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Morgenausgabe

Nr. 585

A 297

44. Jahrgang

Böchentlich 10 Pfennig, monatlich 3. Reichsmart, im voraus zahlbar. Unter Streifband im In- und Aus land 5.50 Reichsmart pro Monat.

Der Borwärts" mit det illustrier ten Sonntagsbeilage Bolt und Zeit" fowie den Beilagen Unterhaltung und Wiffen" Aus der Filmwelt", Stadtbeilage"" Frauenstimme", Der Kinderfreund". Jugend- Bor märts" Blid in die Bücherwelt", Kulturarbeit" und Technif erscheint wochentäglich zweimal, Sonntags und Montags einmal

Vorwärts

Berliner Boltsblatt

Sonntag 11. Dezember 1927

Groß- Berlin 15 Pt. Auswärts 20 Pf.

Die etn palttge Nonpareillezetle 80 Pfennig. Reflamezelle 5.- Reichs mart. Kleine Anzeigen" das fettge brudte Wort 25 Pfennig( zuläffig zwet fettgedruckte Borte), jedes weitere Bort 12 Pfennig. Stellengesuche das erste Bort 15 Bfennig, jedes weitere Wort 10 Pfennig Borte über 15 Buchstaben zahlen für zwei Worte. Arbeitsmartt Beile 60 Pfennig. Familianzeigen für Abonnenten Zeile 40 Pfennig. Anzeigen­annahme im Hauptgeschäft Linden ftraße 3. wochentägl. von 8 bis 17 Uhr.

Hentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands

Redaktion und Verlag: Berlin SW 68, Lindenstraße 3 Vorwärts- Verlag G. m. b. H.

Bernsprecher: Tönhoff 292-297. Telegramm- Adr: Sozialdemokrat Berlin

Friede um Mitternacht.

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Polnisch Litauische Einigungsformel.

V. Sch. Genf , 10. Dezember.

Die Spätabendigung des Völkerbundsrates besiegelte die kurz vorher nach mühevollen Verhandlungen zustande gekommene Einigung. Die vom Rat und den Parteien angenommene Entschließung öffnet den Weg zu direk. ten Verhandlungen über die Wiederauf­nahme der Beziehungen zwischen Polen und Litauen . Der Kriegszustand wird als unvereinbar mit den Grundsäken des Bölkerbundes erklärt, dafür behält fich Litauen seine Rechtsansprüche auf Wilna vor. Heute abend feiert Genf Karneval, das traditionelle Fest der Escalade" zur Erinnerung an den abgeschlagenen Sturmangriff der Truppen des Herzogs von Savoyen durch die belagerten Genfer Bürger vor genau 325 Jahren. Er fällt mit dem Schlußtampf im Böllerbund über Krieg oder Frieden im Osten zusammen. Die Stadt ist voll Masken. In die Festfäle der großen Hotels hat sich der Strom der sonst sittenstrengen Bürger in ihren reizvollen und grotesken Kostümen ergossen. Heute nacht werden sogar in der Stadt des Calvin die Grundsäge der Moral" öffentlich gelockert. Die Jazzmusik tobt und die Paare wirbeln herum. Währenddessen fizen Bölkerbundsdelegierte und Journalisten unweit davon belein ander und harren sprungbereit der Dinge. Die Situation wechselt non Stunde zu Stunde. Eine Nachricht jagt die andere.

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Der Hergang läßt sich wie folgt zusammenfassen: Die für heute nachmittag 5 Uhr vorgesehene vertrauliche Ratssigung mußte a b gefagt werden. Der Optimismus der Mittagsstunden war plöt. lich verflogen. Am Vormittag hatte Pilsudski an Woldemaras die Frage gerichtet: ob Krieg oder Frieden. Auf die Antwort von Boldemaras, Frieden" erflárie er, daß er in Barschau die Kirchengloden läuten lassen würde. Darauf meinte Wolde. maras, es gabe ein

Tedeum des Friedens und eines des Sieges.

Er fönne das erstere nicht akzeptieren. Er machte bezüglich der Rechtsverwahrung um Wilna Borbehalte, die für Polen un annehmbar waren. Den Nachmittag hindurch ver handelte van Blokland im Zimmer von Sir Eric Drummond ab­wechselnd mit dem polnischen Vertreter Sofal und mit Woldemaras. Jeder machte vorbehalte, die der andere nicht akzeptieren wollte. Nach stundenlangem Bendelverkehr wurde schließlich die Einigung dennoch erzielt. Sie ruhte auf so schwachen Füßen, daß man befürchtete, wenn man die Schlußfizung des Rats erst morgen oder gar am Montag stattfinden lassen würde, bis dahin die eine oder die andere Partei umgefallen sein würde. Darauf wurde beschlossen, eine öffentliche Ratssigung noch für % 11 Uhr abends anzuberaumen, an der Pilsudski unmittelbar vor feiner Abreise noch teilnimmt.

