterten Schöffengericht Charlottenburg zur Verhandlung. Es handelt sich um den stelloec- tretenden Vorsitzenden des Aufsichtsrats der Städtischen Oper in Charlottenburg , den hochangesehenen Musikkritiker des„Vorwärts", Dr. S i n g e r, und die Erzieherin Charlotte P l ö g e, die aus Z 235 St. G. B. wegen Kindesentführung angeklagt sind. Wir erfahren, was damals mit den Kindern weiter geschah. Draußen saß im Auto die Mutter, von einem Privatdetektiv war die Hintertür bewacht. Trotzdem war die Erzieherin mit den Kindern unbemerkt aus dem Haufe herausgekommen. Als dann aber in den Spätabendstunden die Kinder zum Vater zurückkamen, erschienen Kriminalpolizisten. störten die Kinder aus dem Schlafe,— das älteste Mädchen sst neun Jahre alt!— brachten sie auf die Wache und leiteten sie der Mutter zu. Seitdem hat der Vater seine Kinder nicht gesehen. Auf der Anklagebank sitzt der Vater, trotzdem nach dem allge- meinen Empfinden die Mutter dorthin gehört hätte. Auch das Gericht ist der Ansicht, daß der Vater unschuldig ist. Würden selbst aus der Tatsache, daß er die Kinder während der Anwesenheit des Gerichtsvollziehers spazieren führen ließ, die Voraussetzungen des Gesetzesparagraphen erfüllt sein, so ist doch soviel sicher, daß aus § 59 Freispruch erfolgen muß, da nach der Anfrage des Vaters bei dem Anwalt von einem äolas, einer Absicht, unter«rr keinen Umständen die Rede sein kann. Deshalb hat sogar der Staat»- anwaltFreisprechungbeantragt, und das Gericht schloß sich an. Wir fragen: Ist so etwa» nötig? Muß aus einem Tat- bestände heraus gegen einen angesehenen Mann Anklage erhoben werden, wenn alle Beteiligten der Rechtsprechung, Gericht, Staats- anwalt und Verteidigung, der einmütigen Ueberzeugung sind, daß auf Freispruch zu erkennen ist?
Raubüberfall in öer Landsberger flllee. Die Täter entkomme». Gestern nachmittag wurde die 60jährige Produktenhändlenn Anna S ch u n k« auf dem Grundstück Landsberger Allee 100 überfallen und beraubt. Die Bude der Händlerin steht dicht am Ein- gang des ausgedehnten Grundstücks. Nachmittags erschienen bei Frau Sch. ein Mann und eine Frau, die der Händlerin beide unbekannt waren. Sie wollten Lumpen verkaufen und verlangten dafür 30 Pf. Frau Sch. wollte jedoch mir 20 Pf. geben und zog nach längerem Handeln ihre Geldtasche heraus, in der sich etwa 3 0 0 M a r k befanden. Plötzlich packte der Mann sie am halse, zog sie über den Ladenlisch und würgte sie. Dann raubte er etwa 200 M.; die ihn begleitende Frau raffte schnell die Lumpen wieder zusammen und beide flüchteten aus dem Geschäft. Der Mann schloß die Tür von außen zu, um eine Verfolgung zu verzögern. Als Frau Schunke wieder zu sich kam, schlug sie die Scheibe der Tür ein, schob den Riegel auf und konnte nun erst Lärm schlagen. Von dem Räuber und seiner Begleiterin war natürlich nichts mehr zu sehen. Merkwürdigerweise hat der große und scharfe Hund, der an
einer langen Kette im Geschäft lag, sich nicht gerührt und die Fremden bei dem Ueberfall nicht gebissen. Sein« Kette ist lang genug, daß er die Tür hätte erreichen können. Mitteilungen von Personen, die vielleicht die flüchtenden Räuber gesehen haben, erbittet Kriminalkommissar Werneburg. Raubdezernat im Zimmer 80 des Polizeipräsidiums. * Zu dem Vorfall in der kleinen Frankfurler Str. 7, über den wir gestern berichteten, erfahren wir noch, daß nach den Ermiit- lungen, die Kriminalkommissar Dr. Wächter mit seinen Beamten anstellte, das Mädchen den Mann an der Ecke der