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Morgenausgabe

Nr. 603

A 306

44. Jahrgang

Böchentlich 0 fennig monatlich 8 Reichsmart m opraus zahlbar. Enter Streifband m 3n- und Aus. Lanb 5.50 Reichsmart pro Monat

Dez Bormärts mit bet tuftriez ten Sonntagsbeilage Boll und Zeit fowie den Beilagen Unterhaltung unb Wisten Aus der Filmwelt. .Stobtbeilage"" Frauenstimme Der Kinderfreund Jugend- Bor wärts Blid in die Bücherwelt", Kulturarbeit und Techni erscheint wochentäglich zweimal Sonntags und Montags einmal

Vorwärts

Berliner Boltsblatt

Donnerstag 22. Dezember 1927

Groß- Berlin 10 Pt. Auswärts 15 Pf.

Die etripattige Nonpareillezette 80 Pfennig. Reflamezeile 5.- Reichs mart Rieine Anzeigen" das fettges brudte Bort 25 Pfennig( zuläffig get fettgebrudte Borte) jebes weitere Wort 12 Pfennig. Sießengeluche das erste Bort 15 Bfennig, jedes weitere Wort 10 Pfennig Borte über 15 Buchstaben gahlen für zwei Worte Arbeitsmarkt Beile 60 Pfennig. Familianzeigen für Abonnenten Zeile 40 Pfennig. Anzeigen annahme im Hauptgeschäft Linben ftraße 3. wochentagl. von 8 bis 17 libe

Bentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands

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Vorwärts Berlag G. m. b. H.

Schutz dem Mittelalter!

Preußische Justiz für Allegander Borgia und für Verbrennung Giordano Brunos.

Die gerichtliche Beschlagnahme des Friedrich- Wendelschen Werkes Die Kirche in der Karikatur", die wir im gestrigen Abendblatt meldeten, ftellt wohl das tollfte Stüd bar, das fich die Justiz in legter Zeit im Kampf gegen Wissenschaft und Kunst geleistet hat. Bir brachten inzwischen die Abbildungen und Lert ftellen, auf Grund deren der Verfasser wegen Gotteslästerung und Beschimpfung einer Religionsgeselligail zur Berantwortung gezogen werden soll, in Erfahrung. Und da fann man nur mit Shakespeare ausrufen: Wer hier den Verstand nicht verliert, der hat feinen zu verlieren!

Das Wendelsche Buch ist eine wissenschaftlich fritische Nebersicht und seßt die tarifaturistische Forschungsarbeit fort, die der Verfasser mit seinen früheren Werfen Das 19. Jahrhundert in der Karitatur und Der Bürger in der Karitatur" begonnen hat. Entsprechend bewegt es sich auf der Linie der historischen Dar: ftellung und beginnt mit der tarifaturistischen Auswirkung der Glaubensfämpfe, bie ote Reformationszeit gezeitigt hat. Bekanntlich war Luther selber in seinen Ausbrüden gegen die fatholische Kirche alles andere als wählerisch. Aber wie der Untersuchungsrichter bem Genoffen Bendel auf diesen Borhalt erwiderte,

würde die Justiz auch denjenigen zur Berantwortung ziehen, der heute die Lutherschen Schriften unzensuriert druden liezze! Dieser Ausspruch fäßt erahnen, mas bem gestrengen Herrn in dem Wendelschen Buche anstößig erschienen ist. Da ist zum Beispiel eine antifleritale Raritatur,

entstanden um 1525,

die zeigt, wie schlemmende Mönche zur Strafe für ihren Lebens­wandel in der Hölle von Teufeln gefoltert werden( ein häufig wieder­fehrendes Motiv dicser Zelt). Im Vordergrunde unterliegt beson Deren Martern ein nadier Mann mit aufgebunjenem Bauche, der die päpstliche Tiara auf dem Kopfe trägt. Jeder kenner der Ge­schichte meiß, daß derartige Abbildungen hauptsächlich auf

Päpste vom Schlage des verbrecherischen Alexander Borgla ( 1482-1503)

Egmonts durch den Herzog Alba noch heute verteidigen zu müffen, was allerdings etwas fellfam gegen die Tatsache kontrastiert, daß die niederländischen Kampfes und Dankeslieder diefer Zeit noch heute in allen protestantisgen Kirchen Deutsch lands gesungen werben.

