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Nr. 252.

Erscheint täglich außer Montags. Preis pränumerando: Viertel­jährlich 3,30 Mart, monatlich 1,10 Mt., wöchentlich 28 Pfg. fret in's Haus. Einzelne Nummer

5 Pfg. Sonntags- Nummer mit illuftr. Sonntags- Beilage Neue Welt" 10 Pfg. Post- Abonnement: 3,10 Mt. pro Quartal. Unter Kreuz­band Deutschland   u. Desterreich­Ungarn 2 M., für das übrige Ausland 3 Mt. pr. Monat. Eingetr. in der Post: Zeitungs- Preisliste für 1895 unter Nr. 7128.

Vorwärts

12. Jahrg.

Infertions- Gebühr beträgt für die fünfgespaltene Petitzeile oder deren Raum 40 Pf., für Vereins- und Versammlungs- Anzeigen 20 fg. Inserate für die nächste Nummer müssen bis 4 Uhr nachmittags in der Expedition abgegeben werden. Die Expedition ist an Wochen­tagen bis 7 Uhr abends, an Sonn­und Festtagen bis 9 Uhr vormittags geöffnet.

Fernsprecher: Amt 1, Nr. 1508. Telegramm- Adresse: " Sozialdemokrat Berlin".

Berliner   Bolksblatt.

Zentralorgan der sozialdemokratischen Partei Deutschlands  .

Redaktion: SW. 19, Beuth- Straße 2.

Widersprüche und Gegenfähe. In diesem Augenblick bietet das Deutsche Reich ein merkwürdiges Schauspiel, das von dem Auslande nicht ver­standen werden kann, und auch von zahlreichen Deutschen   nicht verstanden wird. Wir Deutsche   sind eben auf politischem Gebiete an die tollsten Widersprüche gewöhnt, und was bei andern Völkern unser höchstes Befremden erregen würde, das merken wir an uns selber kaum oder gar nicht. Wir meinen den scharfen Gegensatz zwischen Süden und Norden, zwischen Osten und Westen.

Sonntag, den 27. Oktober 1895. Expedition: SW. 19, Beuth- Straße 3:

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sie heute noch nicht einmal organisch, nur mechanisch| vor 30 Jahren in einer klassischen Schrift meisterhaft durch­haben. geführt hat. Vergleichen wir Deutschland   mit Frankreich   und Eng  - Die Sonne der Freiheit geht da auf, wo die Sonne des Tags land. Der französische   Süden und Norden jener mehr untergeht: im Weiten das entdeckten unsere Vorfahren, romanisch, dieser mehr germanisch- stehen unzweifelhaft ein Klopstock, ein Kant, ein Schiller, ein Förster bereits in einem gewissen Gegensah, aber es ist politisch nur ein vor 100 Jahren. Der Weg der Kultur geht von Osten nach Gegensatz der Form, der Methode, nicht des Wesens. Westen oder richtiger von Nordosten nach Südwesten. Noch geringer find wenn wir von Irland   absehen Da wo der Kampf ums Dasein weniger hart ist, als im die nationalen Unterschiede in England. eisigen Norden und Often, da bleibt dem menschlichen Geist In Deutschland   ist der Gegensatz weit und tiefklaffend. auch mehr Zeit für seine Pflege und es mildern sich die Es ist, als ob zwei Völker in Deutschland   wohnten und barbarischen Sitten. Das Unglück Teutschlands ist, daß wir zwar zwei Völker im nationalen Sinn, nicht in dem in zwei Völker mit mit zwei Kulturen gespalten sind. sozialen des Disraeli  ." Südwest- Deutschland   ist demo- Diese Zwiespaltigkeit, die in unserer Geschichte ſeit fratisch, Nordost- Deutschland   ist kosakisch"- wurde schon der Reformation zu so tragischem Ausdruck kommt, spiegelt vor 60 Jahren von Börne gesagt. Und er sprach eine fich auch in unserer Reichsverfassung ab, die auf Wahrheit aus. die Basis des allgemeinen Wahlrechts als Spize der

