Ttr. 5* 45. Jahrgang
1. Beilage des Vorwärts
Mittwoch, 4. Januar 192S
Ersatz Iannowitzbrücke.
Di- tkisenkonsti'uNiosi her öannnmiQnntbrürfc, die auf her alten Iannowiybrucke fer.ig montiert mutbe, soll demnächst aus ihren Ausstellungsplaft, M Meter stramaKwarts„oerschmenkt" werden. Aus untergelegten Rollen die aus eisernen Schienen laufen, werden die l7l> Donnen dieser Inierimsbrulfc bewegt. Ein halbes Jahr fall sie den Fußgängerverkehr über die Spree leiten. ■de ): sich oui dem astlichen User noch durch einen Stadtbahnbogen drängen muß. Nei einer Breite van 7 Metern und 72 Metern
Spannweite wird diese„Notbrücke", auch äußerlich, der neuen liaimowitzbrucke sehr ähnlich sein, nur daß Icßtere für den Straßen. bahn und Fährverkehr noch entsprechend nreiter gestallet wird. Aber erst muß die Reichsbahn die Verstärkung der Stadtbahnbogen fertiggestellt haben, muß die alle lVmnowitzbrücke abgebrochen und der Tunnel der Untergrundbahn in die Spree gesenkt werden, bis sich die neue Brücke über die Spree spannen kann— und solange wird die Notbrücke gute Dienst« leisten.
Verkehrsunterricht. In den Straßen Berlins begann gestern der eigenartigste Schul, Unterricht, den die Berliner j««riebt haben. Sie sollen»richtig lausen" lernen. 2 Uhr nachmittag? bezogen die.Lehrer" der Ver- lehrswachr des ADAC ihr« Standplatz«. In allen großen Verkehrs- straßen wurde der Unterricht der Straßenpassanten ausgenommen. Plakate wiesen das Publikum daraus hin. daß es das»Lehrbuch" der Gehschule umsonst erhalten könne.. Linn eigentlichen Unterricht toinen die Lehrer am ersten Tage nicht, weil der Ansturm Bits die kleine Flugschrift zu groß war. Ausgehend von dem Gedanken, daß der Berliner sedcnsalls kein geduldiger Schüler sein wird, b« schrank) sich die Flugschrift daraus, nur die wichtigsten Stichmorke wisderzogeben. Was soll der Berliner nun lernen. Luuöchst einmal die Bedeutung der Signallampen. Die anderen not- wendigen Nenntnisse. die jeder braucht, um im Verkehr sicher zu sein, sind in 1k> Gebote zusaminengesaßt. Der Fußgänger wird darin ausgeklärt, wie und wo der Fahrdamm ohne Gefahr zu überschreiten ist. Gewarnt wird daoor. sich unnötig aus die Fahr- bahn der Straße.zu begeben. Beim Ueberschreiten eines Fahr- darmnes fall jeder rechts und links den Verkehr beobachten. Wer nur Isi Minuten lang den Fußgängerverkehr an den großen Der. kehrszemren beobachtet, weiß, wie notwendig solche Atisklärungs- arbeit ist. Wenn sie mit Energie fortgesetzt wind, kann sie gute
Erfolge verzeichnen. Wichtig wäre, daß die Zllisklärungsarbeik sich nicht mir darauf beschrankt, Flugichristen zu verbreiten. Vielleicht wäre auch eine praktische Anleitung niibt von der.Hand zu weilen. Llmsteigen auf die Stadtbahn! Das Ergebnis der ersten beiden Tage. An den ersten beiden Tagen des Bestehens der Umsteigemäglich- keit von den Stadt-, Ring- und Vorortbahnen auf die übrigen Berliner Derkehrsmittel machten— nach Mitteilung der Reichs- bahndirektion Berlin — je etwa 20 000 Personen von dieser Einrichtung Gebrauch. Am 1. Januar wurden auf den Stadt-, Ring- und Börorsbahnc» 10 503 Umsteigefahrschein« ausgegeben, während zur Stadtbahn 11102 Personen umstiegen. Für den 2. Januar ist ungefähr das gleiche Ergebnis zu verzeichnen: Aus der Stadtbahn wurden 10 331 Umsteigesahr- scheine ausgegeben, und die Zahl der zur Stadtbahn um- gestiegenen Personen, die noch nicht feststeht, dürste sich ähnlich ent- wickelt haben. Ein genaues Bild über den Umfang des Umsteige- Verkehrs wird sich jedoch erst ergeben, ivenn die Neuregelung längere Zeit besteht und sich eingespiell hat. Dielsach sind auch im Publikum die Borleile der neuen Maßnahmen noch nicht genügend bekannt oder erprobt.
