Kr. 575• 44. Jatirgang Dirosiog. 6. Dezember 1927
� 3emettL fXemaa vo» Ffodor©labtet». Sie wollte wie eine Henne von der Trepp« hinunter- fliegen, der Soldat drehte sich wieder um. die Fetzen von Derg fielen auf ferne Augen. Sie verstand— sie mußte warten, bis er mit seinen breiten Schritten hinter dem Berge ver- schwinden wird. Und mit einem Herzen, das vor Blut heulte, mit Augen, in denen der Tag in rotem Wirbel kreiste, mit den letzten Kräften ihres Willens rief sie Njurka freundlich zu sich:„Komm her, zur Mutter, Njuffenka... schnell, schnell... heb diesen Papierzettel dort auf, bring ihn der Mutter... So... Komm mit dem Zettel zur Mutter... schnell... schneller!...* Und Njurka pickte wie ein Küchlein den Papierzettel auf und wackelte wie ein Küchlein zu Dascha hin:„Hier Mutter! ... Hier. Mutter!..." Sie legte sich auf die Knie der Muller und baumelte mit den Füßchen. Und ein roter Wirbel kreiste in Daschas Augen, und das Herz war nahe daran, zu zerspringen. Und diese Worte las sie auf dem Zettel, und diese Worte waren von Gljeb geschrieben(kann denn ein anderer so scbreiben, außer Gljeb?):„Dascha, ich lebe und bin gesund. Gib acht auf dich und Njurotschka. Verbrenne das sofort, der schnurrbärtige Iefim wird dir sagen, wie und was." Gljeb, lieber, einziger, wenn du lebst und gesund bist und Mut zum Leben hast— dann ist sie, Dascha, auch voller Kraft und voller Mut zum Leben... Und in der Nacht kam der schnurrbärtige Iefim, er roch nach Wald und Berg, und Dascha schien es. daß er nicht nach Wald, sondern nach Gljeb rieche. In der Dunkelheit des Zimmers, beim Fenster(nur Sterne tropften vom Himmel) saß Dascha neben dem schnurrbärtigen Iefim und zitterte vor Freude und vor Liebe zu Gljeb. Und der Schnurrbärttge sagte mit heiserem Tabatsflüstern. den Revolver in der Hand, folgende Worte, die Dascha nicht begreifen konnte. „Du mußt mtt anpacken, Dascha— als erstes. Der erste Schlag: Gljeb schleppt sich durch die Weißen hindurch zur Roten Armee. Hat er Glück, dann kommt er durch. Wepn er sich fangen läßt— dann ist er kaputt. Doch nicht um ihn aeht es..■" Dascha zitterte und flüsterte abgerissene Worte:„Viel- leicht, vielleicht... sag mir. Genosse Iefim... Er wird doch
zugrunde gehen in so einem Leben? Er ist doch allein... er ist doch allein zwischen den wilden Tieren..." „Nicht um ihn geht es für den zweiten Schlag. Der zweite Schlag ist ein Wort für dich— Gljebs Wort: Halle dich und fei stark. Es ist eine so unstete Zell ... ich werde immer in deiner Nähe sein. Du wirst unser grünes Weib fein: das sog- ich dir von Gljeb und von mir— wir sprechen aus einer Seele. Versteh. Tu das nicht für Gljeb— sondern für alle grünen Brüder. Unsere Grünen sollen dir für diese Zell — dein Mann sein. Denk daran. Ich werde überall für dich bereit sein— überall. Und du organisiere alle grünen Witwen in einem Haufen. Geh selber in die Verpflegungs- abteilung des Werlkonsums. Wir werden die Sache schon zu rechthämmern. Na und sonst— Amen. Geh nicht vor die Tür, sondern husch nur am Pfosten vorbei." „Und wie... und mein Töchterchen? Njurotschka..." „Gib sie zu einer guten Frau hin. Njurka wird dir nicht wie ein Spätzchen davonfliegen. Sag nur. sag, was du noch sagen willst..." Dascha zitterte und konnte noch immer nicht fest und laut, aus ganzer Brust ein Wort hervorbringen. Sic sagte nur:„Genosse Iefim, vielleicht geht Gljeb jetzt allein durch die Nacht.. und der Tod ist ihm auf den Fersen... Wenn's um Gljeb so steht— so will ich auch nichts anderes... Den- selben Weg. den Gljeb gegangen ist, denselben will auch ich gehen.. Iefim gluckste im Dunkeln, und seine Hand tappte sanft auf ihre Knie. Und ging ebenso unhörbar weg. als ob er nie dagewesen, als ob er wie ein dunkler, nächllicher Schatten durch ihre Traumgedanken