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Während im Nordosten Teutschlands: in Preußen und Sachsen   fast alle bürgerlichen und alle sogenannten staats­erhaltenden Elemente mehr und mehr in das Mittelalter zurückdrängen, der Geist des Zweigeftirus Hammer stein- Stöder als echter Reichspfingstgeist über den Wassern schwebt, und Polizei, Staatsanwälte und Richter In neuerer Zeit ist ein Wort entstanden, das diese Pyramide die Pickelhaube setzt auf die demokratische im Schweiße ihres Angesichts von morgens früh bis in die Wahrheit bestätigt und beweist das Wort Oft el bien. Grundlage der Volkssouveränität das absolute Herrscher­späte Nacht hinein sich abplagen, den in der Luft herum- Ostelbien, das ist das Teutschland rechts der Elbe  - das Teutsch- thum mit einem so kunstvoll zugeschnittenen Majestäts­flatternden Ideen der Neuzeit Salz auf den Schwanz zu land der Junker, der nur äußerlich beseitigten Leibeigenschaft- begriff, wie nur das römische Bäsarenthum ihn gekannt ftreuen und sie hinter Schloß und Riegel zu bringen das Deutschland  , in welchem sich noch die Fundamente des hat und wie er in feinem anderen Staate der Gegenwart, fehen wir, wie in Südwestdeutschland   ein gesunder, freiheit Mittelalters erhalten haben und in welchem auf diese selbst in Rußland   nicht gilt. licher Hauch durch das Staatswesen zieht. In Württem Fundamente ein Riesenzuchthaus und eine Riesenfaserne Wir sind den Süddeutschen zu liberal!" rief Fürst berg ist die reaktionäre Sippschaft der Konservativen und als Erfüllung des höchsten Staatszwecks erbaut werden soll. Bismarck   einmal in dem Reichstage es war das eines Nationalliberalen bei den letzten Landtagswahlen so gründ­Und links der Elbe- We stelbien- das ist jener Hohnworte, deren Wirksamkeit in der zynischen Um­lich geschlagen worden, daß heute die württembergische das andere Deutschland  , welches, trotzdem es von Ostelbien drehung der Wahrheit und Thatsachen liegt. Kammer einen bürgerlichen Demokraten zum Präsidenten leider beherrscht wird, den germanischen Freiheitsgeist und Das Sozialistengesetz, die Acra des Agrar- Junkerthums, hat. Jm bayerischen Landtag machen die bürgerlichen Unabhängigkeitssinn noch nicht vollständig abgestreift hat. Die neveste deutsche Rechtsprechung, die Aechtung jedes forts Parteien Front gegen den Militarismus und bureaukratische Nach Annahme der letzten Militärvorlage wurde eine schrittlichen, humanen Strebens das ist der Liberalis  Verknöcherung und fordern ernstlich die Einführung des Abstimmungskarte verbreitet, aus der hervorging, daß die mus", den der Mann des Welfenfonds im Auge hatte. allgemeinen Wahlrechts für den Landtag. Und auch in große Mehrheit der in Ost elbien gewählten Abgeordneten Die Makedonier haben Griechenland   erobert aber Baden offenbart sich ein ähnlicher Aufschwung des bürger- für, die große Mehrheit der in W e ft elbien gewählten gegen der griechische Geist hat schließlich die Makedonier ers lichen Freiheitsgeiftes. die Militärvorlage und den Militarismus gestimmt hatte.| obert.

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Und so in allen Fragen, wo Vergangenheit und Gegen- Das slawische Dstelbien hat das germanische Westelbien wart aufeinanderplatzen. Es sind zwei Völker dies- und ero bert. Preußen, die Hauptmonarchie Ostelbiens hat mit jenseits der Elbe  . Und was mehr sagen will, zwei makedonischer List und mit makedonischem Blut und Eisen Kulturen. Deutschland   in sich aufgehen" lassen. Doch nun beginnt der umgekehrte Prozeß.

