Albendausgabe
Nr. 611
B 302
44. Jahrgang
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Dienstag
27. Dezember 1927
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Charkow , 26. Dezember.( Dft- Expreß.)
Die Charkower Sowjetpresse bringt Enthüllungen über eine extreme Richtung innerhalb der Opposition, die sich Gruppe der demokratischen 3entralisation" nennt. Von der Trogfi- Opposition unterscheidet sich die Gruppe hauptsächlich dadurch, daß sie unzweideutig und mit Entschiedenheit für die Schaffung einer neuen Partei eintritt. Der geistige Führer dieser Richtung ist der bekannte Oppositionelle Sa pronow, der nach Mitteilungen Der Sowjetpreffe, neuerdings in einer illegalen Oppositionsverfammlung in Chartom erklärt haben soll, Lenins Schriften feien ,, tein Talmud", die Kommunistische Partei befinde sich gegenwärtig auf einem falschen Gleis und die bei vielen Troßfiften beliebte Methode,
Durch„ Reuebekenntnisse Zeit zu gewinnen, sei zu verwerfen. Man müsse im Gegenteil die illegalen Organisationsformen mit allen Kräften ausbauen und ganz besonders unter der parteilofen Arbeiterschaft eine energische Propaganda für die Ideen der Opposition entfalten. Nach den Versöhnungsversuchen der Kamenew und Genossen auf dem Moskauer Parteifongreß foll sich diese extreme Gruppe der demokratischen Zentralisation besonders ver
stärkt haben. In Moskau ist vor einigen Tagen eine Konferenz abgehalten morden, die im geheimen stattfand und von Vertretern der erwähnten Gruppe aus allen Teilen der Sowjetunion besucht
war.
Hingerichtet, nicht gefallen!
Der Tod des Sowjetkonsuls in Kanton.
Hongkong , 27. Dezember. Bas mit den Russen in Ranton geschehen ist, steht noch immer nicht feft. Eine amtliche Erklärung, die Nervosität verrät, besagt, zehn Russen seien während des Kampfes getötet morden. Ausländische Zeugen aber geben an, daß fünf Russen hingerichtet worden seien, darunter zwei, die im Konsulat verhaftet wurden. Im ganzen sollen nach ausländischen Angaben acht Russen hinge richtet worden sein, darunter der Bizekonsul und ein Konsulats. beamter; nur zwei seien im Kampf gefallen.
Die Herren Bewersborff und Schulze, bekannt aus dem Rothardt- Brozek, sind im Disziplinarverfahren sehr milde be handelt morden. Dazu schreibt Genosse Landsberg im letzten Heft der Justiz":
„ Das rechtskräftige Urteil des Disziplinargerichts kommt nach Erörterung der einzelnen Bewersdorff zur Laft gelegten Punkte zu dem Ergebnis, es liege auch nicht der geringste Anlaß dafür vor, daß Bewersdorff in dem Rothardt- Prozeß durch politische Boreingenommenheit gegen den Reichspräsidenten auch nur irgendwie beeinflußt gewesen wäre. Nach den Urteilsfeststellungen seien die dem Landgerichtsdirektor Bewersdorff zum Beweise feiner Boreingenommenheit gegen den Reichspräsidenten Ebert gemachten Einzelvorwürfe tatsächlich unbegründet; Bewersdorff habe ledig. lich wegen einer Aeußerung aus dem Jahre 1921, von der das Disziplinargericht festgestellt habe, daß sie mit dem erst 1924 verhandelten Rothardt- Prozeß in feinem Zusammenhang stehe, eine Warnung erhalten. Im übrigen sei er freig!. sprochen worden.
Ich kenne die Aften des Disziplinarprozesses und die Gesamtheit feiner Ergebnisse nicht. Aber es ist mir befamu, daß 3 wei besonders gravierende von den in meinem Aufsatz behaupteten Tatsachen, die von den beiden angeschuldigten Richtern nicht zugestanden worden waren, erwiefen worden find, und sowohl sie, wie auch die Würdigung, die ihnen das Disziplinar gericht hat zuteil werden lassen, finde ich höchst charatte ristisch.
In meinem Aufsatz hatte ich behauptet, daß die Herren Bewers dorf und Schulze während der Berhandlung des Prozesses Rothardt in zweiter Instanz eines Tages als Zuhörer im Gerichtssaal erschienen seien, daß Herr Bewersdorff beim Anblick des 3engen Scheidemann gesagt habe:„ Da ist ja Philipp," und daß darauf Herr Schulze mit Nachdruck geäußert habe: Dieses Schwein." Im Disziplinarverfahren ist die Aeußerung durch das beschworene Zeugnis eines jungen Juristen, der dem Borfall beigewohnt hat, bewiesen worden und bat zur Be= strafung Schulges mit einem Verweise geführt.