gegangen wäre. Und nock) einmal erzitterte Dascha. Aber das war später, im Laufe ihrer langen, trotzigen Tage. Das Töchterchen Njurka übergab sie Motja, gab ihr da- für eine Rationskarte. Motja war eine gute Frau, eine gute Freundin, und sie war lieb und zärtlich zu Njurka. Sie begann im Konsum bei der Aufteilung von Brot in der Bäckerei zu arbeiten. An machen Tagen kamen un- bekannte Menschen(diese Tage und diese Menschen verbrann- ten ihr Herz mit heißem Blut) und nahmen gegen Zettel Säcke mit Brotresten für die„Arbeiter der Bergbauten". Und Weiber...grüne Witwen", gab es beinahe ein halbes Dutzend. Die Hälfte von ihnen hamsterte, betrog ihre Männer, kam mit anderen zusammen un> vergaß sehr ball» ihre früheren Männer. Die anderen drei waren arbeitslos, ernährten sich durch Wäschewaschen für die Offiziere und emp- fingen in der Nacht Engländer und Soldaten gegen Natu- rallen. Dascha sammelle sie um sich und gab ihnen Arbell:
Mitchwasser und Pflaster. Dem Arzt glaubte die Betrogene nicht, aber der Frau Meier Das gewisfenlole und gemeingefährliche Treiben einer Be- triigerin fand vor der Poisdomer Siroftammer sein« Sühn «. An- geNagt war die Wjährige Klara Meier aus Potsdam , die sich wegen Betruges verantworten mußte. Das Amtsgericht hatte sie in dieser Sache zu 9 Monaten Gefängnis und 3 Iahren Ehroerlust verurteilt. Gegen das Urteil hatte die Angeklagt« B e- r u f u n g eingelegt. Die Zstjährige Stütz«, eine geschiedene Frau N. aus der Königs- alle« in Grunewald , lernte bei einem Ausflug nach Potsdam die Angeklagte kennen. Di« Stütze bildet« sich ein, an einer Infettions- kraitkheit zu leiden und erzählte das auch der Meier.„Aber Liebste. da lasten Sie den Kopf hängen? Ich Hobe auch schon so etwas gehabt. Ich weiß eine alte Frau in Neukölln, die braut Medizin bei jedem und bespricht diese Medizin," nieint« trösten?) die Frau Meier. Schon- am nächsten Tage erschien die Angeklagte in der Grunewaldvilla und begann ihr« Kuren mit„weißer Medizin" und Pflaster. Pro Krankenbesuch Ist M., 15 M. und 20 M. Schließlich muhte die Pattentin aus Wunsch der Potsdamer Heilkundigen ihre gute Stellung ausgeben und zu ihr nach Potsdam in die Wohnung übersiedeln. Dreizehn Wochen dauert« dort der Hokuspokus. Um die Pa- ttenttn bis aufs letzte ausnutzen zu können und an sich zu fesseln. verfchrieb chr die Angeklagte auf Grund ihrer Heilkraft einen Bräutigam, und zwar einen Unterofsizier vom Reiter- regiment 4 in Potsdam . Die Heilkundig« machte den Postillo.i d'amour und schrieb die Antworten des Unteroffiziers selbst, der niemals existierte. Inzwischen fuhr di« Angeklagte im Sonntagsstaat ihrer Pattcnttn zum Aergnügen nach Berlin , während die Patientin Kindermädchen spielsti mußt«. Sie war in den dreizehn Wochen hilflos und verstört geworden und mochte sich kaum mehr auf der Straße zeigen. Granatschmuck, Ringe, Armbanduhr, mehrere hundert Mark erspartes Geld und die Kleider vom Leibe— alles hotte di« Potsdamer Hyäne an sich gebracht und oerjetzt. Auf eine Anzeige griff die Kriminalpolizei ein, di« dann die Stütze aus deir Klauen der Betrügerin erlöste. Zu einem Arzt gebracht, fand dieser keinerlei Spuren der vermein ilichen Krankheit vor. wohl aber einen vollständigen Nervenzusammenbruäi. Di« Medizin bestand aus M i I ch w a l s« r, das Pslafter war Hühneraugen mittel. Staatsannxtltfckafterat Stargardt zur Zeugin:..Bevor Sie di« Angeklagte kennen lernten, waren Sie doch in Behandlung eines Arztes, und der konnte leine Krankheit feststellen, das mußte Ihnen doch oenügen?" Zeugin:„Dem Arzt glaubte ich nicht, alier der Frau Meier aus Potsdam . Der mußte ich gehorchen, ich war ja schon halb wahnsinnig bei ihr geworden." Mit Rücksicht auf die schwere Erkrankung der Angeklagten, die an Lungentuberkulose leidet, und mit