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*r. 609 44. Jahrgang
l. Beilage des Vorwärts
Sonntag, 15. Oezember 1927
Mag die Sitte der Weihnachtsfeiern in ihrer heutigen Form auch noch verhältnismäßig jung sein, darin sind sich wohl alle einigr Ohne Weihnachtsbaum gibt es kein ordentliches Weihnachtsfest. Selbst die Berliner, die doch noch vor hundert Iahren fest auf diePer- jamite' oder die ölpapierne Krone schworen, sind jetzt restlos zum Weihnachtsbaum bekehrt. Und wenn von irgendeinem Menschen zu befürchten steht, daß er das Fest ohne eigenen Weihnachtsbaum ver- leben müßte, dann wird er sicher von irgendeiner Seile zur Weih­nachtsfeier eingeladen. Jeder Junggeselle kriegt, wenn er'nicht Krankheit oder Verreistsein vorschützt, seine Einladung, die frellich nicht immer bloß von christlicher Nächstenliebe diktiert wird: denn niemals kann man das Familicnglück so in bengalischer Beleuchtung zeigen, wie unterm Weihnachtsbaum, und die vorschriftsmäßige Pfefferkuchensentimentalität macht auch hartgesottene Junggesellen- herzm butterweich: wenn dann im richtigen Augenblick eine Cousine aus Pillkallen oder Finster wald« zur Hand ist, dann kann es leicht die mit Recht so beliebte Derlobung unter dem Weihnachtsbaum geben! Diearmen Leute" kriegen von unzähligen Vereinen und Verein- chen beschert, und unter denen,die darauf zu laufen wissen", soll es Bescherungsspezialisten geben, die Weihnachten vollauf zu hin haben, um olle Bescherungseiilladungeir zu erledigen. Eo richtige. dekorative Armut ist zu Weihnachten durchaus ein gefragter Artikel, man kann sich mit ihrer Hilf» so schönsozial" und wohltätig dra« Pieren, und dieser Mantel deckt manchen anderen Fehler zu. Di« Heilsarmee mit ihren bewährten Instinkten für billige und zug» kräftige Propaganda weih das ganz genau, darum sorgt sie dafür. daß ihre Weihnachtsbcschcrungen, ihre Weihnachtsspeisungen und derWeihnachtsbaum für alle" möglichst weiten Kreisen bekannt werden: das Nochrechnen von Zahlen ist immer, und besonders zu Weihnachten eine recht unbellebte Beschäftigung, und so kommt wohl niemand darauf, daß die Zahl von hundertzehn beim Wcihnachts» mahl gespeisten alten Leuten, von Hmidert-ivanzig bescherten Kin­dern auch dann in keinem richtigen Verhältnis zu der aufgewendeten Propaganda steht, wenn man noch die anderen, die nur Lebensmittel empfangen, dazu rechnet. Ueberhoupt sollte endlich Schluß mit dieser Ausstellung eigner Wohltätigkeit und fremden Elends gemacht werden. Wie tot, wie fühllos uirtcr den harten Griffen der Rot muß die Seele des� Armen ge- worden sein, der ohne Scham mib Zorn sein Elend unter fremdem Weihnachtsbaum zur Schau gestellt sieht. Weihnacht der erlösten Kinder. Außer der Heilsarmee haben das freilich auch die Wohlfahrts» institulionen zumeist begriffen, verVerein zum Schuhe der Sinder vor Ausnutzung und Mißhandlung" verzichtet für den größten Teil der von ihm Betreuten aus jedevereinsbescheruug". Hochgestapelt liegen in den primitiven Räumen des Vereins allerlei Pakete. Hier holen Eltern und Pflegeeltern sich die Gaben ab, um sie zu Hause unter dem eigenen Weihnachtsbaum wieder aufzubauen. Kein Kind darf die Weihnochtsstiib« betreten. Muß einem Kind der Mantel ober ein Kleid anprobiert werden, dann gibt es ein lustiges Spiel: Die Augen werden verbunden und die Hände festgehalten, damit ja nichts von der Weihnachtsüberraschung verloren geht. Gewiß sind viele der Sachen alt, das Spielzeug ist gebraucht, aber alles ist sauber hergerichtet, mliwestens ein neues Stück liegt bei jedem Paket. Die Spenden kommen hier nicht immer von denwirklich reichen Leuten": die stehen der Rot zu fern, um derart persönliche Gaben zu finden, wie die kleine, sorgsältig gehaltene Puppenstube, die