Herrn Bewersdorff hatte ich u. a. nachgejagt, daß er, einige Monate bevor er den Borsiz im Prozeß Rothardt führte, sich in politischen Gesprächen dahin geäußert habe, die Hauptsache sei, daß der Sattlergeselle da oben" bald verschwinde. Im Disziplinarnerfahren ist durch eine eidliche Bergenqueface be wiesen worden, daß Herr Bewersdorff jene Worte tatsächlich gebraucht hat, nur sind sie nicht einige Monate vor dem Prozeß Rothardt, sondern im Jahre 1921 gefallen. Ob auch der Beweis dafür erbraft ist, daß sie begleitet waren von dem Ausdruck der Ueberzeugung, es habe keiner Sinn, politisch in der Mitte zu bleiben, es müsse ganz scharf rechts regiert werden, der einzige Mann, der Präsident des Deutschen Reiches werden könne, sei Ludendorff , weiß ich nicht Die vom Disziplinar gericht festgestellte Aeußerung des Herrn Bewersdorff hat zu einer Bestrafung mit einer Warnung, also der niedrigsten zu läffigen Strafe, geführt.
Ich kann die Ausführung des Disziplinargerichts nicht verstehen, daß die Worte Bewersdorffs mit dem Rothardt- Prozeß in teinem Zusammenhang ständen. War denn das Ziel dieses Pro
zesses nicht die Entfernung des ersten Reichspräsidenten aus seinem Amte, die Herr Bewersdorff im Jahre 1921 als höchst erwünscht, ja jogar als notwendig bezeichnet hatte? Ich kann nur dabei bleiben, daß feine Prozeßleitung im Falle Rothardt seine auf pofiti fchen Gründen beruhende Boreingenommenheit gegen den Reichspräsidenten genau so offenbart hat wie die Aeußerung des Herrn Schultze die auf der gleichen Grundlage erwachsene Antipathie gegen Scheidemann erkennen läßt.
Herr Bewersdorff ist mit dem gegen ihn ergangenen Disziplinar urteil zufrieden. Er darf es sein. Die Richter im Talar find, wie die beiden von mir besprochenen Tatsachen und die Art ihrer Würdigung durch sie erkennen läßt, bestrebt gewesen, die Augen der Richter auf der Antlagebant zu schonen.
Seine Bedeutung für die internationale Arbeiterschaft. Bon Peter Garwy.
Der 15. Parteitag der KPDSU. hat selbstverständlich einstimmig" die Erledigung der Parteiopposition beschlossen. Umsonst hatte die Opposition in ihrer Erklärung, die sie dem Parteitag überreicht hatte, ihre Bereitschaft, zu kapitulieren, ausgesprochen. Umsonst hatte Kamenew erklärt, daß die Opposition nicht gewillt sei ,,, den Weg der zweiten Partei zu betreten", daß sie sich verpflichte, den Fraktionskampf und die illegale fraktionelle Organisation aufzugeben. Rykow und Stalin brandmarkten dieses erniedrigende Friedensangebot als ein heuchlerisches Manöver. Der Parteitag forderte die bedingslose ,, echtbolschewistische" Unterwerfung der Opposition, ihre nicht nur organisatorische, sondern auch Meinungen. Die ist bekanntlich von einem Teil der Opposition ideologische Abrüstung, d. h. die völlige Lossagung von ihren auch vollzogen worden, während ein anderer in seiner Kampfauch vollzogen worden, während ein anderer in seiner Kampfstellung verharrt.
vielleicht sogar Erschießungen der Oppositionellen.( Rykow Was nun? Massenausschließungen, Massenverhaftungen, prophezeit" schon jetzt die bevorstehende Bermehrung der Bevölkerung in den Gefängnissen".) Auf der anderen Seite Zersehung, Massenverrat der einen, Erbitterung der anderen, die noch tiefer ins unterirdische" sich verbergen und den Weg des Verschwörertums einschlagen werden. Die Oppo sition ist erledigt, aber die Krise bleibt. Sie ist nur in eine viel ernsthaftere und viel gefährlichere Phase eingetreten. Denn auf dem Parteitag wurde keine troglistische ,, Abmeichung", sondern der Alt bolichewismus selbst, die Oktoberführung und die Oktoberillusion, erledigt. Man darf fich dadurch nicht täuschen lassen, daß der Parteitag unter Stalins Führung aus rein demagogischen Gründen das Programm der Opposition übernommen und sowohl in den außen wie in den innenpolitischen Fragen einen Iinten Rurs eingeschlagen hat. Der wirkliche politische Sinn der Erledigung der linkskommunistischen Oppofition ist die Freimachung des abschüssigen Weges zu der fortschreitenden Verbürgerlichung der bolfchemistischen Diktatur.
Die neue Phase der russischen Krise ist für die internationale Arbeiterschaft von größter Ledeutung. Die Erledigung der Oppofition wird den bürgerlichen Umwandlungsprozeß in der Richtung einer bonapartistischen oder falchischen Umwälzung beschleunigen. Die linken Rommuniften im Auslande begreifen das zwar ganz aut. fie begreifen aber nicht, dak damit ihre ganze Soche, der Bolschewismus nicht nur in Rußland , sondern auch im Auslande. zugrunde geht. Noch weniger begreifen das die gehorsamen Mehrheiten" in allen Seftionen der Komintern , die die Erledigung der Onnnsition einstimmig" billigen und dem Sieger Stalin mit untertäniger Begeisterung huldigen.
