71 r. 3* 45. Jahrgang
1. Beilage des Vorwärts
Dienstag, 3. Januar 4925
Nun soll also Ernst gemacht weichen: Mit dem Beginn des neuen Jahre» will man an die Bebauung des.Scheunenoiertels' gehen. Damit wird dann wohl die Erinnerung an«inen Stadtteil schwinden, der einen weit über Berlin hinausreichenden Ruf hatte. JreUich: Dieser Ruf war kein besonder» guter, und es gab Zeiten. in denen«in nächtlicher Wanderer lieber einen groben Umweg über den Alexoirderpiatz oder über das Prenzlauer Tor machte, als das Scheunenviertel auf seiner Hauptverkehrsader, der Linienstrahe, zu durchqueren. Und wie berechtigt diese Vorsicht war. ergibt sich aus der Tatsache, doh im Scheunenviertel schon vor dem Kriege die Schulzmannsposten in �Zweierpatrouille' gehen mußten; es war eine der unsichersten Gegenden Berlins. — So„berühmt" aber auch das Echeunenviertel war. so wenig wußten selbst die meisten Berliner oon seiner Entstehung und von seinen Bewohnern. Die es zu seinem Namen kam. Das Scheunenviertel — ja. das Scheunenviertel besteht ja schon seit Jahren nicht mehr. Verschwunden sind die kleinen, topsstein- gepflasterten Straßen, die Koblanck», Weydinger-, Amalien st raße — der massige Block des Dolksbühnenhauses hat sie hinweggerafft. Und diese Straßen waren das eigentliche Scheuaenviertel. sie stammten noch aus der Zeit, in der diese Gegend gar nicht richtig zu Berlin gerechnet wurde, in der sie die.Commu- nicatiön vor dem Prenzlauer Tore" hieß. Es war eine halb länd- liche Niederlasiung; Ackerbauern waren ihre wohlhabendsten Ein- wohner, noch heute zeugen davon das Haus der„Mettestistung" in der Prenzlauer Straße gegenüber der Hirtenstroße und dos alte Eutshaus der Familie Bötzow am Prenzlauer Tor. Und in diesem Winkel zwischen Prenzlauer und Linienstraße standen wirtlich die Scheunen, und die„Amalienstrohe" hieß noch lange Jett.Scheunen. gaste". In der Nachdarschast dieser Scheunen entstanden allerlei kleine Häuser, ländlicher und vorstädtischer als in den anderen Teilen Berlins : denn als in der Oranienburger Borstadt schon längst die Maschinenfabriken dröhnten, rauschten auf dem.Windmühlenberg" vor dem Prenzlauer Tor noch die Halm« aus mageren Getreide- feldern, die der FamiN« Bötzow doch so gutes Gold trugen. Freilich erst in den.Gründersahren"; da entstanden zwischen dem Prenzlauer Tor und der Stadtbahn lange Reihen neuer, hoher und städtischer Häuser und umklammerten das.Scheunenviertel ". Damit war sein Schicksal besiegelt. Di« bisherigen Bewohner des Echeunenviertels waren wohl .kleine Leute". Leute, denen mehr an der billigen Miere als an städtischen Komfort lag, auch viele Handwerker, die drinnen in der Stadt keine billigen Werkstätten. Fuhrleute, die so schwer pasiende Pferdeställe bekamen. Aber es waren durchweg anständig«, repu. tierlich« Leute, ob sie nun dem Kleinbürgertum oder dem Proletariat angehörte». Das wurde jetzt anders: Schmied« und Fuhrleute und ein paar der ganz allen Einwohner, dl« mit ihrem Hause, mll ihrer .Gegend" schon bis in» Leben hinein oerwachsen waren, blieben zwar wohnen, die anderen aber zogen aus, und an Ihrer Sldle zogen reckst zwelfelhasle Zeilgenosten ein. Zuerst setzte sich die Prosts, t u t i o n in den dunklen, engen Straßen fest. In jedem dritten, vierten Hause war«ine Kneipe mit.Bedienung von zarter Hand"— da» ganze Scheunenviertel stand im Zeichen der lockenden roleu Laterne. Dann entdeckt« auch die Berliner Verbrecherwelt, welche
oorzüglichen Schlupfwinkel hie kleinen, verbauten Häuser boten: Keine himmelhohen.Seitenflügel" trennten die Höst, die niederen Mauern boten einem guten Turner kein ernsthafte» Hindernis, freundwillig« Wirte und dienstbereite Freundinnen fanden sich über- oll, und bei den primitiveren Fahndungsmethoden vor fünfzig Jahren war das.Scheunenviertel " ein sehr schätzenswerter Zusluchts- ort für allerlei lichtscheu» Zeitgenossen. Wie es jetzt aussteht. Rund um den Block des Boltsbühnenhaufez liegen Lmtplähe, zum Test mll hölzernen Baracke» bebaut, zum Teil als Ablagerung»- platz für allerlei wüstes Gerümpel mißbraucht: verwanzte Matratzen, Trümmer