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Morgenausgabe

Nr. 561

A 285

44. Jahrgang

Böchentlich 76 Bfenrig monatlich 3, Reichsmart, voraus zahlbar. Unter Ctreifband im In- und Ausland 3,50 Reichsmart pro Monat.

Der

Borwärts" mit der illustrier. ten Sonntagsbeilage., Bolt und Reit" fowie den Beilagen Unterhaltung und Wissen" Aus der Filmwelt", Stadtbeilage". Frauenstimme", " Der Kinderfreund", Jugend- Vor­wärts". Blid in die Bücherwelt", Kulturarbeit und Technit

erscheint wochentäglich zweimal,

Conntags und Montags einmal.

Vorwärts

Berliner   Bolesblatt

Sonntag ente 27. November 1927

Groß- Berlin 15 Pf. Auswärts 20 Pf.

Die en paltige Nonpareillegeile 80 Pfennig. Reflamezetle 5- Reichs­mart kleine Anzeigen" das jettge druckte Wort 25 Biennis( au äffig zwet jettgedruckte Worte) jedes weitere Bort 12 Biennia. Stellengeiuche das erste Wort 15 Pfennig, edes weitere Bort 10 Pfennig. Worte über 15 Buchstaben zahlen für zwei Worte. Arbeitsmartt Reile 60 Pfennig. Familienanzeigen ür Abonnentenze le 40 Prennig Anzeigen annahme im Hauptgeschäft Linden. traße 3. wochentägt von 8 bis 17 Uhr.

Bentralorgan dee Sozialdemokratischen Partei Deutschlands  

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Fernsprecher: Tönhoff 292-297. Telegramm- Adr.: Sozialdemokrat Berlin  

Mordanschlag auf Karl Seitz  .

Ein Wiener   Rechtsradikaler schießt auf den Bürgermeister.- Genoffe Seit nicht verletzt.- Der Täter in Haft.

Wien  , 26. November.( Eigenbericht.) Heute um 17% Uhr wurde auf den Bürgermeister von Wien  , Genossen Karl Seih, ein Revolverattentat verübt. Genosse Seiß hatte an der Eröffnung des Schneepalastes im ehemaligen Nordwestbahnhof teilgenommen und fuhr nach der Feier in das Rathaus zurüd. Als er den Wagen.bestieg, feuerte ein Mann Revolverschiffe ab. Der erste Schuß ging fehl, der zweite durchschlug ein Fenster des Automobils, und nur dem Umstand, daß der Bürger­meister sich sofort büd te, ist es zuzuschreiben, daß der Schuß über ihn hinwegging. Der Attentäter lief, noch weiter­schießend, dem Automobil nach, dann sprang er in einen schießend, dem Automobil nach, dann sprang er in einen Straßenbahnwagen, wo er verhaftet wurde. Er heißt Richard Strebinger. Er hat früher als Elektrotech­nifer in Olmütz  ( Tschechoslowakei  ) gearbeitet, ift aber feit Jahren in Wien   arbeitslos. Er gehört zu den rechtsradikalen " Frontfämpfern", wie z. B. auch die freigesprochenen Arbeitermörder von Schaltendorf, läuft oft in der Hafen­freuzlerwindjade herum und soll noch fags vor dem Mordanschlag in einer Frontfämpferversammlung gewesen fein. In seinem Wohnhaus ist er sehr wenig beliebt, noch Der Täter.

weniger angefehen.

Wien  , 26. November.( Eigenbericht.)

laufend, vier Schüsse auf das Auto ab, dessen Scheiben zum Teil zersplittert wurden. Bürgermeister Seiß, der sich im Automobil, das nun rasch davonjuhr, duckte, blieb unverlegt. Der Täter, auf den sich mehrere Polizeibeamte und einige Leute aus dem Publikum stürzen wollten, entfloh nach dem duntien Gelände des alten Güterbahnhofs. Die Polizei feuerte ihm mehrere Schüsse nad), er überkletterte dann einen 3aun und sprang auf die Plattform eines Straßenbahnwagens, wo er festgenommen wurde. Ein Wachmann jetzte ihm den Revolver auf die Brust, worauf er die Hände hochheb und sich widerstands­los abführen ließ. Begreiflicherweise herrschte unter den Festgästen, die sich zur Eröffnung des Schneepalastes eingefunden hatten, un­Ungarn) geboren und nach Gutenstein   in Niederösterreich   zuständig. geheure Eriegung. Der Verhaftete ist 1904 in Temesvar  ( damals In letzter Zeit will er Hausdiener in Salzburg   gewesen sein.