Rücksicht daraus, daß ihr die Betrüoereien durch die bodenlose Dummheit der Zeugin sehr leicht gemacht worden sind, wurde die Strafe aus K Monate herabgesetzt. Auf Ehroerlust wurde nicht erkannt. Oer Streit um den Krastdroschkentarif. Differenzen innerhalb der Interessenten. Im Anschluß an den Schritt der Kraftdroschtenbesitzer beim Polizeipräsidium bezüglich einer Abänderung des bisherigen Tarife, die bekanntlich vom Polizeipräsidium abgelehnt worden ist, ist es in den Kreisen der Innung Vereinigter Kraftdroschkenbesitzer zu erheb- lichen Differenzen gekommen. Ein Teil der Innung steht nomlich auf dem Standpunkt, daß derartige übereilte Aktionen dem Gewerbe und dem Ansehen der Beteiligten nur schaden konnten, ober zu keinetn Erfolg« führten. Sowohl der Syndikus der Innung. Dr. Kopfch, wie der Obermeister Bewer hätten immer und immer wieder vor übereittcn Schritten gewarnt, sie feien ober leider mit ihrem Einfluß gegen eine Mehrheit von Borstandsmitgliedern nicht durchgedrungen. Syndikus Dr. Kopfch hat jetzt, da er die Ber- ontwortung für den jüngsten Schritt nicht mehr tragen konnte, fein Amt als Syndikus der Innung niedergelegt. Mit dieser Entfchei- dung wird sich die kommende" Innungsoersammlung bcschäjtigcn.
Oer Kleintiermarkt auf der Straße.
Dort, wo der wuchtige Block des Bolksbuhnengebäudes wie eine Festung des neuen Geistes inmitten der Schuttabladeplätze und der Gerümpelbauten, der unschönen Ueberbleibsel des allen Scheunen- »ieriels, steht, ist einer der sonderbarsten Märkte Berlins : Der Berliner Geflügel- und Kleintiermarkt. Der Bau- platz an der Ecke der Hirten st raße wird von einer Reihe häßlicher Holzbarocken eingefänmt, den Verkaufsläden der Geflügel- Händler; aber nur an den sehr regnerischen Wintertagen ist die gackernde und krähende Ware in den Verkaufsbuden untergebracht. Sobald es das Wetter irgendwie gestattet, ist die ganze Straße mit den Käfigen des Geflügels besetzt. Da sieht man Tauben und Hühner aller Rasten, Kaninchen und Meerschweinchen. Gänse und„ganz was Exotisches", wie der Verkäufer meint, der hier freilich schon unseren guten Freund, den Igel, und Hamster und Wchse zu den Exoten rechnet. Wirklich„exotisch" find nur die Affen, die eine selten« und darum sehr bemerkte Ware auf dem Kleintter- markt sind. Der Klelntiennartt besteht fett 1921 in dieser Form. Damals kamen einige Kriegsmvaliden auf die Idee, den Handel mll Tauben, der in den sogenannten„Ta u b e u b ö r s e n",«nsachen Kneipen von echtem Berliner Lokalkolorit, getrieben wurde, hier zu zen- trallsieren und ihn gleichzeitig auf alles andere Geflügel und allerlei Klemtterzeug auszudehnen. Sie mieteten sich auf der leeren Baustelle an der Ecke der Hirtenstraß« Standplätze und führten darauf, als die schlechte Witterung einen Berkauf im Freien unmög- llch machte, die primitiven Holzboden auf. in denen sie heute noch hausen. Für die Generalpächter der unbebauten Grundstücke wurde der Geflügelmartt zu einem recht einträglichen Geschäft: durchschnittlich sind die Plätze, auf denen sich die llnterpöchter die Buden selbst errichten mußten. 9 Quadratmeter groß und kosten 39 Mark Monatsmiete. Freilich bracht« eine der Firmen, die dort
Garagen errichtete,«s fettig, bis vor einem Monat von dm Unter- Pächtern für den gleichen leeren Platz SV Mark Monatsmiete «inzuziehen. Aber die Tags dieses guten Geschäfts gehen zu End« Di« Händler rechnen selbst damit, daß sie bei Bebauung des Scheunenviertels. die im Frühjahr einsetzt, im Januar oder Februar ihre Plätze werden räumen müssen. Das wird vielleicht für manche der kleinen Händler den wirtschaftlichen Ruin bedeuten, wenn es ihnen nicht gelingt, in einer anderen Stadtgegend den Kleinttermarkt in ähnlicher Weise zu zentralisieren. Di« Stadt könnte hier durch Ueberweisung eines