Kaiser- und Kleinen Frankfurter Straße traf und mit ihm zusammen das Quartier aufsuchte. Die Verletzungen, die sie erlitten hat, sind glück- licherweise nicht so schwer, wie es zunächst schien. Der Ätten- täter muß mit dem abgebrochenen Messer stumpf zuge- stoßen haben, da die weitaus meisten Wunden Rißwunden sind. Es hat sich jetzt herausgestellt, daß es sich n i ch t u m e i n S e x u a l- verbrechen handelt, sondern daß der Mann mit dem Mädchen wegen einer Geldfrage in Streit geriet und nun wütend auf sie eindrang. Sie ist, obwohl die Verletzungen nicht lebensgefährlich find, ziemlich arg zugerichtet. Der Mann, von dem bisher noch keine Spur gesunden wurde, ist etwa 30 bis 35 Jahre alt, von kleiner unter- fetzter Gestalt und trug eine blaue Seglermütze und ein« Windjacke. Mitteilungen zu seiner Ergreifung an Kriminalkommissar Dr. Wächter im Polizeipräsidium._ kein Bnlaß zur Beunruhigung. Bei dem Fall von spinaler Kinderlähmung, der aus der Wilmersdorfer Goetheschule gemeldet wurde, hat jetzt die genauere ärztliche Untersuchung ergeben, daß es sich um eine l e i ch t e Erkrankung handelt. Eine sichere Feststellung darüber, ob wirklich spinale Kinderlähmung vorliegt, fehlt noch. Di« Klasse, zu der das erkrankte Kind gehört, wird am heutigen Mittwoch den Unterricht wiederaufnehmen. Zu einer Beunruhigung ist kein Anlaß, da alle Maßregeln getroffen sind, eine Weiterverbrci- tung der Krankheit(falls es sich überhaupt um spinale Kinder- lähmung handelt) zu verhüten. Einzelfälle von Erkrankungen an spinaler Kinderlähmung werden in Berlin öfter gemeldet. In der Regel geht die Gesamtzahl der Meldungen aus einem ganzen Jahr nicht über ein paar Dutzend hinaus. Im Jahre 1923 wurde die ungewöhnlich hohe Zahl von 64 gemeldeten Fällen beobachtet. Da- gegen wurden aus 1924 nur 27 und aus 1925 nur 28 Fälle gemeldet.
Eine seltsame Schießerei. Mit der Aufklärung einer seltsamen Schießaffär« ist die Kriminalpolizei zurzeit beschäftigt. Vor der Rettungsstelle 11 in der Kaiferallee zu Wilmersdorf hielt gestern gegen 20 Uhr ein Droschkenauto, dem zwei junge Leute entstiegen. Einer von beiden, ein 17iähriger Sattler Kurt P. aus der Holsteini- scheu Straße konnte sich nicht selbst fortbewegen und mußte von seinem Begleiter in die Rettungswache getragen werden. Der Arzt stellte eine schwereSchußverletzungamrechtenUnter- schenket fest und ordnete die sofortige Uebersührung in das Schöneberger Krankenhaus an. Di« jungen Leute gaben, nach der Herkunst der Schußverletzung gefragt, so wirre Ant- warten, daß die Polizei von dem Dorfall in Kenntnis gesetzt wurde, die sofort die Ermittelunge» aufgenommen hat. Feuer i« Marzahn . Mit der Bekämpfung eines gefährlichen Brandes war die freiwillige Feuerwehr von Marzahn und ein Zug der Berliner Berufswehr gestern abend in der Schloß st raße 30 zu Mar- zahn mehrere Stunden lang beschäftigt. Das Feuer war gegen 18 Uhr in der Dachkonstruktion eines etwa 20 Meter langen Stallgebäudes entstanden und breitete sich rnit großer Schnelligkeit aus. Zum Glück gelang es, mehrere Pferd« und Kleinvieh rechtzeitig zu retten. Der heftige Wind trieb große Flammenbündel nach allen Seiten auseinander, so daß eine Zeit- lang die Nachbargebäude stark gefährdet waren. Durch starkes Wassergeben aus vier Schlauchleitungen konnte das Feuer nach über einstündiger Tätigkeit niedergekämpft werden. Die A u s- räumungsarbeiten dauerten bis in die späten Abendstunden hinein. Die Entstehungsursoche ist noch unbekannt.
