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Friede auf Erden?" Wir Sozialisten, mögen wir nun Dissidenten sein oder einer der Zicligionsgemeinschaften angehören, stehen dem Weihnachtssest, wie es gefeiert wird, mit einem gewissen Unbehagen gegenüber. Ist doch dos Weihnachten von heul« im wesentlichen ein Fest der reichen Leute, die ihre 5dnder überreichlich beschenken und unter dem riesigen Tannenbaum in höchster Gemütlichkeit beim Weihnachtsbraten sitzen, ohne dabei an den sittlichen Gehalt der Lehre des Mannes von Bethlehem zu gedenken, dessen Geburt sie zu seiern vorgeben. Friede aus Erden", so berichtet uns die Sage von der Ver- kundigung der Engel am Tage der Geburt Christi . Das ist nicht nur für glaubige Christen eine k ö st l i ch e Botschaft.Friede ans Erden" das ist in unserer Zeit vor allem«in Evangelium und eine feste, auf Willen und Kraft gegründete Zuversicht der prole- rorischen Millionen aller Länder, die iür diesen(St danken ihre ganze Kraft einsetzen! Müßte man nicht um so mehr folgern, daß die Vertreter der Kirchen, die sich christlich nennen, dieses Wort von demFrieden auf Erden" besonders zur Weihnachts - zeit in den Mittelpunkt ihres Denkens und Redens stellen? An einem Adventssonntage hielt in der Christophorus-Kirche in F r i e d r i ch s h a g e n der Oberkonsiftorialrat Doniprediger D. Richter eine Predigt, über die in der mit dem Fridericuskopf geziertenN iederbarnimcr Zeitung" berichtet wird. Der Domprediger sagte unter anderem am Schluß seiner Rede:Gotr hat die Seelb unseres Volkes zur kriegerischen Haltung ge- schaffen." Zur kriegerischen Hältung! Im Matthäus Kap. 26, Vers öl und 52, leien wir bei der Festnahme Christi im Garten Gethsemane :Und siehe, einer aus denen, die mit Jesu waren, reckte die Hand aus und zog fein SchweA ans und schlug des Hohenpriesters Knechr und hieb ihm ein Ohr ab. Da sprach Jesus zu ihm: Stecke dein Schwert an seinen Ort: denn wer das Schwert�iiimmt. der soll durchs Schwert um. rammen." Weiter sagte der Domprediger:Nicht daraus kommt es ein, daß wir kleine Bismarcks werden, sondern daß' wir begreifen, wie jene Menschen im Kampfe standen und woher sie ihre Kräfte nahmen. Nun, der Ehrgeiz, kleine Bismarcks zu werden, ist viellicht bei den völkischen und deutschnationalen Jung. bisiparckbündlern verbreitet. Selbst ein sogenanntergroßer Br s ma r.if zu werden, ist ein Ziel, das sich mit den Lehren Christi schwer vereinbareil läßt,«o sagte Herr v. Bismarck beispielsweise in her Frage des staatlichen Mordes der Todesstrafe, daß erdamit einverstanden wäre, mit der Todesstrafe aufzuhören, wenn die Herren Mörder damit aufhörten". Christus, in dessen Dienst der m- Domprediger zu stehen vorgibt, dachte anders. Lucas, Kap. 23, Vers 39 bis 43; lesen wir:Ader der Nebeltäter einer, die da gehenkt waren, lästerte ihn und sprach: Bist du Christus, so hilf dir selbst und uns." Da antwortete der andere, straft« ihn und sprach:Und du fürchtest dich auch nicht vor Gott , der du doch in gleicher Ver. dommnis bist. Und zwar sind w�r billig drinnen: denn wir empfin- gen, was unsere Taten wert sind: dieser aber hat nichts Unrechtes getan. lind sprach zu Jesu :Herr, gedenk-e an mich, Venn du in dem Reich kommest." Und Jesus sprach zu ihm:Wahrlich, ich sage ctr:Heute wirst d u mit mir i ni Paradiese sein." Da aber handelte es sich um einen Mörder!' Di« Botschaft:Friede auf Erden" ist aufgenommen worden vom Sozialismus, und diese Weihnachtsverkündigung ist unser geworden. Wechnachtspredigten aber von Dompredigern. OberkonststorialrSten und anderen höfischen, hohenzollerisch eingestellten offiziellen Ver. tretern der Kirche lehnen wir ab. Es erscheint uns widersinnig, gerade in der Weihnachtszeit von derkriegerischen Haltung unserer Volks-eele" und vonBismarckischer Gesinnung" sprechen zu hören. Da glauben wir denn doch, daß wir die Lehre des großen Philo- 'vphen von Bethlehem besser oerstanden haben! Den Domprediger Richter aber erinnern wir gerade am Weih- nachtstage an das Wort aus Lucas, Kap. 17. Vers 1:.Er sprach aber zu seinen Jüngern: Co ist unmöglich, daß nicht Aergernisse kommen: weh aber dem, durch welchen sie kommen!"