Der Hauswirt nimmt Anstoß... Man schreibt uns: Noch besteht das Mieterschutzgsjejz, die Hausbesitzer aber rüste« sich bereits eifrig zur Wtedererobecung all ihrer alten Hauspascha- Herrlichkeiten. Nicht nur werden, wie in dem vor einigen Tage« gelchilderjen Fall, wegen unbeträchtlicher oder in Dirklrch.'eit gar nicht vorhandenen Mietsrückstände Rämnungsklagen eingereicht, es werden auch alle Register der aus alten, l/äsen Zeiten so wohlbekannten Schikanen gezogen. Familien mit kleinen Kindern wird plötzlich auch das Waschen der ftinderwäsche in der Küche unter- sagt,»bei Vermeidung sofortiger Räumungsklage". Was tut's, daß nach Auskunft des Mietseinigungsamtes der Per- mieter hierzu gar nicht berechtigt ist und die Ränmungsklaz« kein« Aussicht aus Erfolg hat. Der Herr Hauswirt hat seinen Zweck, die Beunruhigung des mißllebige» Mieters errxicht und ihm Zeit- und Geldverlust verursach». Parteien, die sahvelang mit Wissen des Herrn Hauswirtes einen Hund hielten, wird plötzlich anbeiohlen,»binne« acht Tagen bei Vermeidung sosorsiger Räumungsklage" den Hund abzuschotien— kurz, den Herren Hauswirten ist jedes Mittel recht, um mißliebige Mieter.zu schikanieren.»M i ß- liebig aber ist vor allem jeder, dar seine!3echie als Mieter wahrnimmt, vor allem von dem.Herrn heuswir, die Reparaturen verlangt, zu denen er verpflichtet ist. Des Rcutfie aus di ei em Gebiete ist der Hausbesitzer als Sittenpolizei. Die Mieterin eines Wilmersdorser Hauses erhielt kürzlich von dem Rechtsanwalt der Hauswirtin folgenden Brief: .Im Auftrage der Hausbesitzerin Frau Maerten untersag« ich Ihnen die Untervermietung an Herrn..... Sie stehen vi demselben in intimen Beziehungen. Meine Mandanitn und deren Familie nimmt daran Anstoß. Ich ersuche Sie, mir binnen drei Tagen zu bestätigen, daß Sie Herrn..... zum nächsten Termin. nämlich dem l. Januar 1023, kündigen und dafür Sorge tragen werden, daß er dos Haus nicht wieder betrill, andernfalls hin ich«rwächtigt, gegen Si« Räumungsklage einzureichen." Abgesehen von der unverichämien Form und drr souveränen Verachtung jeder noch vorhandenen Mieterschutzgeietzgebvnq. die aus diesen» Schreiben spricht, sind an diesem Fall noch einige Neben- umstände interessaift. Der Untermieter wohn nämlich bereits seit fünf Iahren in dem.haus,,utft> die.Hauswirtin sah sich erst veranlaßt, Anstoß zu nehmen, als die Mieterin van ihr durch ein» Klage die Vornahme dringend nötiger Reparatur- arbeiten erzwingen mußte. Das van dem.Anstoß erregenden" Mieter anerkannte.Kind der Frau T. ist jetzt bereits drei Jahre alt. und seine Existenz sowenig wie di« Vaterschaft S.... war weder der Hauswirtin, noch sonst einem Menschen auch der ent- serntesten Nachbarschaft verborgen— kurz, es Handel: sich um einen der in der Großstadt nicht seltenen Fälle eines freien Bundes zweier Menschen, die aus irgendwelchen Ursachen aus di« Legitimierung ihrer Beziehungen vorläufig Verzicht leisten. wüsten. Sollte hier wirklich mtt dieser Begründung eine Räumungsklage eingsreicht werden, so wäre ihr« Entscheidung von prinzipieller Bedeutung nicht nur darüber, w i e weit dem Hauewirt das Recht aus Sittenkontrvlle seiner Mieter zusteht. sondern auch sür alle Fragen, die mit dem Komplex der sogenannten „freien Ehe" zusammenhängen. Dan den Wohlfahrtsämtern sowohl wie von der Arbeftslosenunterstützung wird aus Antrag nicht nur das uneheliche