hier aus einem kleinen Wäschestopel ihrer neuen Besitzerin entgegen- träumt. Kommt aber mal aus diesen Kreisen eine Gabe, dann muß sie hier vielen Kindern Glück und Freude bringen: So die große elektrische Eisenbahn, die Weihaachtsstolz und-entzücken eines ganzer. Kinderheims sein wird. Eine Feier aber gibt«s doch, die sich keine drr Damen des Vorstandes entgehen läßt: Das ist die Feier iw Kinderheim Groß-Besten, dem unscheinbaren kleinen kinderparadirs des Vereins. Ungefähr zwanzig Kinder stehen hier unter der Obhut Klein-Muttchens, der Schwester Elisabeth, und alle diese Kinder hoben Furchtbarstes erlebt, jedes trägt, körperlich oder seelisch, die Spuren entsetzlicher Mißhandlungen. Nie haben diese Kinder Elternliebe. nie Veihnachtssreud« unter demeigenen Weihnachtsbaum" kennen gelernt. Die verschneite Landstraße sührt zu der kleinen Villa, die die Wilmersdorf  «? Ortskrankenkaste dem Derein überlasten hat. Nichts ist aufGlanz", nichts auf Reklame, nichts auf.Stimmung" her- gerichtet� in drangvoll fürchterlicher Enge sitzen und stehen die Be- such er in dem kleinen Spetiesaal, die leitenden Herren des Heimes der Willersdorf« Ortskrankenkaffs und die Vorstandsmitglieder des Vereins. Kinder und Gäste singen gemeinsam die alten Weih- nachtsliedcr: es gibt keine Aufführung und keine Ansprache mit Er­mahnungen zur Dankbarkeit man ist hier der sehr vernünftigen Meinung,das Moralische versteht sich immer von selbst". Dann kommt die Bescherung, und die glücklichen Ktnderaugen strahlen Heller unter diesemfremden" Weihnachtsbaum, als die Kerzen an irgendeinemeigenen" leuchten können.... und wenn es die elek- irischen Kerzen an Neureichs garantiert echter Silber-Edeltanne sind. Am Heiligen Abend aber ist die Familie ganz unter sich, die Kinder bringen ihrem Klein-Muttchen all die rührenden, oft jo ungeschickten Äindergeschenke. denen nur die Liebe Wert verlecht, eng rückt alles zusammen, und wenn die Schwester ihrer großen Familie auch nur Kleinigkeiten bescheren kann, die Kinder wissen es alle: Ein größerer Schatz kann ihnen nicht mehr geschenkt werden, als Klein-Muttchens großes, goldene» Herz.
£u unterm Weihnachtsbaum. Also: Ganz ordentliche und gebildete Leute pflegen so ein Lokal wie das meines Freundes Fredy eine Kaschemme zu benennen. Und die meisten seiner Stammgäste haben so auch eine ganze Reihe von Vorstrafen aufzuweisen. Aber davoi soll gar nicht so viel geredet werden: wer weiß, wie sie zu der-rsten gekommen sind, und im großen und ganzen ist unsere Iustitia überl>aupt kein so sympathisches Frauenzimmer, daß man immer und unter allen Umständen für sie Partei nehmen müßte. Aber davon soll gesagt werden: Alljährlich steht im Hinterzimmer dieser Kaschemme ein kleiner Weihnacht». bäum, nicht ärmer und nicht reicher, als er aus dem Tisch mancher Proletarierwohnung steht. Fredy putzt ihn für seine Gäste, für diese Gentlemen mit unklarem, für diese Mädel mit nur zu klarem Beruf. Eine merkwürdige Kraft haben die dünnen Lichter dieses armen Weihnachtsbäumchens. Wenn sie angezündet werden, taucht in der Hinterstube der Kaschemme plötzlich eine versunkene und längst verlorene Welt aus, still werden die Slamingästc. kaum getraut sich einer flüsternd zu reden, und jedern steckt ein großer Kloß in der Kehle. Irgendeine der Frauen versucht einige Töne eines Weih- nachtslicdes herouszubriirgen, und plötzlich füllt eine schöne, aber