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fand noch am Mittwoch, dem TL Dezember, für eine Klasse her 98. Volksschule statt, cm der sich insgesamt 79 Personen beteiligten. In feiner Ansprache betonte der Klassenlehrer Genosse Trappe die Notwendigkeit des innigen Zusammenarbeitens zwischen Schule und Elternhaus, zu der gerade das Weihnachtsfest besonderen Anlaß gebe. Erfreulichen Eindruck machte der vom Klassenlehrer in wem- gen Tagen vorgebildete Äeigenchor der.Knaben des dritten Schul­jahres. Es beteiligte sich daran ungefähr die Hülst« der Klassen- fchüler. Die Kinder trugen schöne Weihnachtslieder vor, woran sich noch ein freundliches Wcihnachtsfpiel auf der Jugendbühne anschloß. Ein Mitglied des Elternbeirats sprach dem Klassenlehrer das Ver- tränen der Elternschaft aus.__ Oora perske ihren Wunden erlegen. Da» beklagenswerte Opfer des am Sonnabend festgenommenen und überführten Raubmörder» Horst Siebock. Dora perske. ist in den Nachmittagstunden des heiligen Abend» trotz der Bemühun­gen der Aerzie ihren schweren Verletzungen erlegen. Sie Hai da» Bewußtsein nicht mehr wiedererlangt.

Die letzten Weihnachtsfeiern. :-3Me Wshlfahrts. und Jugendkommisfion 29 iL*. Bezirksamts Charlottenburg . Moabiter Ortstcil. yatte die Alten und Aermsteu ihres Bezirks am vergangenen Sonn- tag. zu einer Weihnachtsbescherung in das Lokal Reuchlinstr. S ge- laden. Die Gaste wurden hier reichlich mit Kaffee und Kuchen be- mrrtet und vergaßen so beim Glänze des Weihnachtsbaumes für cm paar Stunden ihre wirtjchaitlichen Nöte. Reich beschenkt ver- ließen sie am späten Abend die gastliche Stätte. Tätige Mitlsilfe einiger Großsirmen und der Mitbürger des Bezirks hatte diese schöne Feie? ermöglicht. Eine wohlgelungene Klassenweihnachtsfeier als Beweis für die

Täglich über-1100000 Telephongespräche. 418000(Sprechstellen in Berlin . Eine Großstadt von der Einwohnerzalil und den Ausmaßen Berlins ohne das weg. und zeitsparende Telephon ist undenkbar. Welch ungeheure Entwicklung das Fernsprechwefen seit Einführung des ersten Telephons in Deutichland vor nunmehr S9 Jahren(12. No- vember) durchgemacht hat, geht crm deutlichsten aus der Zunahme des Fernsprechers in der Reichshanptstadt selbst hervor. Während am 1. Januar 1899 insgesamt 11 8? 4 Fern- sprechstellen in Berlin vorhanden waren, stieg deren Zahl im Laufe der nächsten 19 Jahre auf 47 S86, unter denen sich 159 öfient- liche befanden. Di« Teilnehmerzahl betrug S4 236: die im Laufe des Jahres 1999 geführten Gespräche beliefen sich auf 19S Millio- neu. Die Folgezeit brachte einen ungeahnten, fast an amerikanische Verhältnisse erlnncmdeii Aufschwung des Berliner Fernfprechver- kehrs, der durch die rieienhafte Ausdehnung der infolge einer regen Bautätigkeit schnell wachsenden Großstadt bedingt wurde. Bis zum Jahre 1919 hatte sich die Zahl der vorhandenen Sprechstellen ver- vierfacht und betrug insgesamt 174 372. unter. denen 122 558 in Berlin und 52914 in den Vororten vorhanden waren. Die Zahl der öffentlichen Fernspvechstellen war auf 599 gestiegen, die der Fernfprschteilnehmer