Reichsbanner in Arensdorf. Zu unserer Mitteilung, daß in Arensdorf der vom Reichsbanner niedergelegte Kranz gestohlen wurde, erfahren wir, daß diese Meldung nicht den Tatsachen entspricht.
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Einige schüttelten ihm fest die Hand, verzogen ange- strengt ihr Gesicht zu einem Lächeln und wußten nicht, was sie ihm sagen sollten, räusperten sich und schrien in unartiku- lierten Lauten. „Nun?... Was. Bruder?... Wie ist es?.-- Was?... Und gingen auf ihren Platz, ohne sich umzuschauen. Und als sie sich niedersetzten, schauten sie ihn wieder an, mit einem Lächeln, das sie nicht unterdrücken konnten. Gromada kam, lachte und es pfiff in seiner tuberku- lösen Brust. „Ist doch aus ganz anderem Stoff, der Genosse Tschu- malow! Wirtlich... Nun, leg los!... Wie wir Kommu- nisten uns wegen der Ziegen und Feuerzeuge desorganisiert haben, aber erlaube nicht zu diskutieren... Deck alles auf und dulde keine Widerrede!..." Er drehte sich zu den Arbeitern um und erstickte fast in seinem Entzücken. „Da habt Ihr's, Ihr Teufel, Ihr Nichtstuer!... Durch den Tod ist er gegangen und so und weiter... Und ich er- kläre: ich verlange nicht das Wort, ich sag im vorhinein, daß ich mit Genossen Tschumalow gehe... so wie Ihr mich hier seht, bin ich auch durch ihn in die Reihen der RKP. einge- treten.. Man hörte Gromada zu und lachte. Zu Gromada paßten diese Worte nicht. Und auch Tschumalow lächette. Und die Arbeiter wälzten sich im dichten Tabaksqualm vor Lachen, das im Husten erstickte. „Sprich, Gromada!... Dreh die Berge wie einen Kreisel, treib alle mit der Peitsche an, Genosse... Wir wer- den siegen!.. Loschak saß in einem fernen Winkel. Schwarz und bucklig, machte er sich wie ein Stück Anchrazit zwischen den staubigen, zementfarbenen Flocken der Arbeiter breit. Er saß schweigsam, war kleiner als alle, hatte aber etwas Er- drückendes an sich, und es war unmöglich, ihn nicht zu be- merken, wie er so da saß, mit einer finsteren wortlosen Frage in den Augen. Loschat schaute über alle Ding« hinweg, aber man hatte das Gefühl, als ob er plötzlich«in Wort all den Mensche» an den Schädel schmeißen wollte, ein Wort, das
ebenso von Rauch und Metallstaub durchtränkt sein würde, wie er selber, wie sein Gesicht, und das alle verstummen lassen und alle niederschmettern würde durch seine Schwere. Die Weiber saßen unruhig da, zupften an ihren Kleidern, lachten über den ganzen Mund, lärmten wie die Spatzen. Und als ihre Führerin stand, nicht neben ihnen, aber so, daß man sie sehen konnte, neben der Wand— Sascha. Ihr rotes Tuch brannte in ruhigen Flammen in Erwartung der Er- eignisie. Manchmal trat sie zu den Weibern , und sie drängten sich eng um sie, stießen mit den Köpfen aneinander, flüsterten alle zusammen und erstickten fast in ihrem Lachen. Man erwartete, daß Luchawa jeden Augenblick kommen würde, um seinen Bericht über den Kampf gegen den Zerfall und über die Holzkrise zu beginnen. Die Tür öffnete sich, und es erschien— nicht Luchawa, sondern Sawtschut, in Fetzen gekleidet, mit blutroten Augen. Aufgeschwemmt, mit einer Riesenkraft, die in seinen Muskeln stecken geblieben war, ließ er sich, mit dem Rücken an der Wand herunterrutschend, wie ein Klotz auf den Fuß- boden vor der Tür fallen und streckte seine knochigen, zer- schundenen, blutunterlaufenen Knie aus. Tief unter der Stirn, im dunstigen Dunkel seiner gezähmten Augen, ergoß sich in vergifteter