Die Nachtfizung des Rates mar ein pofitisches Zwischenspiel vor dem Faschingsball Die meisten Ratsmitglieder waren im Brad oder im Smoting erschienen Ban Bloklands Bericht schildert, daß aus den Darlegungen von Woldemaras die Gefahr für den Frieden hervorgeht. Baleffi habe erklärt, daß Polen die Unabhängig. feit und den Besitzstand Litauens anerkannt und jeden Ge­danten einer Einmischung in die inneren Verhältnisse Litauens von sich weist. Zaleski habe auf den Schaden hingewiesen, der aus dem Bestehen des Kriegszustandes sich ergebe. Woldemaras habe das Bedürfnis Litauens nach einem Einver nehmen mit Polen betont und versichert, daß der Begriff Kriegszustand" lediglich das nicht bestehen normaler Bezie hungen bedeute, aber jeden Kriegskonflikt ausschließe. Die litauischen Minderheiten würden nach dem Bölkerbundsverfahren behandelt werden.

Eine Kontrollfommission erscheine nicht nötig.

Bei Grenzzwischenfällen könne der Generalsekretär mit dem Rats­vorsitzenden oder mit dein Berichterstatter Befriedungsmaßnahmen ins Auge fassen. Woldemaras erkläre, daß die Litauer keine Feindschaft gegen Polen empfänden. Zaleski erkläre, daß der Frieden zwischen beiden Ländern herrsche. Also gewinnen beide Telle, wenn sie Berhandlungen über die Herstellung normaler Be ziehungen einleiteten. Der dem Rat vorgeschlagene Beschluß greife in keiner Beise der Regelung der Fragen vor, über die zwischen beiden Regierungen Meinungsverschiedenheiten herrsch ten, insbesondere nicht den Rechten, die die litauische Regierung glaubt, auf das Gebiet von Milna geltend machen zu können". Nach der Berlesung des Berichtes erklärte 3atesti furz, er nehme den Bericht und den Antrag van Bloklands an. Das Gleiche tat Woldemaras. Der chinesische Ratsvorsitzende dankie den Be­richterstatter für seine mühevolle und erfolgreiche Arbeit, beiden Bar­teien für ihre Bereitwilligkeit zur Einigung. Darauf ergriff Zalesti nochmals das Wort, um seinerseits dem Berichterstatter, dem Rat und dem Sekretariat seinen Dank auszusprechen und

fügte unter allgemeiner Bewegung noch sehr freundliche Dankes­Worte für Woldemaras hinzu,

der eine vollkommene Courtoisie bewiesen habe. Woldemaras schloß sich dem Dant von Zaleffi an und sprach einige freund­liche Worte an die Adresse von Zalesti. Die erzielte Einigung sei nur ein erster Schritt. Er hoffe, daß die Farisetzung leichter fein werde als der Anfang. Er werde die Entschließung nach Hause mit bringen und hoffe, daß sie im eigenen Lande gebilligt werde. Trotz dieses deutlichen Vorbehalts atmete alles erleichtert auf, als der Vorsitzende die Sigung, die nur 20 Minuten gedauert hatte. furzer hand schloß. Die führenden Ratsmitglieder verzichteten auf das Wort

Postichedfonto: Berlin 37536. Bankkonto: Bant der Arbeiter, Angestellten und Beamten Wallstr. 65. Diskonto- Gesellschaft, Depofitentasse Lindenstr S

1902-1927.

Von den Konservativen zu den Deutschnafionalen. Rückschritt und Fortschritt.