Ganz toll wird es bei der britten Berbotsstelle. Sie betrifft tein Bild, sondern einen Text. Der Verfasser schildert die Rezerver brennungen, die Hinrichtung des humanistischen Buchdruckers Dolet, die Pariser Bluthochzeit von 1572, und tommt alsdann zur Ver­brennung des fühnen Forschers Giordano Bruno , der megen Regerei( lies: missenschaftlicher Tätigkeit) im Jahre 1600

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nach fürchterlichen Martern den Scheiterhaufen besteigen mußte. In diesem Zusammenhang fahreibt Wendel die Worte: Die Bestie holte zu einem ihrer graufigsten Schläge aus." Die Bestie hali, denkt der Herr Staatsanwalt, das fann doch nur die katholische Stirche sein, wohlgemerkt, die katholische Kirche in ihrer heutigen Form!

Denn offenbar setzt der Herr Staatsanwalt voraus, daß die katho­fiche Kirche heute noch für Keherverbrennungen eintritt und einen Forscher vom Range Giordano Brunos auch heute den Flammen überliefern würde.

Das nächste Berbot betrifft wiederum eine helländische Karikatur auf die Ohrenbetchte, entstanden um 1600: Ein Lamm beichtet dem Wolf in der Priestertutte. Auch dieses Bild ist der nieder ländischen Freiheitstampf und der durch ihn verursachten antikleri­taten Bewegung entsprungen.

Soch, wir wollen gerecht fein: während alle jonit beschlag nahmten Karikaturen auf das ehrwürdige liter von 300 bis

400 Jahren zurückblicken, hat die Anklagebehörde auch einen freilich nur einen Griff in die Moderne geian: beschlagnahmt freilich nur einen und zum Gegenstand der Anklage gemacht wurde auch eine Zeichnung bes bekannten Karikaturisten Diaf Gulbransson, die im Jahre 1908 also in der Statferzeit!-unbeanstandet im " Simplizijfimus erscheinen durfte! Die Seichnung zeigt eine gemünzt waren, deffen zügellose Ausschweifungen, graufanne Gewalt- leibend und würdig dargestellte Chriftusgestalt, gegen die ein taten, Gift- und Meuchelmorde das Entsetzen der damaligen Zeit bildeten und auch von der katholischen Kirche heute reftios preisgegeben werden! Die preußische Justiz aber meint, diesem Großnerbrecher auf dem päpstlichen Stuhle noch 425 Jahre nach feinem Ableben er starb an vergiftetem Wein, der für seine Gäste bestimmt war!- den Schuß der Staatsanwalt schaft midmen zu müssen!

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fleiner Knabe Steine wirft, angefeuert von zwei muderischen, pastorenähnlichen Gestalten mit den Worten:

Triff nur gut, Gottliebchen! Er hat die Chebrecherin in Schuh genommen.

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Der ewig fremde Kontinent.

Englands Kampf um das Gebetbuch.

E. W. Condon, 20. Dezember.

Das Unterhaus hat in der vergangenen Woche die Revision des Gebetbuches von 1662 Der worfen. An dieser Frage hatte sich eine Debatte ent­zündet, die die öffentliche Meinung des Landes überein stimmend als eine der bedeutendsten ihrer neueren Geschichte bezeichnet. Diese Tatsache allein berechtigt, der Angelegen­heit eine Aufmerksamkeit zu fchenten, die sie vielleicht über Großbritannien hinaus aus eigenem Berdienste nicht be­anspruchen dürfte.

Seit vielen Jahrzehnten wurde in den der englischen anglikanischen Kirche nahestehenden Kreisen das herrichende liturgische Chaos als mehr und mehr unerträg lich empfunden. Die Kirchenfagung, im ,, Gebetbuch" nieder­gelegt, entsprach der tatsächlichen liturgischen Pragis nicht mehr. Die lebendigen religiösen Kräfte im Schoße der Staatskirche hatten längst die alte Form gesprengt. Während der eine Flügel der Kirche sich immer mehr in die Richtung streng protestantischen Nontonformismu s entwickelte und seinen Gottesdienst entsprechend formte, neigte ein anderer nicht minder einflußreicher Flügel dem römischen Zeremoniell zu. Das Chaos war um die Jahrhundertwende vollständig geworden und die Uebertretung der gültigen liturgischen Norm zur Regel geworden.