Trübe ein großer Schmerz. Dascha ging zum Fenster, öffnete beide Flügel, die schwer waren.wie Türen. „Verfluchte Kerle in dieser Zelle, die ganze Arbeit räuchern sie mit ihren Pfeifen aus. Für ein müßiges Hirn — ist das Rauchen eine Arbeit..." Und kaum waren die Fenster geöffnet, als das ganze Zimmer wie ein Faß erdröhnte: auf der Veranda, einen Stock höher, brüllten die Trompeten wie Stiere, und die Trommeln donnerten ohrenbetäubend. ... In ihre häuslichen Nester zerstreut, das Werk, das Dröhnen, den Rauch, den Staub und Geruch der Maschinen ganz vergessend, mit anderem Staube bedeckt, dem Staube der Bergwinde— krochen die Werkarbeiter, die Arbeiter der verschiedenen Werkstätten, mit Säcken auf dem Rücken, hordenweise auf die Berge. Ueber Berg- und Steppenwege und Pfade gingen sie nach den Gehöften und Kosakensied- lungen, wie in den Zeiten der Naturalwirtschaft, vom Hunger getrieben und einer Gier, wie sie nur in Urzeiten oorge- kommen sein mag. Die Männer der Llrbeit, die in der Frühe nicht das Krähen der Hähne, sondern das metallische Heulen der Sirenen geweckt hatte, lernten in diesen Iahreu
die Gemütlichkeit der Ziegen- und Schweineställe, den scharfen Geruch des Viehdüngers und die Freude der warmen Hühnernester kennen, und diese Maschinenmenschen aus den dumpfen Fabriken lernten es, mit den Schweinen. Ziegen und Hühnern zu schreien, lernten es, wegen der Hühner und Ziegen, wegen eines Löffels Graupen in der Volksernäh- rungsküche, den aus Unachtsamkeit ein fremdes Ferkelchen gefressen hatte, ein wüstes Geschrei zu erheben. Das elek- trische Licht erlosch im Werk und in den Arbeiterkasernen. die Sirenen erstickten im Staub, Schweigen und Müßiggang . Es krähte und grunzte nach Dorfidylle. Düster versteckte sich der sorgsam-fleißige Mann und die sparsam-geschäftige Frau in ihren häuslichen Käfigen. Und hier im Klub„Komintern ", in der Zelle, reißen die Kommunisten ihre Augen auf, ihre ungewaschenen Hände und Kleider riechen nach Hühnerschmutz und nach dem Salmiakgeruch der Schweine- und Ziegennester. Sie sitzen eng aneinandergepreßt, und das Heulen der Trompeten und die ungewohnten Worte rufen ein anderes, vergessenes Leben aus der Vergangenheit in ihre Erinnerung. Auch Gljeb ge- hört zur Vergangenheit(als ob er erst gestern hier war), und er riecht nach Oel und glühendem Eisen und dem Schwefeldunst der kaltgewordenen Schlacken... Und wieder— ... Das Werk... Produktion... Bremsberge... Werkstätten... Kaum war Dascha vom Fenster weggegangen, als Ser- giej mit seiner schüchternen Glatze, die bis zu den Schultern herabhängende Locken umrahmten, eintrat. Er näherte sich Gljeb, bückte sich über seine Schulter und flüsterte ihm in geschäftlichem Ton etwas zu. Gljeb stand auf, riß den Helm vom Kopf und warf ihn mit geschickter Wendung auf das Fensterbrett. „Genossen, hier ist Genosse Iwagin statt Luchawa. Ge- nosse Luchawa ist bei den Verladern, die revoftieren, in drei Teufels Namen... wegen der Rationen... Wir eröffnen die Versammlung... Schweigt also doch endlich, ihr Himmelhunde. Und noch etwas will ich euch sagen: ich habe gehört, so mit halbem Ohr, und das erzählt auch das Radio... das Ausland, die Entente, kommt zu uns wegen Handel... schickt Schiffe... Ich glaube, wir werden darüber nicht sehr beleidigt sein... Bitte sehr! Wir freuen uns!... Wir können uns auch was einbilden..." Er machte diesen Scherz und lachte selber. (Fortsetzung folgt.)