belief sich auf 99 899. Der Höhepunkt der Entwicklung wurde im Jahre 1913 mit 233594 Sprechstellen erreicht. Die K r i eg s- und Nachkriegszeit, vor allen Dingen aber die Inflation, brachten einen gewissen Stillstand. Erst m den letzten Jahren machte sich ein neuer Aufschwung bemerkbar. Die neuesten Zahlen verzeichnen für Berlin insgesamt 417 7 61 Sprech st cllen, darunter 1854 öffentliche. Die Zahl der im Laufe des vergangenen Jahres m Berlin geführten Gespräche belief sich auf rund 499 Millionen, d. h. durchschnittlich werden in Berlin täglich über 1 199 999 Telephon- gefpröche geführt._ Eine neue Wohlsahrtsküchc. In dem zum Verwaltungsbezirk Wedding ge- hörenden nördlichen Teil der Rofenchaler Vorstadt wurde am Sonn- abend eine Wohtfabrtstüche eröffnet. Sie ist im Haufe Swine- münder Str. 96 untergebracht, mitten in einem der dichtest- bevölkerten Stadtteile. Eingerichtet hat sie der Verein Wohl- sa h rtssp e i sung zu Berlin , der in engster VsrbivöiunZ mit der Stadt seine Arbeit treibt. Sradträtin Frau Kaueler. die Vorsitzende des Vereins. konnte in den freundlich ausgestatteten Speiferäumen der neuen Wohlfahrtsküche mehrere Miigliöder des Bezirksamtes Wedding be- grüßen, den Bürgern, eisterstcllvertreter Genossen Kran k, die Stadt- räte Genossen Fabiunke und Dr. Ries, auch den Stadt- ältesten Stadtrat o. d. Genossen Hintze urtb andere in der Wohlsahrtspflege tälige Personen, die zu der schsichten Eröff- nungsseier gekmmnen waren. Sie übergab die neue Wohl- fcchrtsküche dem Bezirksamt Wedding . Genosse Frank, der sie im Namen des Bezirksamts übernahm, erinnerte cm die üblen Zu- stände der früherenArmenküchen", über die wir allmählich doch hinausgekommen feien. Die Küche wird Dedürftigen ein einfaches, aber ncchr- und schmackhaftes Mittagsmahl zum Preise von 25 Pfennigen geben, während die Selbstkosten 38 Pfennige betragen. Sozialrentnern und Erwerbslosen will »ran«ine weitere Ermäßigung gewähren, und die Bedürftigsten sollen Freikarten zu ganz unentgeltlicher Benutzung vom Wohl-

von 2 Uhr ab können die SpeiserSiune auch äks Wtnnstudeu benutzt werden. Der Verein betreibt nunmehr 13 Küchen, zw« davon im Bezirk Wedding , eine in der Amsterdamer Straße und fetzt die neue in der Swinemünder Straße. Die Verwaltung liegt in den Händen des Vereins, dessen Mitglieder ehrenamtlich arbeiten, während das Wirtschoftspeefonal selbstverständlich tarifmäßig entlohnt wird. Die notwendigen und beträchtlichen Zuschüsse übernimmt die S t a d t. Der Traum, solche Einrichtungen auf der Grundlage der Zuschuß- losenSelbstcrhalttmg" aufbauen zu können, wie es Frau Lina Morgenstern vor 69 Jahren mit ihren Berliner Volksküchen ver- suchte, ist längst ausgeträumt. Ohne Zuschüsse der Stadt lassen der- artige Ünternehmrurgen sich heute nicht mehr halten. Tonderzuschläge zu de« Reute«. Nach der Verabschiedung des Bsfoldungsgefetzes für die Reichs- beamren wurden die bisherigen örtlichen Sonder, zu ichläge mit Wir­kung vom 1. Oktober 1927 ab verändert. Wie der R e i ch s b u n d der Kriegsbeschädigten mitteilt, ändern sich