Armenbescherung" Im Bexlrksvereia. ungeschult« Altstimm« den kleineu Raum:.Still« Nacht, heilige Nacht.. und neben dem kleinen Weihnachtsbaum sitzt 2u, die große, elegante Lu, den Kops an die Wand gelehnt, und singt, trotz- dem ihr die dicken Tränen über das gepuderte Gesicht laufen, olle Weihnachtslieder, die sie mal als kleines Mädchen, gelernt und ge- jungen hat, als sie noch nicht Lu. sondern ganz schlicht Lucie Müller hieß und Mutter mit ihr im Umschlagetuch unter vielem Handeln aus die Jagd nach einem kleinen und billigen Bäumchen ging. Und so lange die dünnen Kerzen des Bäumchens brennen, hören die Lieder nicht aus: wenn der Vorrat an Weihnachtsliedern ausgebraucht ist. kommen andere Volkslieder dran,Sah ein Knab ein Röslein stehn" und derGindenbaum". Es ist, als hätten alle Angst, wieder in ihre wirkliche, schmutzige Well zurückkehren zu müssen aus dem Kinderparadies, in das sie für eine kurze halbe Stunde heimkehren dursten. Natürlich, man weiß es: Morgen wird Lu wieder an der Ecke stehen und wird den nächstenFreier", der dumm genug ist, erbarmungslos neppen, und die Gentlemen. die jetzt mit so ver- lcgm feierlichen Gesichtern an den Wänden herumstehen, werden wieder ihre eigenen und immer etwas dunklen Geschäfte hoben. Aber heute, heute sind sie Kinder, unglückliche Kinder unter dem fremden Weihnachtsbaum in der Kaschemme. Und mein Freund Fredy soll bedankt sein, well er seine Leute kennt und ein Herz für sie hat. Weihnachten im Ochsenkopp. Draußen imOchsenkopp" weihuachtet es auch, hier haufea die verstoßenen, deren niemand gedenkt. Die Korrigenden, die Znsassen des eigentlichen Arbeitshauses sowohl wie die alten Hospitaliten. sie haben zumeist niemand mehr, der sich um sie kümmert. Sie alle sind Strandgut des Lebens, Deute   jede- bösen und guten Windes. Sie haben sonst wahrlich nicht über ein zu großes Maß persönlichen Anteil- nebmens auch der vorpeoidneten Kirchenbeamten zu klagen, es gibt ab und an ein paar Traktätchen.. und damit ist die Geschichte abgetan. Zu Weihnachten gibt's freilich auch in der Kirche eine Feier, und der Herr Pfarrer verkündet ihnen mal wieder das Weih- nachtsevangelium. Der Chor der Korrigenden singt Weihnochis- lieber und der Herr Pastor predigt zum Jammer des Direktors und der alten Leute viel zu sänge. Denn in christlichen Kirchen gibt es ja nicht irgendwelche Räumlichkeiten, in denen die bresthofteN alten Leute sich auch mal erleichtern können, und darum sieht die Kirche nach so langem Gottesdienst durchaus nicht mehr feiertäglich aus. Damit hat die Kirche das ihr« getan. Doch dann beschert die Stadt Berlin  . Die schickt nicht Leute, die preisend mit viel schönen Reden Ihre Verdienste feiern, aber die schickt jedem Korrigenden und jedem hospllalllen einen Weihnachlsleller mit einer Stolle und Aepfeln  und«in bisset Tabak. Und jedem Hosprtaliren schickt sie dazu S M.,
damit er wenigsten» an den Feiertagen«in bißchenFettlebe" machen kann. Den Korrigenden wird in choem Speisesaal beschert, aber die Hospitaliten haben es bester: Da kriegt jede Station ihren eigenen Weihnachtsbaum, und auf jeder Station finden sich kunstfertige Hände, die für diesen städtischen Weihnachtsbaum alle möglichen Dinge basteln, die nett und bunt aussehen und nichts kosten. Papier  - taten und Körbchen und Sterne. Und ein Alt« hat alle Jungen- erlnnerungen zusammengeholt und hat aus zwei' runden Papp  - schachteln zwei bunte, rundeDalddeidel" geklebt, die lustig brummen, beinah schön« wie die, mit denen er einst als Junge aus dem Berliner   Weihnachtsmarkt handelte. Und so leuchten die Licht« de» kleinen Hospitalbaume« den armen Alten viel wärmer und schön«, als die feierlichen Kerzen an de» Herrn Psarnts groß« Weilmachtstanne. Wi« steht es in dem alten, schwarzen Buch? Und w« mtt Menschen- und mit Engelszungen redete und hätte d« Liebe nicht, so wäre« ein tönendes Erz und eine klingend? Schelle" Weihnachten hinter Mauern.' Die Berliner   lieben es, wie in allen anderen Angelogenheiten, den Dingen immer einen möglichst eleganten Anstrich zu geben, und so heißt es besonders von denen, die