Kind, sondern auch die mcht standesamtlich ver- bunden« Lebernsgesährfin unterstützt. Es wäre darum äußerst unlogisch, all« dies« Menschen nun der Schikane oder der Erpresser- »altif machiliifterner Hauswirt« auszuliefern, und es steht zu hoffen, daß die Gerichte endlich darauf verzichten, io offensichtlich nur aus Schikane erhobenen Räumungsklagen stattzugeben. Eine verspäleke Silveflerschießerei brachte vorgestern einen Kaufmann Walfgang M. aus der Stcinstraß« in Steglitz in Gefahr. Ais er gegen 7 Uhr seine Wohnung fast erreicht hafte, schaß vor dem Ncbenhause ein junger Bursche mit einem Terze- ral hemm, well er wohl aus der Neujahrsnacht noch Patronen übrigbehalten hatte. Der Kaufmann wurde an der Kniescheibe ge- trossen und mußte sich auf der nächsten Rettungsstell« verbinden lasten. Zum Glück war das Geschoß nicht weit eingedrungen, so daß die Verletzung nicht schwer ist. Der Jung« lies davon und ist noch nicht«rmfteilt.
SOs
�Zeruent. fXotnan von Fsodor Gladtow.
Während eines Berichtes des Präsidenten des Partei- kmnttees üfcer die Arbeit der Gouvernementssektionen der Verwaltung für politische Erziehung sah ihn Schidkij mit freundlichem Lächeln an(und die Augen schimmerten dabei) und legte die Hand auf seine Finger. „Fürchtest du dich. Serjoga? Ja. ja, man wird's dir schon zeigen— halte dich." „Warum denn? Wofür? Ich fühle nichts, das einer Angst nur irgendwie ähnlich ist.— Als ob es irgendwo~ außerhalb von mir wäre, mich nichts anginge." „Macht nichts, Hab' keine Angst, wir werden dich schon verteidigen. Der Teufel ist nicht so schrecklich, wie man ihn sich vorstellt." Luchowa hockte wie gewöhnlich aus seinem Stuhl, das Kinn in die Knie gebohrt, und sprühte Funken aus Augen und Haaren. „Lügst. Sichkij: du hast selber Angst vor dieser Reinigung. Und auchjch habe Angst. Vor nichts habe ich Angst— nur daoor. Sergeij wird ausgeschlosien werden. Wo hast du die Kraft dem entgegenzutreten? Gewesener Menschewik... und Lenins Parole lautet: die Menschewiken— davonjagen." Schidkij schlug mit der Faust auf den Tisch und seine Nasenflügel blähten sich wie Blasen auf. „Er wird nicht ausgeschlossen werden. Warum nicht du, nicht ich, sondern— er? Was spricht dafür? Menschewik? Intellektueller...?- Das ist Unsinn... das ist kein Grund. ... Wir haben genug Möglichkeiten, zu protestieren, wenn das geschehen sollte. Die Kommission arbeitet scheußlich: man schließt wegen nichtiger, ganz fragwürdiger Gründe aus oder man schleift die Gründe an den Haaren herbei. Diese Woche sind schon vierzig Prozent der verantwortlichen Arbeiter und fast ebenso viele aus der Mitgliedschaft aus- geschlossen worden. Do ist zum Beispiel Schul ..'. ein Arbeiter... und der Grund: Rebell und deklassiertes Element." „Schuk?... Er ist ausgeschlossen?" Sergeij wandt« sich erstaunt zu Schidkij, es schien� aber, als ob er unabsichtlich so reagiere. Schidkij? Worte rührten ihn eigenllich nicht und waren fern und bedeutungslos. fiuchawa sagte, ihn unterbrechend, ruhig und ungewöhn- kich streng, mit einer offiziellen Nachlässigkeit:„Die Kom»