Dr. Heinisch, des Bundeskanzlers. Dr. Seipel, des Polizei Dem Bürgermeister sind Glückwünsche des Bundespräsidenten präsidenten, zahlreicher Diplomaten und anderer Persönlichkeiten zu­gegangen. Als der Täter auf der Elektrischen verhaftet wurde, gelang es der Polizei nur mit Mühe, ihn vor der Lynch justiz der erregten Bolksmenge zu schützen.

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äen red und dann ein umso tieferes Aufatmen gebracht. Der gestrige Abend hat dem roten Wien   zuerst einen Auf den da geschossen wurde von einem Front tämpfer", der bei Kriegs en de 14 Jahre alt war das ist. der erste Bertrauensmann von 43 Proz. der Wähler und Wählerinnen Deutschösterreichs, das ist der Parteivorsitzende, der Fraktionsführer, der Bürgermeister und Landeshaupt­mann des roten Wien  ! Das ist der Mann, der als junger Bolksschullehrer aus Amt und Brot gejagt wurde, weil er Sozialdemokrat war. Der ihn damals strafweise entließ, Bürgermeister Dr. Kari Bueger, der konnte damals nicht ahnen, daß der eben Gemaßregelte einmal in ungleich und, mit seiner Partei sie aus tiefster Not zu neuer Blüte führen werde. Auf den Repräsentanten der Hauptstadt und fast der Hälfte der gesamten Staatsbevölkerung schießt ein Bursch von 23 Jahren!

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Diftatur führt zum Krieg!

Nur die Demokratie fann den Frieden sichern.

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Als der Neffe Napoleons   I. durch einen verwegenen Staatsstreich die Macht an sich gerissen hatte, ließ er sich durch ein Plebiszit" das Recht bestätigen, ebenso wie fünfzig Jahre zuvor sein großer Onkel den Titel ,, Kaiser der Franzosen" zu tragen. Damals gab es noch feine nennenswerte Arbeiter­bewegung das Kommunistische Manifest war erit wenige Jahre zuvor erlassen worden und seine Wirkungen machten sich erst ganz langjam bemerkbar, die bürgerliche Demo­geschwächt, der Berwaltungsapparat war allmächtig, zumal fratie war durch die Niederlagen der 48er Revolutionen im Bunde mit den Militärs, und so erreichte Napoleon   sein Biel   mit einer erdrüdenden Mehrheit von rund acht Mil­lionen Stimmen. Um die Volksmassen zur Stimmabgabe für die Wiedererrichtung des Kaiserreiches zu gewinnen, lieg er das Plebiszit unter der verheißungsvollen Parole vor­nehmen: L'empire, c'est la paix! Das Kaiserreich bedeutet den Frieden!" Damit mollte er vor allem rung an das große Weißbluten des französischen   Volkes noch die Bauernmassen Frankreichs   födern, in denen die Erinne­lebendig war, mit dem der erste Kaiser der Franzosen" erleben, daß die Friedensparole dieses gewählten" Kaisers feinen nuglofen Ruhm erkauft hatte. Die vertrauensseligen Wähler mußten aber sehr bald ebensowenig wert war wie die übrigen feierlichen Ber­sprechungen der Monarchen zu allen Zeiten und in allen Ländern: nach wenigen Monaten beteiligte sich Frankreich  an dem Krimkrieg gegen Rußland  , fünf Jahre später führte es Krieg gegen Desterreich, einige Jahre danach war es an brach der Deutsch   Französische   Krieg 1870 aus, der dem napo einem finnlojen Abenteuer in Merito beteiligt und schließlich leonischen Gedanken endgültig das Genic brach.