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Wir legen auf diese Erscheinungen fein allzu großes Gewicht wir wissen, daß in unseren Kulturstaaten und Deutschland   müssen wir doch wohl den Kulturstaaten beizählen, obgleich dies angesichts dessen, was im Osten und Norden vor sich geht, sehr schwierig ist- wir wissen, daß In Südwestdeutschland  , das die römische Bildung einsog, in unseren modernen Kulturstaaten mit der sich immer ver- ist die Kultur an die zweitausend Jahre alt, faft Der Reichsgedanke hat seine Kraft verloren"- jammern tiefenden Kluft zwischen Bourgeoisie und Proletariat, die so alt wie die französische. die Reptilien, und in der That, mit der geistigen Verpreußung" Gründung oder doch Befestigung bürgerlich demokratischer In Nordostdeutschland  , das nach der Völkerwanderung hat es ein Ende. Der preußische Partitularismus ift Parteien eine sozialpolitische Unmöglichkeit ist. Immerhin viele Jahrhunderte lang bis zum zehnten Jahrhundert nicht mehr allmächtig. In Südwestdeutschland   hat der find diese Lebensregungen des Volksgeistes in Südwest- unserer Zeitrechnung von slavischen Stämmen über Rückschlag begonnen und wenn nicht alle Anzeichen trügen, Deutschland   im Gegensatz zu der öden Unfruchtbarkeit und schwemmt war, ist die Kultur höchstens halb so alt wird sich die militärische Eroberung Ostelbiens durch West­beschränkten Rückwärtserei im Norden und Often eine wie in Westelbien, und das germanische Element ist hier elbien nach tausend Jahren auf dem Boden der inneren hochbedeutsame Erscheinung, welche der Zwiespaltigkeit obendrein ganz verslavt. Und Slave und Sklave ist be- Entwickelung als moralische Erobernng" wiederholen. des deutschen   Staatswesens entspricht. Der Gegensatz fanntlich ein Wort. Unsere westdeutschen Delegirten zum Aus dem Westen wird die Kultur schließlich nach Osten ge­zwischen Nord und Süd, Ost und West tritt nicht erst jetzt Breslauer Parteitag sahen erstaunt diese verslavte, ver- tragen. hervor. Er ist uralt. Er steckt nicht nur in unserem stavte Welt. Der vordringende Sozialismus aber hat sicher keinen Staatswesen, sondern auch im Volksorganismus. Und dieser Tas verslavte Ostelbien hat Westelbien gegenüber die Grund es zu betrauern, wenn das Preußenthum die Segel Gegensatz ist schuld ta an, daß wir so viel später als nämliche Rolle gespielt, wie weiland Makedonien   den zu streichen hat vor dem Deutschthum. andere Völker zur nationalen Einheit gelangt sind, und Hellenen gegenüber- eine Parallele, die David Strauß  

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Kirchthurm hämmerte die Uhr zehn schwerfällige Schläge, die starre Gebirgswelt vor sich sah, die nichts von der Nieder­Ein Derrückter.( Machor. verboten. Das alte Gebäude ganz rebellisch machten. Im Gebält ächzte tracht der unter ihm liegenden Menschheit wußte, jeßt aber und stöhnte es unter dem aufschlagenden Klöppel, Staub rissen ihn diese sonderbaren Laute, die so geheimnißvoll und Mörtelstückchen lösten sich fuisternd von den Wänden. au ihm vorbei gezogen waren, wieder gewaltsam ins Thal Als Gattl unten im Torfe ging, verklang der letzte Schlag seiner Sorgen hinab. mit zuckenden Tonwellen in der reinen Luft. Er sah das Wirthshaus erleuchtet. Von dort war also

Kampf und Ende eines Lehrers. Roman von Joseph Ruederer.

Giskalt durchlief es den Lehrer. Wenn diese Drohung verwirklicht würde, so konnten Folgen eintreten, die er sich Zum Forsthaus zurück eilte der Lehrer. Eine fieberhafte der Lärm gekommen, man tanzte und sang noch. Wie? faum auszudenken wagte, und es gab abermals zertrümmerte Erregung hatte ihn gepackt. Was er heute erleben mußte, Wenn er jetzt hinunterginge und einige der Bauern auf­Hoffnungen auf wer weiß wie lange. Der Geistliche pflegte das wollte er hinausschreien in alle Welt als grausames suchte, die Zeugen des heutigen Vorfalls gewesen waren. mit solchen Worten auch nicht zu spaßen und Gatti, der Unrecht, das man ihm zugefügt hatte. War er bis jetzt Das wäre kein übler Gedanke! Gattl erwog ihn nach allen wie ein Träumender aus dem Zimmer taumelte und zur überall der Gemaßregelte und Unterdrückte gewesen, diesmal Seiten, während er seine Augen fest auf das Licht in der Treppe steuerte, zweifelte feinen Augenblick, daß diese An- wollte er's darauf ankommen lassen und trozig die Etirne Tiefe heftete. Endlich aber kam er nach langem Grübeln fündigungen baldigft ausgeführt würden. Er ging in furcht- bieten. Er wollte nicht länger die Tuldsamkeit des geprügelten zu einem Entschlusse und jagte von dem Eingange der barer Erregung zu seiner Stube. Hundes zur Schau tragen, er wollte losschlagen mit aller brausenden Schlucht hinweg, eilig den Weg hinunter, den er Gewalt. Wie und wann, das sollte ihm der Förster rathen, gekommen war. den er jetzt aufsuchte.