geeigneten Platzes zu billigem Mietszins, bei dem wucherischer Zwifchcngewinn ausgeschaltet ist. manche der Existenzen retten, die mühsam in der Nachkriegszeit und den Inslotionsjahren aufgebaut sind. Wer sind nun die Kunden des Berliner Kleinttermarktes? Für Kaninchen und Hühnergeflügel, Puten und Gänse in erster Linie die L a u b e n k o l o n i st e n und die K l e i n s i e d l e r, die sich sogar die Weihnachtsgans selbst fettnudeln, trotzdem so ein Gänse- tier schon ungemästet etwa 14 Mark kostet, und also das selbst- gemästete Gänsefleisch kaum einig« Pfennige billiqer ist als die schönst« Oderbrucher Stoppelganz aus der Gäicheausschlachterei! Auch Igel werden von den Laubenkolonisten gern gekauft, weil sie als MSujefänger einen hervorragenden Ruf besitzen. Neben den Tauben- Züchtern sink) es dann noch die Kliniken, die hier Meer- schweinchen als Versuchstiere kaufen, ein Gefchäftszwetq. der freilich nachgelassen hat. denn schon llntge machen den Meerschweinchen die billigeren Natten und Mäuse.Konkurrenz",«in« Konkurrenz freilich, an der sie selbst unschuldig sind. Wenige Monate noch, dann wird dos Idyll des Kleintiermorktes der Spitzhaue weichen müssen, die gackernde uird gurrende Ware wird nicht mehr die schmale, alte Straß« säumen, und Berlin wird wieder einmal um«in pittoreskes Straßenbild ärmer sein.
in die Berge gehen, in die Stadt, um den Grünen Kleidung und Beschuhung zu bringen, und Papiere und Berichte van allen möglichen wichtigen Leuten. Das waren: Fimka(ein Mädel— eine Braut, chr Bruder Petra war bei den Grünen). Sie sah so zart aus wie ein feines Fräulein; Domacha— breitlnochig und rot- häutig. mit drct abwechselnd heulenden kleinen Fröschen. und Lisaweto. eine kinderlose junge Frau, mit»oller Brust und heißer Röte im Gesicht(trotz der hungrigen Zeit). Fimka ist weich und ergeben, niemals versagte sie sich einem Mann« als Frau— niemals ging eine Frau leer von ihr weg, die um Lebensmittel bat. Domacha ist ganz Wut. und ist bereit, sich zu rächen— an jedem und aus jedem Anlaß, für ihr Unglück. Und Lisa- weta ist verschlossen, und am Tage, vor Menschen, unnahbar. Und eben diese hatte Dascha unter ihre Führung genommen: nur mit ihnen verbrachte sie ihre freien Stunden. In düsteren Nächten kam der schnurrbärtige Iefim, schlug mit dem Revolver auf seine Knie. „Ihr sollt's wissen. Weibergenossinnen, es gibt nur einen richtigen Schlag: schweig— sonst gehst du kaputt. Beiß deine Zunge mit den Zähnen ab... Die Zunge beiß ab und spuck sie aus und schnapp mit deinen Augen nicht nach einem anderen, sondern versteck sie in deinem Bauch... Denk nur nach..." Das war ihr erster und treuer Lehrer. So verging die Zeit— ein ganzes Jahr. Und dieses Jahr stählte Dascha mit Erfahrungen. Schlauheit und Kroft. Woher das nur kam... Und die Weiber wuchsen in ihre Kraft hinein, und sie, Dascha, wurde ihre Führerin. Und als dieses erste Jahr zu Ende ging, erzitterte Dascha noch einmal. Bon dieser Zeit an verbanden sich ihre Augen- brauen über der Nase, und die Augen wurden hart wie Kristall. Eines Morgens, als Dascha vor dem Vertaufstisch, neben dem Brot stand, vor der Menschenmcsse, die in langer Reihe angestellt war— und der Morgen war frisch, blau durch das Licht und den Duft, es war Herbst— stießen Offiziere die Men'chen mit Gewehren auseinander und schleppten sie aus der Bäckerei. Die Menschen stvben wie Tropfen ans- einander und liefen voller Schrecken nach Hause. Sie aber setzte man auf ein Lastautomobil, zwischen einen ganzen Haufen von Offizieren, und führte sie in eine Villa— dorthin, wo sie damals mit Njurka gewesen war— und warf sie in denselben Keller. Und wieder lagen und saßen dort Haufen von Menschen und wieder waren ihr alle fremd, alle in ihrem eigenen Unglück versunken. (Fortsetzung folgt.)