von Möbelstücken, alle Körbe, undefinierbarer Plunder bilden ein gräuliches Gemisch. Dann wieder, in wackligen Bretter- buden.Eiskonditoreien". Handlungen mit allerlei Altwaren— und. neben bresthasten Vorstadthäusern, einige Neubauten, Vorboten der kommeitden Zeit. Dann, rechts und links, die Reste des alten .Scheunenviertels", durch den Bau der Bolksbühne nicht nur räumlich geschieden: Es sind wirklich zwei verschiedene Welten, die Kleine Alexanderstraße und die Bartelstraße auf der«inen, die Grenadier- und Dragonerstraße auf der anderen Seite der Bolls- bühn«. Die Grenadier- and Dragonerstraße sind da» Ghetto Berlin». Hier tragen Läden und Geschäfte meist neben der deutschen Firmen-
tteate steht es noch/
bezeichnung noch.siddische" Anpreisungen in hebräischen Buchstaben. Tragen die jüngeren Frauen auch alle ihr eigenes Haar(und die Mädel recht fesche Bubiköpfe), unter den alleren Frauen trägt mehr als eine die Perücke, die in Osteuropa das Kennzeichen der ver- heirateten Jüdin ist, und unter den Männern sieht man noch viele mit Kaftan und Schläsenlocken. Jedes zweite, dritte Haus beherbergt eine„koschere SpeisewiNschast" oder eine„Krakauer Konditorei. Und, im Gegensatz zu der vielverbreiteten Meinung: Die meisten dieser Gaststätten zeichnen sich dunfc tadellose Sauberkeit ans. Wovon ihre Inhaber leben, Ist freilich manchmal ein Rätsel. Treten wir in so ein Lokal: In dem vorderen Zimmer mit den gescheuerten Tischen stehen wohl sechs Männer in angeregter Unterhaltung— keiner verzehrt gerade setzt etwas... große Zeche scheint keiner zu machen. Trotzdem nimmt der Wirt lebhast an der Unterhaltung teil. Im Nebenzimmer sitzt«in hübsches, schwarzlockiges Mädel und liest die Zeitung— beim Scheine eines dünnen, schwindsüchtigen Stearin- lichtes, dos kaum drei Schritt weit leuchtet. Die Sparsamkeit auch im kleinsten, der Verzicht auf jeden Lebenstomsort, bis man es „geschafft" hat. Aufmachung gilt hier gar nichts: Das zeigt auch die Börse der„Altkleiderhändler Deutschlands", die in der Hirtenstraße ihr Lokal hat. Wer sähe es den beiden schmucklosen Ladenräumen an, daß hier große Warenposten und Werte gehandelt werden, daß hier Geschäfte abgewickelt werden, bei denen den Beteiligten auch die weiteste Reise von den Grenzen Deutschlands her lohnt, ja, die sogar weit darüber hinaus— sogar bis in Kolonialländer gehen. Man darf nicht vergessen, daß an der Entwicklung dteses Stadt- teils eigentlich das kriegsverflossene Ober-Oft-Generalkom» m a n d o schuldig ist, das die jüdische Bevölkerung ganzer Städte zwanqsweise ol» Auller für die Munitionsfabriken hierher verschickte, und daß man es diesen Zwangsansiedlern kaum verargen kann, wenn st« jeden der Ihren schützen, so lang es eben geht. Die andere Seite. Ein anderes Bisd bietet die zweite Hälfte des Scheunenviertel ». An der Ecke der Vartelflraße steht noch eines dieser alle» Häuser. da» ursprünglich wohl eln alter Bauernhof war: daneben, laug. gestreckt, nach ein richliger Scheuuenbau. Hier hat sich auch noch die alte Bewohnerschaft erhallen: Kleingewerbetreibende, Fuhrgejchäfte, Proletariat— aber in den Kneipen verkehren allerlei merkwürdige Gentlemen, mit dicken Ringen und tätowierten Unterarmen, von denen man nur ihren Spitznamen kennt: Sachsen-Ernst und Locken- Paul. Und wenn so ein Genteman einen„Landsmann" auf dem Bahnhof abfangen und herschleppen kann, dann rasseln in mancher von den kleinen Kneipen die Würfel, dann dreht sich das„Kümmel- blättchen" solange, bis die Taschen des harmlosen Neulings gfünd- lich geleert find.— An der Theke aber lacht rot und luftig ein Plakat:„Es wird gebeten, in diesem Raum« das Wort„Arbeit" mcht ' laut auszusprechen, da verschiedene meiner geehrten Gäste beim Anhören dieser Laute Ohmnachtsanwandlungen bekommen haben! Der Wirt." « So sieht das Scheunenviertel heute aus: noch immer einer der unvermeidlichen Kehrichtwinkel der Weltstadt, und wenige werden ihm eine Träne nachweinen. Noch zehn Jahre weiter: Wer wird dann noch von der„Communicatton vor dem Prenzlauer Tore" wissen und vom Glück und Ende des„Scheunenviertel »"?