Bor fünfundzwanzig Jahren war der Wethe nachtsmonat nicht weniger unfriedlich als in diesem Jahr. Im Reichstag rang man um einen neuen Schutzzolltarif. Die Sozialdemokratie erklärte, daß die überalterte- im Jahre 1898 gewählte- Bolksvertretung nicht mehr berufen sei, eine Borlage zu verabschieden, die so tief ins wirtschaftliche Leben einschnitt und den Speiseschrank der deutschen Haus­frau mit empfindlicher Schmälerung bedrohte. Sie verlangte Neuwahlen und Entscheidung durch ein neues Parlament. Der Bürgerblock aber, den es schon damals gab, bestehend aus den Rechtsparteien und dem Zentrum, war weit davon entfernt, einer solchen dem Geifte der Demokratie entsprunge­nen Forderung Gehör zu schenken. Der Tarif mußte noch im Jahre 1902 beschlossen sein, wenn die neuen Handels­vertragsverhandlungen rechtzeitig aufgenommen werden follten, aber die Sozialdemokratie widersezte sich diesem Bor­haben durch Obstruktion.

Der Dezember 1902 war mit parlamentarischen Kämpfen zwischen der zolltollen Mehrheit und der obstruierenden Minderheit ausgefüllt, deren Verlauf ganz Deutschland mit angehaltenem Atem verfolgte. Im Borwärts" führte der geniale Kurt Eisner seine Feder wie ein zielficheros Florett. Schließlich unterlagen fachliche Argumentation, Geist und Biz dem dumpfen Instinkt des herrschenden Interessen­flüngels. Es war nach Antrids Achtstundenrede­eine ehrenvolle Niederlage, und das deutsche Volk honorierte sie ein halbes Jahr später mit einer Million fozial­Demokratischer Stimmen mehr und mit 81 Mandalen für die fozialdemokratische Reichstagsfraktion.

Durchblättert man die Reichstagsberichte vom Dezember 1902, fp findet man die wochenlangen Zollbebatten nur durc eine andere. bemerkenswerte Sigung unterbrochen. In ihr verhandelte man über die zahlreichen Betitionen aus dem Lande, in denen ein einheitliches Vereins- und Bersammlungsrecht für ganz Deutschland verlangt wurde. Schon, damals waren es die Sozialdemokraten, die vaterlandslojen Gesellen, die für Rechtseinheit im Reiche aufs nachdrücklichste eintraten, und freilich waren sie es auch, die die meiste Ursache dazu botten. Richteten fich doch die Nücken und Lücken des zwanzigfach variierten Baragraphenwustes vor allem oder ausschließlich gegen die aufsteigende Arbeiter bewegung. Da war das preußische Bereinsgefeß, das die politischen Vereine zwang, ihre Mitgliederlisten bei der Polizei einzureichen und das die politisch rechtlosen Frauen in politischen Vereinssammlungen in einen befonderen Raum, das berühmte Segment, verwies. Und da war das, ch fiche Jurel", das für ein Verbot jeder höheren Orts nicht gewünschten Zusammenkunft der Untertanen iede ae wünschte Handhabe bot. Da war entweder das Lokal nicht heizbar oder mit einer Heizung versehen, die feuergefährlich war, oder es gab eine Epidemie am Orte, oder die Bewohner der Nachbargrundstücke fühlten sich beunruhigt, oder es war überhaupt die öffentliche Ruhe und Ordnung gefährdet.

Schlichtungsverhandlungen verlagt

Die Unternehmer wollen in der Arbeitszeitfrage nicht nachgeben!

J. St. Giien, 10. Dezember. Nach mehrstündigen Verhandlungen wurde die Sigung der Schlichtungskammer im allgemeinen Ein­verständnis vertagt, weil zur Fortführung der Ver­handlungen die Einholung weiterer Auskünfte wünschens­wert erschien.

Der Schlichter beraumte die nächste Sitzung auf Dienstag, den 13. Dezember in Düsseldorf an.

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Im Laufe der Schlichtungsverhandlungen machte der Schlichter den Vorschlag, die Frage der Arbeitszeit zurückzustellen, bis die Entscheidung des Reichsarbeitsministers über das Infrafttreten der Dreischichtenverordnung ergangen ist. Die Unternehmer schlugen vor, eine Sommiffion zur Prüfung der Affordpreife einzusetzen, um einheitliche Affordrichtfäße aufzustellen. Diese Kommission soll, wie gemeinfam pereinbart worden ist, bis zum 15. Februar Bericht er­statten Sie ist berechtigt, technische Berater in beliebiger Anzahl hinzuzuziehen.

Ferner wurde vereinbart, daß zur Regelung der Lehrlingslöhne und des Lehrlingswesens eine gemeinsame Kommiffion Richtlinien aufstellen soll, die gleichfalls bis zum 15. Februar Bericht erstatten foll. Falls eine Einigung innerhalb diefer Kommissionsberatung nicht erzielt wird, fo foll die Schlichterfammer in legter Instanz

entscheiden.