noch nicht in derPlötze" oder in sonst einer Strafanstalt ihre Strafe verbüßen, sondern die noch in Untersuchungshaft sind, sie wärenhinter schwedischen Gardinen". llnl«suchungshast! Wenn man heute auch oft als Trost hört:D?t is noch>ar nischtl Zu'ne Anklage kann heut« der anständiäzste Mensch komm'n," dann ist da» doch nur ein recht fragwürdig« Trost, besonders für den, der da drin sitzt und wirklich nicht weiß, wie er zu der Anklage gekommen ist. Was ist unter diesen Umständen ei.r wirklich« Seelsorger, kein Traktätchcnpsarrer wert! Was bedeutet die stimmungsvollste Weihnachtssei«, wenn damit alle Seeljorgs er- ledigt ist! Do ist es ein Glück, wenn ein so großes Gefängnis wi- das Untersuchungsgefängnis Moabit   gleich drei Männer besitzt, die ihre Aufgabe richtig ersaßt haben, und die darum auch olle drei in schönster Harmonie miteinander leben und arbeiten: Der evangelische Geistliche, d« katholische Psarr« und der jüdische Rabbiner. Auch die Juden? Ach sa. gewiß ist Chanukah  , das jüdisch« Mattalnier. fest, ja gewiß etwas anderes, als unser Weihnachtssest, aber ein Lichtersest ist es auch, und der Gefängnisrabbiner wird wohl wissen, wie viel Licht'md Freude ein Gefangener gebrauchen kann; und ja erhalten auch die jüdischen Gesaugenen zu Weihnachten jeder seinen Weihnachtsteller mll der Stolle und den Weihnachtsäpseln uich den. zwanzig Zigaretten, für die da? Geld mühsam zusammengebettelt wurde. Um drei Uhr am Heiligen Abend ist freiwilliger Gottesdienst, getrennt für die beiden christlichen Konfessionen. Aber um fünf spielt ein Bläserchor in d« Fenlralhalle des Gefängnisses Weih­nachtslieder. und die Musik spricht eine Sprache, die alle Konfessionen oerstehen. Ein paar Tage vorh« aber gibt es eine Bescherung für die Frauen und Kinder der Gefangenen, eine gemeinsame Feier, an der die Angehörigen aller Religionsbekenntnisse teilnehmen. Es gibt lebende Bilder und Rezitationen und eine Bescherung aus dem. was die drei Seelsorger auf ihren Aufnis bekommen habca. Ach, leider ist es nicht gar zu viel geworden, und ein Teil der lieben Milmenschen, die hierzu beigesteuert haben, scheinen von den Be- dürfnisjen od« der Bedürfnislosigkeit der Angehörigen von Unter- suchungsgejangeuen eine eigentümliche Meinung zu habe». Ein sinnig" mit Weihnachtskarte und noch einem Extrabibelspruch auf­gemachtes Paket birgt nichts als Traktätchen, es wird wahrhaftig Wäsche noch in den letzten Tagen vor der Bescherung in» n g e- waschenem Z u st a n d e eingeliefert, Kiyderwäsche manchmal in einem schlechterdings unbeschreiblichen... Auch«Lektüre gibt man reichlich, und da sei hier gleich einer Bitte Raum gegeben: Es fehlt In der Bücherei des Unlersuchungsgesängnisses an sozialistisch«. überhaupt anlink«" Lektüre, während an Hindenburg-Biographien und Kalsergedcnkbüchern mehr Angebot als Nachfrage herrscht. Wer von den Genossen hi« Duplikate irgendwoher Bücher, auch von Broschüren, in sein« Büch«el hat, mag an die Untersuchung?- gefangenen denken. Ein Weihnachtszweig, ein paar Zigaretten... es ist nicht viel, und es langt sicher nicht, das harte Gesicht der Dame Justiz wesent-
Kascbemnteawethnacbt Imengsten Kreise". lich zu verschönern: aber für den Gefangenen bedeutet es unsagbar viel, und noch mehr die Zuversicht, daß auch derer gedacht wird, die er da draußen unoerjorgl zurücklasien mußte. Eine kleine Bürgschaft der einstigen Verwirklichung der Weihnachtsbolschaft. desFriede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen", bringt der kleine Weihnachtszweig doch: nur daß es noch viel Späne geben wird. bis wir diesen Spruch aus die Spitze uissercs eigenen Weihnachts- bamties werden stecken können... denn dieser Weihnachtsbaum wird ein Freiheitsbaum sein müsse».... R. E*