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�Zement. £R.cmaa von Ffodor Gladtoro.
Glfeb stellte sich vor Dadjin, Schulter an Schulter neben Gromada, und sagte finster, mit strenger Fremdheit, hart und kurz, es klang wie Trommelwirbel, und es schien, als ob er nicht sprach, sondern vom Papier las. „Genosse Vorsitzender des Exekutivkomitees, ich und Gromada. als Mitglied der Fabrikleitung, sind hierher ge- kommen, um zu erfahren: auf wessen Weisung und aus welchem Grunde die Arbeit auf dem Wert eingestellt worden ist? Es herrscht dort vollständige Desorganisation und Aer- fall. So eine Schweinerei kann man nicht dulden. Ich möchte wissen, wer das Gesindel ist, das hier Sabotage und Gegen- revolution züchtet. Die Arbeiter sind unruhig. Solch bös- willige Mißwirtschaft ist ärger als ein Banditenüberfall. Hier ist jetzt Genosse Schramm: er soll Rede stehen, wie der Bolls- wirtschaftsrat dies Verbrechen zulassen konnte. Badjins Zähne glänzten wieder weiß anter einem freundschaftlichen und seltsam-frählichen Lächeln. „Ich weiß davon. Der Volkswirtschaftsrat erhielt eine Devesche von der Zementzentrale, die Arbeiten bis zur Klärung der Frage, ob die Inbetriebsetzung des Wertes zweckmäßig und notwendig sei, einzustellen." „Ich weiß, wessen Werk das ist, Genosse Badjin. Aber das Industnebureau schickte auch«ine Depesche an den Bor- sitzenden des Bolkswirtjchaftsrates. daß alle Maßnahmen zur Organisierung der Arbeit getroffen werden sollen. Dort ist die Sache besprochen worden, ich habe die Dokumente in meinen Händen." Schramme Stimme war fremd und heiser. «Es existiert ein Industriebureau— es existiert aber auch eine Zementzentrale. Sljeb riß seinen Helm herunter und warf ihn auf den Tisch Seine Wange zuckte nervös und unaufhörlich. «Genosse Vorsitzender des Exekutivkomitees, ich werde das auf die Spitze treiben: so kann man auch nicht arbeiten. Und wenn Genosse Schramm auch den Teufel selber� als Kommunist gefressen hat— so muß man ihm in dieser Sache einen riesengroßen Krach machen. Das ist kein Svaß, Ge- nassen. Wir werden noch an anderer Stelle über diese Räubereien reden. Aber Genosse Schramm paßt nicht zu uns
Arbeitern. Das ist so wahr, wie zweimal zwei vier ist... das wird alles dem Parteikomitee vorgelegt werden. Das ist eine Bedrohung unserer ganzen ökonomischen Politik, Genossen. Genosse Badjin hat richtig gesagt,— das ist eine ökonomische Gegenrevolution.... Ja. Dem muß ein Ende gemacht werden. Die Sache der Forstverwaltung— ist noch nicht so arg. Hier bei uns gibt es noch schrecklichere Dinge. Man muß sich aufraffen, Genossen, alle einfangen und eine schonungslose Reinigung vornehmen. Einen Staub in allen Institutionen aufwirbeln. Wir haben lange genug mit dieser weißgardistischen Bande herumgespielt: jetzt ist es Zeit, sie kräftig anzupacken. Ich teile Ihnen mit, Genosse Badzin, daß alle Resolutionen der Wirtschaftskonferenz angenommen, alle von uns geforderten Anweisungen uns zugesagt worden sind. Morgen beginnen die Arbeiter die Arbeit. Die Fabrikleitung reißt alle Siegel von den Magazinen herunter und nimmt sie unter ihren Schutz. Und noch eins teile ich Ihnen mit, Genosse Badjin: wir oerlangen unwiderruflich eine neue Fabrik- leitung. Wir werden einen Wirbel bis nach Moskau hin machen, wenn es darauf ankommen wird." Er riß seinen Rock auf, nahm einen Haufen Dokumente aus der Tasche und warf sie auf den Tisch. .