seine Friedensparole ausgab, feineswegs unehrlich gemeint. Schon der große Napoleon   hatte immer wieder als Kaiser beteuert, daß er nichts Sehnlicheres wünsche, als ein Friedenskaiser" zu sein, und daß er immer nur von den anderen gezwungen werde, Krieg zu führen. Auch nach seinem Sturz hat er von St. Helena   aus diese Beteuerung seinem Sturz hat er von St. Helena   aus diese Beteuerung feiner Friedensliebe der Nachwelt überliefert. Aber schließ

Bielleicht hatte es Napoleon HI., als er beim Plebiszit

Richard Sirebinger hat beim polizeilichen Berhör an­gegeben, daß er durch die Tat nur die allgemeine Aufmerksamkeit auf seine wirtschaftliche Mottage habe richten wollen. Diese Be­gründung" ist aber falsch. Er ist zwar schon drei Jahre arbeits­los, hat aber bei seinen Tanten gewohnt, die ein gutgehendes Schneidergeschäft befiten und ihn wie seinen Bruder ausreichend unterstützt haben. Diese Tanten gehören monarchistischen Organisationen an, sein Ontel ist Oberst a. D. und Mitglied des fchwererer Zeit das Oberhaupt der Zweimillionenstadt jein lidh fommt es für die Menschheit nicht auf die Abiichten,

Frontkämpferbundes.

Richard Strebinger war ein eifriger Antimargist" und schimpfte bei jeder Gelegenheit auf die Sozialdemokraten. Er ist ein exaltierter Mensch; in feiner Kindheit soll er eine Kopfverlegung erlitten haben. Vor kurzem erregte er in seinem

fondern auf die Wirkungen an. Denn die Menschheit muß ja die Folgen der Politik tragen, die die Selbstherrscher treiben. Das gilt heute ganz besonders für Wilhelm II.  , der zwar bestreitet, daß er der Weitgeschichte angehört. dessen land am eigenen Leibe zu spüren bekommen hat.

Wohnhaus großes Hallo, da er mit allen möglichen Orden und under Nordwestbahnhof, vor dem dieses Attentat geschah weltgeschichtliche Rolle jeder einzelne Mensch in Deutsch­

Medaillen geschmüdt herumstolzerte. Vor einigen Monaten hat er sich in Salzburg   vom abfahrenden Flugzeug an einem. Seil mitnehmen lassen natürlich heimlich; es mußte dann eine Notlandung vorgenommen werden, um den blinden Luft­passasier wieder loszuwerden.

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und glücklicherweise mißglückte, ist vor 10% Jahren der Schauplaz der heimtüdischen Ermordung Franz Schuh­meiers, dieses Vorfämpfers der Arbeiterbewegung, durch einen fanatischen Anhänger der christlichsozialen Gegenpartei gewesen. Wir beglückwünschen unsere Genossen drüben und uns selbst dazu, daß dieses Attentat von gestern den beabsich denken über jenen Frontkämpfergeist" nötigen, der die Ge­walt und selbst den Gebrauch von Waffen für den politischen Rampf predigt.

Aus dem Rathause verlautet: Nach allem, was bisher vorstigten Erfolg nicht gehabt hat. Dafür wird es zum Nach­liegt, dürfte es sich in der Person des Attentäters um einen arre geleiteten Menschen handeln, der einige Jahre Schau­Spieler in Graz   war und jetzt die Arbeitslosenunter stigung bezieht.

Genauere Schilderung des Attentats.

Wien  , 26. November.

Alls Bürgermeister Seiz auf dem früheren Fiakerstandplay am Nordwestbahnhof fein Dienstauto bestieg, trat aus dem Dunfel ein Mann heraus und gab aus einem alten Trommel evolver, neben dem langsam anfahrenden Auto her­ Die Partei  

mahnt zur Ruhe.

Wien  , 26. November.

Die Sozialdemokratische Partei   hat an die Arbeiterschaft einen Aufruf erlaffen, in dem der Freude Ausdrud gegeben wird, daß das versuchte Attentat auf den Bürgermeister Seih mißlungen ist und die Arbeiterschaft aufgefordert wird, sich zu keinerlei Demonstra­tionen und Unbesonnenheiten hinreißen zu laffen.

Quichol wed fr

Putschmeldung aus Litauen  .

Regierung Woldemaras gestürzt?- Smetona fucht Einheitsfront.