Das Erwachen wird schrecklich sein! Der russische Thermidor, d. h. das Ende der kommunistischen" Maskerade in Rußland , wird in ungeheurem Maße die 3ersekung des Kommunismus in Westeuropa beschleunigen. Dann werden die kommunistischen Arbeiter überall vor die Wahl gestellt: entweder in die Peihen der Sozialdemokratie zurückzukehren oder sich in unbedeutende anarcho- syndikalistische Sekten zu verlieren.
Der griechische Außenminister Michalafopulos meilt seit mehreren Tagen in Rom . Er hat Muffolini mehrfach aufgesucht. Der Popolo d'Italia" schreibt über seinen Besuch jetzt: Der griechische Außenminister habe den lebhaften Wunsch, zwischen Italien und Griechenland die freundschaftlichen Beziehungen wieder anzuknüpfen, die vor dem Balkanftieg beffanden hätten. Der Minister habe erklärt, daß die griechische Regierung hätten. Der Minister habe erklärt, daß die griechische Regierung eine Fellschung Südflawiens im Hafen von Saloniti nicht dul- Revolution und des Sozialismus. Sie hat folche Entwicklungen
den könne. Südslawien habe nur das Recht auf Iranfifver
tehr. Die Bestrebungen, ein Balkanlocarno zu schaffen, feien von dem Minister in Abrede gestellt worden.
Kapitalertragssteuer in Frankreich . Borschlag an den sozialistischen Parteitag.
Paris , 27. Dezember.( Eigenbericht.) Der sozialistische Parteitag beschloß am Montagnachmittag, das umstrittene Problem der Sapitalausgabe zunächst nicht in der öffentlichen Sigung anzuschneiden, sondern einem fachverstän. digen Komitee zur Borprüfung zu übergeben. Diesem Romitee gehörten u. a. an: Blum, Auriol und Renauld. Das Komitee rat noch am Montagabend zu einer Sigung zusammen. Nach kurzer Diskussion einigten sie sich einstimmig auf folgenden Vorschlag:
Sofortige Stabilisierung des Franken, und zwar zu dem Kurje, der am Tage der Stabilisierung an der Börse notiert wird; Konsolidierung der gesamten schwebenden Schuld, wenn nicht anders möglich, auf dem Wege des 3wanges; an Stelle der Kapitalabgabe, die einen Eingriff in die Substanz des Vermögens darstellt, eine fortlaufende Kapitalertrags. steuer, die die unberechtigten, viel zu hohen indirekten Steuern steuer, die die unberechtigten, viel zu hohen indiretten Steuern ersetzen soll. Diese Vorschläge sollen heute die Vollversammlung des Kongresses beschäftigen.
Ganz anders steht die Frage für die sozialistische Arbeiterschaft, die den weitaus größeren Teil des Weltproletariats bildet. Auch für sie ist die russische Krise von größter BeMaskerade in Rußland alles andere als das Ende der sozialen deutung. Aber für sie bedeutet das Ende der kommunistischen
porausgesehen und ist daher im Gegensatz zu den kommuni stischen Arbeitern vor einer fatastrophalen Enttäuschung und ihren unheilvollen Folgen gesichert.
Das jedoch muß offen gesagt werden. Auch in den Reihen der sozialistischen Arbeiterschaft Westeuropas find noch unkritische, ia illusionistische Vorstellungen über Sowjetrußland ziemlich stark verbreitet. Manche glauben noch an das sozialistische Erperiment" in Rußland . Manche glauben, daß für Rußland , das eigentlich zu Asien gehört", der Weg zum Sozialismus vielleicht durch eine Minderheitsdiktatur führe. Insofern bedeutet das bevorstehende bürgerlich bonapartistische Finale der bolichemistischen Diktatur auch für einen Teil der sozialistischen Arbeiterschaft Westeuropas eine Enttäuschung. Gerade deshalb ist es aber höchst wichtig, eine flare Stellung zum russischen Bolschemismus einzunehmen und den mirklichen Charakter des in Rußland vor sich gehenden wirtschaftlichen, sozialen und politischen Brozesses vor den Augen des Weltproletariats aufzudecken. Jede Vernachlässigung der Aufgabe ,,, auszusprechen, was ist", maßte sich in der Rukunft grausam rächen.
Für die sozialistische Arbeiterschaft Westeuropas ist es nicht gleichgültig, wie fich die Ereignisse in Rußland weiter entwickeln. Die internationale Arbeiterschaft muß nach wie, vor mit aller Kraft die imperialistische Intervention, auch in der verhüllten Form einer Wirtschafts- und Finanzblockade befämpfen. Nicht aus Sympathie für die bolfchemistische Diktatur, sondern dem Weltfrieden zuliebe. Aber die sozia