auch die bisher zu den Renten im befeßten und im Randgebiet und in Berlin . Hamburg , Altona , Wandsbek und Finkenwerder gezahlten Sonder- Zuschläge... In den oben genannten Orten tm inneren Deutsch­ land beträgt der Sonderzuschlag nur noch 2 Proz. für Be- schädigte und Hinterbliebene. Dagegen wird im besetzten Gebiet und in den Randgebieten in den Orten, für die bisher 15 Proz. ort- sicher SonderzufcAag zustand, künftig den Hinterbliebenen ein sol- cher von 19 Proz., den Beschädigten ein solcher von 6 Proz. zu den Versorgungsgebührniiien(auch der Zusatzrente) gezahlt. Für Orte, in denen bisher ein örtlicher Sonderzuschlag von 19 Proz. für die Kriegsbeschädigten«nd Hinterbliebenen gezahlt wurde, beträgt die, er 5 Pro-, für die Hinterbliebenen. 2 Proz. für die Befchädiqten. Rentenempfänger an Orten, in denen bisher 15 Proz. und 19 Proz. örtlicher Sonderzuschlag gezahlt wurde, erhasien im Januar 1928 eine Abfindung. Diese beträgt die Hälft« der für Cep. tember 1927 ohne örtlichen Sonderzuschlag zustehenden Rente und. soweit Znsatzrente gezahlt wurde, die Hälfte der für September 1927 bezogenen Zufatzrente. Die Hälfte dieser Abfindung kommt im Januar 1928 an die gleichen Empfänger.zur Aus- Zahlung. Damit ist die Herabsetzung des örtlichen Sonderzuschlags. die erstmals bei der Zahlung der Rente Ende Jcrmtar für Februar 1928 in Erscheinung tritt, abgegolten. Tondcrbewilligung von Kohlen. Mit Rücksicht auf die strenge Kälte der letzten Tage und den dadurch verursachten großen Verbrauch an Brennstossen hat der Magistrat vorbehaltlich der Zustimmung der Stadtverordneten beschlossen, an die zum Bezüge von Kohlenkartcn Berechtigten zusätzlich eine M o irv t s r a t c von jeeinemZentnerBraun- kohlenbrikctts zur Verteilung zu bringen. Die Verausgabung der Karlen erfolgt in der üblichen Weise durch die Dienststellen der Bezirksämter, und zwar wird mit der Verteilung voraussichtlich alsbald nach Neujahr begonnen werben. Für die Fall, daß noch- mals strenge Kälte eintreten sollte, ist in Aussicht genommen, alsdann an bedürftige Personen mit eigenem Haushalte zusätzlich noch einen weiteren Zentner Kohlen zu verteilen. Die Polizei in der Silvesternacht. Die Polizei, die schon in der vorjährigen Siloesternachi der Lebensfreude der Berliner Bevölkerung weitesten Spielraum gc- lassen hat, wird diese erfreuliche Praxis auch in der diesjährigeu Siloesternacht beibchalieii. Wie wir erfahren, hat Polizei' Präsident Zörgiebel nach den guten Erfahrungen des letzten Jahres der Schutzpolizei Anweisung gegeben, auch in diesem Jahre den Dienst in der Silvesternacht mit m ög- tichster Zurückhaltung auszuüben und die Bersiner Bc- völkerung ohne polizeiliche Bevormundung Silvester feiern zu lassen. Es sind jedoch selbstverständlich alle er, orderlichen Vorkehrungen getroffen worden, um gegebenenfalls Auswüchse mit der noiwe-�igen Schärfe sofort unterdrücken zu können. Der Polizeipräsident hofft aber, daß die bisher bewiesene Disziplin der Bersiner Bevölkerung es verhindern wird, daß diese Borsichtsmaßnahmen in Wirksamkeit treten müssen.