Es wurde dann die Arbeitszeit in der weiterverarbellenden Industrie behandelt Die Bertreter des Deutschen metall arbeiterverbandes forderten wieder die Einführung des reinen istundentages, während die Christlichen

Gemertschaften den Vorschlag machten, daß die Arbeitszeit in der weiterverarbeitenden Industrie des Ruhrgebiets geregelt werden foll auf Grund der Arbeitszeit, die in der weiterverarbeitenden Industrie im Reiche besteht.

Beide Vorschläge wurden von den Unternehmern ab­gelehnt, die sich in der Frage der Arbeitszeit auf feinerlei Zugeständnis einlassen wollen.

Das war die alte guie Reit für den Herrn Bolizeikom­missar Fürchtegott Heinerich Unerbittlich: u jeder Suppe find ich ein Haar, das der Regierung nicht appetitiich, auflöt ich Bersammlungen wunderbar, die nicht gottesfürchtig, fromm und firtlich."

Ueberflüssig zu sagen, daß die Debatte damals ausging wie das Hornberger Schießen. Die brennend notmendige Reform tam erst ein paar Jahre später, zur Zeit des Bülow­Blocks, und zwar, wie es sich gehört, als ein Kompromiß: mit einem gefunden Fortschrittsbein und einem reaktionären Pferdefuß.

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Wo stand in jenen Kämpfen einer vergangenen Zeit die Rechte, die sich damals fonservativ nannte und die heute deutsch national heißt? Selbstverständlich war sie die Einpeitscherin der Zellwuchermehrheit fie fand die Ge­treidezölle nur noch zu niedrig und schimpfte auf die Regierung, weil sie nur 5 Mart statt der geforderten 7 50 Mark bewilligte - selbstverständlich war sie die Antreiberin zu allen Brüchen der Geschäftsordnung und zu allen Bergewaltigungen der Minderheit. ,, Il faut museler la bête", äußerte sich in der Sprache des Erbfeinds die Kreuz- Zeitung ". Man muß der Bestte einen Maultorb anlegen" ( womit aber natürlich nicht die jetzt von 3örgiebel be= freiten Hunde gemeint waren, sondern die Sozialdemo­traten.) Selbstverständlich war es die Rechte, die jede parti­fularistische Polizeiinfamie gegen den Unitarismus der ein einheitliches, fretes Reichsrecht fordernden Sozialdemokraten verteidigte... Man braucht ja nur zu beobachten, was die Deutschnationalen jetzt tun, um zu erraten, was die Konser­Auch das neue deutschnationale Programm zur Bere faftungsreform ist ein gut fonservatives Programm.

Es wurde schließlich vereinbart, daß die Zahlen, die dem Reichs wirtschaftsrat bei seiner Entscheidung über die Arbeitszeit in den Stahl- und Walzwerfen vorlagen, der Schlichtungskammer zu gängig gemacht werden sollen. Einer der beiden Prüfer, die damals die Erhebungen gemacht haben, joll hinzugezogen werden. Im Verlaufe der Verhandlungen haben die Unternehmer auch die Cohnzahlen angeführt, die auf Grund ihrer Feststellungen in den verschiedensten Werken gezahlt werden. So hatte Direktor Bönsgen ausgeführt, daß in den Bereinigten Stahlwerken bei 86 000 Arbeitern der Durchschnittsjahresverdienst 2486 m. oder 47,8 m pro Woche betragen habe und zwar vom 1. Ottober 1926 bis 1. Oftober 1927. Es ist dabei zu bemerken, baß, wenn auch in diesen Zahlen die Löhne der Lehrlinge und Frauen einbegriffen sind, der Prozentsaz der beschäftigten Frauen und Lehrlinge so minimal ist, daß er gar nicht ins Gewicht fällt Im Thyssen- Wert in Thüringen beträgt der Jahresdurch- vativen damals getan haben. schnittsverbienft nur 947. und zwar deshalb, weil dort in der Mehrzahl Frauen beschäftigt sind. Der Durchschnitts­verdienst pro Stunde beträgt nach den Angaben der Unternehmer 89,9 Pf. Bon 4000 Jahresverdienst, mit benen die Unternehmer operiert haben, ist alle teine Rebel

Das darf freilich nicht so verstanden werden, als ob die Reattionäre mit den Zuständen von damals, die sie jest