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Der Ruf nach einer Anpassung des Gebetbuches", als des Inbegriffs der firchlichen Sabung, an die veränderten Berhältnisse, war schließlich um die Jahrhundertwende fo start geworden, daß das Unterhaus eine Reform befahl. Die leßten zwanzig Jahre und insbesondere die legten zwölf Monate waren mit schweren firchlichen Kämpfen über den Charakter dieser Reform ausgefüllt. Dieses Ringen hatte schließlich derartige Formen angenommen, daß fie Presse und Deffentlichkeit zeitweise nachdrücklicher beschäftig­ten als irgendwelche andere Frage, nicht nur fultureller, sondern auch wirtschaftlicher und sozialer Natur. Schließlich schien diefes innere Ringen ausgefämpft zu sein: die revidierte Faffung des Gebetbuches wurde von einer Kon tlave der Bischöfe der Staatskirche, von dem aus Laten und Klerifern zusammengesetzten Parlament der Kirche gebilligt und zulegt auch vom Haufe der Cords, diefem fonfervativsten aller fonservativen Störperschaften geneinigt. Die Zustimmung des Unterhauses schien eine ausgemachte Sache. Aber gerade das Interhaus hat die Reform in einer an plöglichen Stimmungsumschwüngen überreichen Sizung, freigegeben hatten, unter allen Anzeichen leiben fchaftlicher Erregung verworfen.

Sier erreicht wohl die Groteste ihren Höhepunkt, denn in diefern für die sämtliche Parteien ihren Mitgiledern die Abstimmung Bilde und feiner Unterschrift steht die Anklagebehörde

Die zweite beschlagnahmte Karitatur ist holländischen Ur­den Talbestand der Gottesläfferung verwirklicht. sprungs und stammt aus dem Ende des 16. Jahrhunderts. Sic ist betitelt Die papistische Pyramide und zeigt einen pyramiden Trauriger tann wirklich keine Anflagebehörde ihre eigene Berständ ähnlichen Aufbau, aus Echlangen gewunden. Die Umrahmung nislosigkeit an der. Pranger stellen. Sie hat nicht einmal begriffen, bilden Bibelstellen aus der Apokalypse in lateinischer unb holländaß Bild und Tert eine Bertetbigung der biblischen Gestalt Chrifli gegen jene Heuchter bildet, die heute seine Lehre in das discher Sprache. Auch dieses Dotument aus der Zeit des Gegenteil verfälschen. Kampfes der protestantischen Niederlande gegen das katholische Spanien

erscheint der Staatsanwaltschaft und dem Untersuchungsrichter ais eine Beschimpfung ber heutigen fatholischen Kirche! Offenbar fühlt die preußische Staatsanwaltschaft sich genötigt, die Hinrichtung

S4 verloren!

Provencetown, 21. Dezember. Der Leiter der Arbeiten zur Bergung des gesunkenen Tauchbootes, Admiral Brumby, teilte mit, daß während des Sturmes das Verbindungstau gerissen und das ge. sunkene Boot unauffindbar sei. Zwei Taucher suchten nach ihm, doch seien ihre Bemühungen bis jetzt vergeblich gewesen.

Deutschland schützt Gowjetbürger. Mostaus Bitte wegen Güdchina felbstverständlich erfüllt. Die Sowjetregierung hat die Reichsregierung um llebernahme des Schußes ihrer Interessen in Süddhina ersucht.

Begen der ungeklärtheit der Verhältnisse in China hat die Reichsregierung diesem Ersuchen in der Form entsprochen, daß fie ihre Konsuln in Südchina angewiesen bat, im Rahmen ihrer faftischen Befugnisse und der gegebenen Wirtungs­möglichteiten sich der Sowjetinteressen und der Sowjetbürger anzunehmen.

Der größte Teil des Bersonals des Sowjetfonfulats in Shanghai , einschließlich 10 Frauen und 7 Kinder, ift auf dem Dampfer 3osma birekt nach Blabiwoft of abgefahren. Sie verließen das Konsulat in aller Frühe, unbemertt von der Be­Gleichzeitig find 17 Ruffen aus Hantau eingetroffen, wölferung.- bis heute, Mittwoch, meitertransportiert merben. Auch ber Gamjet

Dem beabsichtigten Gottes- und Kirchenlästerungsprozeß tamm man mit heiterer Erwartung entgegensehen. Wir sind wirklich ge spannt, wie die preußische Justiz die Frage beantworten wird, ob bie Kegerderbrennung und die Renaissancepapfte sta átti ge ( chüßte Rechtsgüter der Republif von 1927 find.

tonful von Hantau wird nach Wiadiwoftof abfahren. Alle Russen in Schanghai find verständigt worden, daß fie fich zur fofortigen Abreise bereit zu halten haben.