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�Zement. üXsmem von Fjodor Gladkorv.

Nun gut, ich habe eine Sorge, Genossin Mjechowa.... Wozu brauchst du aber zu wissen, was das für eine Sorge ist? Das geht niemand was an." Ja, das ist es eben, Dafcha. Wir sind gut organisiert, fest zusammengeschweißt und schrecklich fremd einander im persönlichen Leben. Und wir kümmern uns nicht darum, wie jeder von uns lebt und atmet. Ja, das ist es... das ist das Schreckliche.... Doch du hast es nicht gern, wenn man darüber spricht." Und sie schwiegen beide, fremd und verschlossen. Njurka schmilzt wie«ine Kerze die einzige, einzige Njurta. Und niemand kann sagen, wgrum sie schmilzt. Wozu sind die Aerzte, wenn sie nicht einmal imstande sind, auch nur ein einziges klares Wort zu sagen, wenn sie diese Krankheit, die an dem Kinde nagt, nicht bewältigen können. Dieses kleine Wurm braucht doch so wenig Hilfe von den Erwachsenen. Ja, das ist wahr: die Aerzte können hier nicht helfen. Sie, Dascha, weiß es besser als alle Aerzte der Welt, warum Njurka wie ein Sternlein im Morgenhimmel erlischt. Ein Kind braucht nicht nur Muttermilch: ein Kind ernährt sich durch das Herz und die Zärtlichkeit der Mutter. Ein Kind welkt und erstarrt, wenn die Mutter nicht sein Köpfchen anatmet, es nicht mit ihrem Blute wärmt und fein Bettchen nicht mit ihrer Seele, mit ihrem Dufte füllt. Ein Kind ist wie eine Frühlingsblüte des Apfelbaumes: Njurta ist vom Ast abgerissen und auf den Weg geworfen worden. Die Schuld trägt nur sie, Dascha. Und diese Schuld kann sie niemals verwinden. Und diese Schuld lag nicht in ihrem Willen, sie kam von irgendwo, von außen, vom L�ben. von jener Kraft, in deren Macht sie sich selber befand und die sie mit keinem passenden Worte nennen konnte. Und die Worte Revolution, Kampf, Arbeit, Partei klangen wie ein hohles Faß..Aber der Inhalt dieser Worte war das Un- ermeßliche, das Unabwendbare, was sie in sich selber trug, alles war das, darin war kein Tod, und sie selber war darin nur ein unsichtbares Stäubchen. Nur eines war: Njurka schmilzt, Njurka erlischt wie ein Füntchen. Njurka mar und wird nicht mehr sein. Sie zappelte ernst mit den Beinchen auf ihrem Arm«, an der

Brust, kroch herum, lernte gehen und Worte schwatzen. Lief umher und spielte. Wuchs. Und einmal war es: da konnte sie, als der Tod sie schon gepackt hatte, nicht über Njurka hinwegkommen. Und noch einmal war es: da löste sich Njurka in ihrem Blute zusammen mit der Bergangenheit auf, und als sie, Dascha, unter die Schlinge ging, dachte sie nicht an Njurka, und Njurka war in ihrem letzten Augenblicke nur ein fernes Gespenst. Und jetzt, jetzt sah sie Njurka lebendig vor sich, mit dem Gesichtchen einer welken Greisin und mit uferlosen Augen, die durch den Stempel des Todes traurig waren und wieder, wie damals, fühlte sie, sie kann nicht über ihre kleine Leiche hinwegschreiten. Und sie fühlte: Njurka ist das Opfer ihres Lebens und dieses Opfer ist unerträglich für ihr Herz. Und einmal, an einem frühen Morgen, führte sie ein Gespräch mit Njurka. Njurotschka, tut dir was weh. Töchterchen?". Njurka schüttelte den Kopf:Nein." Und was möchtest du denn, sag?" Ich will nichts." Willst du vielleicht den Vater sehen?" Ich will Trauben. Mütterchen." Es ist noch zu