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Das Beispiel der beiden Napoleons   und ebenso das Beispiel Wilhelms II.- beweist aber, daß Frieden und Autokratie zwei Begriffe darstellen. Die miteinander u n- vereinbar sind. Gleichviel, weiche Formen die Autokratie befleidet, ob Boltskaisertum" oder Monarchie von Gottes Gnaden oder militärische Diktatur, sie muß zwangsläufig zum Kriege führen. Das Fehlen der demokratischen Kontrolle über die Regierungspolitik. das Treiben der militärischen Hofcliquen, die Notwendigkeit für den Selbstherrscher, be sonders in der Jektzeit dem Bolte einen Erjaß für die per­lorene Freiheit in der Form von Waffenruhm und imperiali­ftischen Eroberungen zu bieten, diese und noch andere Gründe ähnlicher. Art treiben die autokratischen Regierungen un­weigerlich in die Bahn der außenpolitischen Kraftproben und Abenteuer, in die Bahn des Krieges.

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Ein Blick auf die politische Karte   Europas und auf die Ereignisse der lezten Tage ist allerdings noch beweiskräftiger als die hier angeführten Beispiele einer teils fernen, teils jüngeren Bergangenheit.

Wir haben in   Europa seit einigen Jahren eine ganze Anzahl von Ländern, in denen die faschistische Dikta tur unter verschiedenen Namen, Formen und Nuancen am Ruder ist:   Italien,   Litauen,   Polen,   Rumänien,  Bulgarien,   Ungarn und   Spanien.  

Riga, 26. November. 6. und 8. Dezember mit seinem Vormarsch auf   Kowno zu beginnen beabsichtige. Die Regierung konzentriert Truppen an der litauisch- flächen hat, find alle die oben aufgezählten Ditta­

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Wie noch unbestätigt gemeldet wird, ift die litauische Regierung Boldemaras durch einen Militäcputsch gestürzt worden alis auf dieselbe Weise, der sie ihre Herrshaft zu verdanken hatte. Es ist noch untefannt, ob dieser Putsch das verfassungsmäßige parla­mentarisch- demokratische Regieren oder eine reine Militärdiktatur errichten will

Auch aus   Warschau tommt diese Kowno- Butschmeldung, ohee Musto nepan Beftätigung und ohne Einzelheiten.

polnischen Demarfationslinie."

Der Oberfaschist Oberst Plech awitschus erklärte, daß nur die Militärdiktatur Citauen retten tönne! Berschiedene Freunde Woldemaras wollen diefen zum Rüdirift bewegen.

Morgen foll ein neuer Schritt des franzöfifchen, des   englischen und des italienischen Gesandten unternommen werden, um auf die Notwendigkeit einer Einigung mit   polen hinzu weifen dotusan fonts

In der Nähe der Demartationslinie find neue Berhaftungen Bor dieser Nachricht wurde aus   Kowno gemeldet: angeblicher Emigranten vorgenommen worden.( Demartationslinie Jm Kabinett erklärte Woldemaras, der Regierung feien Dotu- heißt die Grenze, weil   Litauen noch Kriegszustand" gegen Bolen mente zugegangen, nach welchen Pletschtaitis zwischen dem aufrechterhält.)

Wir haben anderseits in   Europa einige Stellen, an denen das Feuer des Krieges dauernd unter der Asche schwelt und wo der erste größere Sturm jederzeit ein Auflodern der Flammen hervorrufen kann. Von   Spanien abgefehen, das geographisch abseits liegt und feine außenpolitischen Reibungs turstaaten in außenpolitische Konflikte ver midelt.   Bulgarien streitet sich abwechselnd mit Jugo­  slawien und mit   Griechenland,   Ungarn schürt die   Irredenta in der   Slowakei und lauert mit einem aufgerüsteten Heer auf den Augenblick, wo es das   Burgenland dem ent­waffneten Defterreich entreißen fönnte,   Rumänien steht wegen   Bessarabien auf halbem Kriegsfuß mit   Rußland und megen   Siebenbürgen und dem   Banat in dauerndem, Konflikt mit   Ungarn, so daß man mit doppelter Besorgnis den außenpolitischen Rückwirtungen entgegensieht, die die nach dem plöglichen Tod des Diktators   Bratianu afut gewordene Berfaffungsfrise noch erzeugen kann.