Sdhanghai, 21. Dezember.

Der Außenkommissar der Nankingregierung ließ dem Korrespon. denten der Tah" den Baß aushändigen. Bis zu seiner Abrelse ist ihm gestattet worden, die Tätigkeit fortzusehen, er muß jedoch Durchschläge seiner Meldungen dem Außentommiffariat zur Prüfung vorlegen.

Weiße Hinrichtungen.

Aus der das Broblem übermuchernden Rhetorit herause geschält, kommt die Auseinanderseßung auf ein Ringen wischen puritanischemi Brotestantismus und Anglo- katholizismus hinaus. Alle anderen Fragen treten daneben zurück. Mochte auch ein kleiner Tell der Gegnerschaft gegen das reviblerte Gebeibuch" von anglo­tatholischer Seite tommen, die ihr an die römisch- katholische Liturgie angenähertes Messezeremoniell nicht beschnitten und puritanisiert" haben mollie, die entscheidenbe Opposition tam jedoch nicht von dieser, sondern von der entgegengesezten Seite: von denen, bie im neuen Gebet buche eine dogmatische Annäherung an Rom zu sehen glaubten und in der Revision einen Schritt auf die verhaßte Auf die einfache Wiedervereinigung mit Rom sah. Formel gebracht bedeutet die Verwerfung der Gebetbud revision ein Betenntnis zu Reformation und Brotestantismus und eine Erklärung gegen Rom . Die Idee der Annäherung an Rom mit dem Endziel der Wiedervereinigung mit Rom , hat in der Nacht pom 15. auf den 17. Dezember im Unterhaus eine ent fcheidende Niederlage erlitten.

Hantan, 21. Dezember. Die Berhaffungen und Hinrichtungen chineHigher Kommunisten dauern an. Gestern nachmittag wurden zwei Männer und zwei Franen hingerigtet. Die zuschauende Bolksmenge begleitete die Hinrichtung mit Rufen: Zötet alle Aommu- gesprochen, die Tatsache, daß überhaupt die Entscheidung niften!"

Der Kommandant der Garnison hat sich beim franzöfifchen Generalfonful wegen der Zwischenfälle entschuldigt, die bel den Haussuchungen nach kommunisten in der franzöfifchen Konzefflons zone vorgekommen find.

Amerikanisches Baktangebot an Frankreich . Staatslettetar Reltog hat dem französischen Botschafter den Enimir eines 2b tommens für ewigen Frieden übergeben. Dieses blommen foll vier Hauptpunkte enthalten. Buntt i Bersicht auf den Krieg, Bunft 2 und 3 Siebsgerichtsverfahren, Bunit 4 Bor bebaft gewilfer Rechte der Vereinigten Staaten befonders be. treffenb bie Ginmanberung und die Monroe- Dottrin

Die Umstände, unter denen sich diese Entscheidung ab­gespielt hat, bieten eines der merkwürdigsten Phänomene, bas im ganzen Umfreis der europäischen Politik beobachtet werden fann: völliger Fortfall der Parteischranken, religiöfer Eifer, ja Fanatismus, der gleicherweise von fonfer­vativen, fozialistischen und liberalen Abgeordneten entfaltet wird, leidenschaftliche Mitbeteiligung von Abgeord neten, die der Staatsfirche nicht angehören und, allgemein über Lebensfragen der Kirche von England durch eine Mehre heit von Abgeordneten gefällt wird, die der Kirche von Schottland" feineswegs identisch mit der Kirche von England !, den verschiedenen Dissenterfirchen usw. zu­gehören, also, firchlich geschen, Außenseiter darstellen! Es ist wohl in feinem anderen europäischen Parlamente denkbar, daß( oziolittiche Abgeordnete mitten melt badan im religiösen Ringen stehen unb entfernt, das Bariament als unzuständig zu erklären unb eine Trennung von Staat und Kirche zu fordern mit eine Trennung von Staat und Kirche zu fordern Leidenschaft pon mittelalterlichen. Der Glaubenstämpfern für und gegen eine Gebetbuch­