Gebückt trat er ein und zündete eine Kerze an. Dann sah er stier um sich. Ein Bett, ein Schrank, ein Stuhl In der Gaftstube des Wirthshauses ging es lustig zu. und ein Tisch mit einigen Büchern, das war die ganze Als er aber vor dem erleuchteten Fenster einhielt und, Graue Staubwolfen flogen zu den schmutzigen Zylindern Einrichtung. An der kahlen Wand hing in geschnigtem hinter Rebenblättern versteckt, die schlummernde Anna im der Petroleumlampen hinauf, und unter ihnen bewegte sich Holzrahmen eine kleine Photographie Anna's neben mehreren Arme ihres Vaters gewahrte, da gewann er's nicht über ein dunkler Knäuel tanzender Paare beim Klange zweier Heiligenbildern. sich, die beiden zu stören. Er betrachtete mit bitteren Ge- Bithern jauchzend und brüllend durch den vollgepropften Lange stand der Lehrer in finsterem Brüten auf gleicher fühlen dies Bild häuslichen Friedens und ballte wüthend Raum. An den breiten Wandbäufen, den geöffneten Stelle. Er hörte den Geistlichen die morsche Stiege herauf die Fäuste gegen das Pfarrhaus. Dann schlich er um die Fenstern entlang, saßen ältere Bauern in festtäglichen tommen und zu Bette gehen. Unwillkürlich machte er dabei Försterei und wanderte ziellos über die Hochwiese hinan. Kleidern und unterhielten sich. Einige rauchten Pfeifen, einen Schritt näher an das Fenster. Daun   zogen unten im Wuchtig bauten sich vor ihm die Felswände auf, die im die anderen hielten abgeschnullte, zerfette Bigarrenstummel, Dorfe betrunkene Burschen mit lautem Gejohle durch die letzten Schimmer der verschwindenden Mondsichel gespenstisch die längst keinen Dampf mehr gaben, zwischen den Fingern Straße, langsam verloren sie sich in der Ferne. Wieder beleuchtet waren. Gattl wäre am liebsten tief in die Klüfte und redeten dabei zu den Nachbarn hinüber; wieder andere regte sich's nirgends im ganzen Hause und im grabes  - auf dem schmalen Jagasteig hineingewandert, aber ein saßen da, die Hände in den Hosentaschen und blickten stillen Zimmer, das den Träumenden wie ein enger Sarg frischer Luftzug wehte vom Thale   herauf und trug am Ohre theilnahmslos an allem in die Tanzenden hinein oder zum umschloß. des Wanderers ein Geräusch vorbei, das ihn wie ein Ruf Ecktisch hinüber, wo der Förster Göpfert mit den Wirths Blöglich aber riß es den Lehrer aus seiner Betäubung vom Leben berührte. Musik und lautes Gelächter rauschten leuten am selben Blaze weilte, den er schon am Morgen empor. Er fuhr sich über die Augen, blies das Licht aus seltsam vermengt für einen Augenblick aus der Tiefe empor. eingenommen hatte. und drehte sich mit einem Saße zur Thüre. Mit lautem Ge- Eilig floh das Geräusch er in die gewaltige Schlucht polter sprang er über die knarrende Treppe zum Vorplatz hinein, die sich als schwarzer Rachen zwischen zwei flogige hinab und eilte durch das Hausthor, das er eilig wieder Berge gesprengt hatte. Dort verschwand es in dem dumpfen verschloß, in die Nacht hinaus. Brausen des gewaltigen Sturzbaches, des Gaifs, wie man ihn in der Gegend nannte.

Auf seiner Stirne waren mittlerweile rothe Flecken hervorgetreten und die verschwommenen Augen sahen wie verglast drein. Trotzdem hielt er sich noch recht gut aufrecht und interessirte sich für alles, was in der Stube vorging.

Saftig stürmte er an der Friedhofsmauer hinab. Die schiefstehenden Grabkreuze im matten Lichte der Mondsichel Betreten blickte der Lehrer zurück. Er hatte erst etwas Ein junges Mädchen, das am Ofen neben einem alten wuchsen wie sturmbewegtes Schilf daraus hervor. Vom Gleichmuth beim Hinaufwandern gefunden, als er diese Bauern faß und eifrig auf die Notenblätter der Zither­