früh, mein Täubchen, die Trauben sind noch nicht reif." Ich will bei dir sein, ich will, daß du nicht weggehen sollst... und daß du nah sein sollst... und Trauben ... ich will dich und Trauben." Sie saß auf Daschas Schoß und löste sich ganz warm, wie sie war in ihrer. Daschas, Wärme auf. Und als Dascha sie in ihr Bettchen legte, sah sie Dascha lange mit ihren tiefen Augen an. war ganz in sich selber vertieft und sagte, als Antwort auf den schweigenden, tränen- feuchten Blick Daschas: Mütterchen!... Mütterchen!" Was, mein Kind?" 'Nichts, Mütterchen... Mütterchen." Dascha ging aus dem Kinderheim und schritt nicht wie aewöhnlich zur Landstraße hinunter, in die Frauengruppe. sondern tauchte ins Gebüsch unter und legte sich ijis Gras, wo es einsam und stumm war, wo es nach Erde und Grün roch und die Sonne in kleinen Kugeln herunterkroch, und weinte lange und zerriß mit ihren Fingern das Gras. Einmal, in der Nacht, in Gljebs Abwesenheit, kam Badjin zu Ihr im Automobil. Sie hörte, wie der Motor schnaubte,

und kam aus dem Zimmer. Stieß auf der Treppe Brust gegen Brust mit Badjin zusammen. Er wollte sie hier gleich umarmen, aber sie stieß ihn streng von sich. Genosse Badjin, das wird nie mehr sein." Badjin ließ seine Arme fallen, wurde schwer und starr. Dascha... ich wollte allein mit dir sein.... Ich habe erwartet, daß du mich etwas wärmer empfangen wirst." Genosse Badjin, fahr sofort weg und schwatz hier nicht vergebens." Und ging fort, machte die Tür fest zu und schob laut den Riegel vor. 3. Alpdruck. In der Frühe, wenn Polja in die Frauengruppe ging, und nach vier, wenn sie nach Hause zurückkehrte, lief sie wie ein Windrad durch die Straßen. Mit großen Schritten rannte sie über die Trottoirs, über das Ufer, schaute nicht auf und sah die Menschen nur undeutlich vor sich. Sie kamen ihr entgegen, gingen neben ihr, hinter ihr, holten sie ein, spiegelten sich wie verwaschene Schatten in ihren Augen. Aber sie sah keine Gesichter, sie sah nur Füße, Fuße in ivtiefeln. in Fetzen, ohne Schuhe, in Hosen, in Röcken. in herunterfallenden Frauenstrümpfcn. Viele Füße sah sie hin- und hergehen, unermüdlich und verstaubt. Sie schaute nicht auf sah nur auf die Füße, auf ihre und auf frenide. Sie tonnte ihren Kopf nicht heben, um fest und ruhig die Auslagen anzusehen, die offenen Türen, die Menschen, die anders aussahen als früher. Sie schaute nicht und sah trotz- nicht solche Frauen wie früher, noch vor kurzem, im Frühling, zu sehen waren: elegante Kleider blühten auf, Hute mit Blumen, durchsichtiger Batist, moderne französische Absätze.... Und auch die Männer waren anders: steife Hemden und Krawatten und Chevreauschuhe. Und wieder strömte ein Parfümduft durch die Straßen und die Stimmen tonten laut, freudig, vogelartig. Gespenster drängten sich durch offene Türen in dem vom Tabakrauch grauen Dunste der Kaffeehäuser, und in dem fernen Stimmengetöse klang das Klirren von Geschirr, das Aufklopfen der Würfel beim Hasardspiel, und aus der Tiefe des rauchigen Loches flössen, unbekannt woher, kaum hörbare Laute eines Streichorchesters. Woher kam das alles? Und warum kam das so rasch, so frech und fett? Und warum ging das alles über sie, Polja. hinweg und setzte sich als quälende Unruhe und als Schmerz m ihren Gedanken fest? (Fortsetzung folgt.)