�)ier habt ihr eure Dokumente, man hat uns immer mit dem Industriebureau gedroht und nun schlagen wir euch mit dem Industriebureau." Schramm? Gesicht war leichenfahl und die Augen trüb und schmutzig wie bei einem Toten. Tschibis stand rasch auf und ging mit schnellen Schritten. ohne die frühere Schwere in den Beinen, aus dem Zimmer. Badjin sah Schramm stirnrunzelnd an und lächelte, und in seinen Augen war ein seltsam-fröhliches Funkeln. „Nun, Schramm, der Volkswirtschaftsrat wird wohl' auf einer Bank neben der Forstverwaltung sitzen müssen? Das wird ein interessantes Bild abgeben, jetzt, wo die Sache eine solche Wendung nimmt." Im Gang traf Gljeb Dascha. Sie schien ihn zu erwarten. Sie sah ihn wieder mit tiefen, flimmernden Augen an. und es schien, als ob sie nur aus Augen bestände und als ob eine fieberhafte Glut und ein qualvoller Schrei in ihnen wäre. Sie bsieb ruhig vor ihm stehen, wie immer, und sagte leise, zer- streut, so als ob sie an etwas anderes, wichtigeres dächte: „Gljeb, Njurotschka ist gestorben. Man hat sie schon begraben und du warst nicht da.... Njurotschka ist nicht mehr, Gljeb. ... Njurotschka ist verbrannt— und du warst nicht da." Im ersten Augenblick empfand Gljeb einen schrecklichen
Stoß in seiner Brust, und dann wurde es still in ihm und nur das Herz wurde groß wie eine Blase,- es wurde ihm schlecht, seine Füße schmolzen, es schien ihm, als ob er aus großer Höhe herunterfiele. Er sah Dascha aufmerksam mit großen Augen an und tonnte lange nicht zu Atem kommen. „Wie,.. was?... Das kann nicht sein.... Was? ... Njurotschka... das kann nicht sein." Dascha stand mit dem Rücken an die Wand gelehnt und Gljeb sah andere gequälte Augen vor sich. Sie zitterten und überströmten vor Tränen. Nebenan stand Gromada, auch an die Wand gelehnt, er keuchte und erstickte fast unter einem heiseren, bellenden Husten. Spreu. 1.„Unser Herz sei aus Stein." Die Reinigung der Werkzelle war den veröffentlichten Anordnungen nach auf den 16. Oktober(also in acht Tagen) angesetzt und Sergeij erwartete diesen Tag mit seinem alten, nachdenklichen Lächeln und empfand keine Aufregung und Unruhe, und die üblichen Fragen, die ihn immer beschäftigten. quälten ihn nicht während der Nächte. Er fühlte nur eines: er wunderte sich, daß er nicht für einen Augenblick den Tag des 16. Oktober vergaß(sogar im Schlaf dachte er daran), und wußte, daß er einen-grausamen Abschnitt in seinem Leben bedeute, und trotzdem war seine Seele diesem Ereignisse gegenüber, das nun über ihn hinweggehen sollte, taub und dumpf. Wird er aus der Partei ausgeschlossen werden oder drin bleiben dürfen? Durch das Hirn ging eine seltsam- leichte Welle und verschwand an der Oberfläche seines Bewußt - seins. Und die Welle überspielte alle Zellen seines Hirns. und sie erfüllten ruhig, unberührt ihre gewohnte, geschäftliche Arbeit und klangen in der Nacht von den Tagesvisionen und von seltsam aufflackernden, unerwarteten Erinnerungen. Das waren merkwürdige Lichteffekte:— Grün in der Sonne. Kinder in der Sonne, Berge und Meer in der Sonne und bald Kindergeschrei, bald Glockentöne. die wie Grillengezirp« klangen. Wie gewöhnlich brannte seine von Locken umrahmte Glatze in der Sonne, wenn er in das Parteikomitee oder zu einer Versammlung ging. Wie gewöhnlich ging er mit einer vollgepfropften, löcherigen Aktentasche mit einem leicbten, nachdenklichen Gang. Er war immer beschäftigt, erfüllte immer pünktlich die Aufgaben des Tages, und es war kein Augenblick, an dem er den 16. Oktober vergaß. (Fortsetzung folgt.)