Mission ist nicht verpflichtet, Tatsachen mitzuteilen, und du hast nicht das Recht, dich hineinzumischen und ihre Arbeit zu kritisieren. Für die Ausgeschlossenen gibt es nur einen Weg— Einspruch zu erheben." „Gut, ober ich werde nicht ruhig zusehen, werde vor nichts zurückschrecken. Ich werde einen Wirbel bis zum AK hinauf machen. Der Mann, der jetzt die Reinigung vor- nimmt, versteht seine Arbeit nicht. Das führt nur zur Zer» störuntz der Organisation. Wir haben genug Gründe, um zu protestieren. Ich werde die Sache nicht so belasten.. Und wieder schlug er mit der Faust auf den Tisch und fluchte laut. Und Luchawa schüttelte den Kopf und steckte seine Nase zwischen die Knie.» „Esel... Dann wird man dich eben auch ausschließen oder dich versetzen. Im besten Fall dich zu irgendeiner unter- geordneten Arbeit degradieren..." „Bitte: ich habe davor keine Angst.. Und Sergeij bemerkte, daß auch Schidkij und Luchawa sich und ihn mit fieberhaften Augen, die vor schrecklichen Ahnungen brannten, ansahen. Und in der Frauengruppe konnte Polja, abgemagert, mit einer tiefen Qual in den Augen, nicht das Zittern ihrer Hände und das Zucken ihres Gesichtes unterdrücken. Dascha. festknochig und stark, faß etwas entfernt vom Tisch und schrieb mit ungeschickt-schwerer Hand irgendeinen Bericht. Sie sah weder Sergeij noch Mjechowa. Das geht es sie an, worüber sie sprechen und sich aufregen? Polja rief mit einer Handbewegung Sergeij und wies auf den Stuhl ihr gegenüber. Sah ihn an, dann Dascha, sah aus dem Fenster und konnte das nervöse Zittern ihres Gc» sichtes und ihrer Hände nicht zurückhalten. „Sergeij, kennst du dich vielleicht aus in all dem, was ießt vorgeht? Ich bin ganz verrückt geworden. Dascha ver- steht mich nicht mehr: sie ist so grob geworden und spricht mit mir nicht mehr so— wie sie früher gesprochen hat. Ich fühle, daß ich aus der Partei ausgeschlosten werde, Sergeij." Dascho schwieg, hörte nicht zu. was Polja sagte. Auch Sergeij schwieg: er wußte nicht, was chr erwidern. Er wollte leise und behutsam ihre Seele berühren, fand aber die notwendigen herzlichen Worte nicht. „Ich werde dort sagen, was ich sehe und fühle. Verstehst du?... und man wird mich ausschließen... Das. was vorgeht, was geschieht... was mich und die Revolution zer- fleischt... Ich kann nicht lüge».. Dascha pflügte mit der Feder das Papier, angestrengt und mühevoll nahm sie die rechte Hand vom Tisch und hob
den Kopf. Unter der trotzig-gewölbten Stirn, die mit dem roien Tuch test verbunden war, zuckten ihr« Brauen hoch über der Nase. „Also was ist eigentlich geschehen, Genossin Msechowa? Ich sehe in meiner Dummheit nichts... Die Arbeit in der Frauenorganisation geht bester, und wir Frauen haben ge- lernt, an der gemeinsamen Front unsere Sacksie bester als die Männer zu verteidigen. Was also ist da Fürchterliches ge- schehen, Genossin Mjechowa?" Polja zuckte unter Daschas Stimme zusammen und sprang auf. „Wie wagst du nur, so zu sprechen? Du weißt nicht, was geschehen ist, nein?... Du weiht nicht, daß ein Meer von Arbeiter- und Rotarmistenblut... ein Meer... hörst du, Dascba?... ein Meer von Blut oergosten wurde, nur damit aus oieser Erde, die vom Blut noch nicht trocken ist, Markte, Cascis und Tingeltangels sich brest machen... damit alles in einen schmutzigen Haufen zusammengeworfen wird?... Du weißt das nicht?... Nein?..." Sergeij hatte noch nie Polja in solcher Erregung gesehen. Ihr Gesicht war das einer Besestenen. das ganze Blut ergoß sich in ihr, und Schweißtröpfchen bedeckten wie Tau ihre Stirn und Oberlippe, und ihre Augen waren trocken und trüb. Dascha bückte sich wieder über das Papier und lächelt« ein verstehendes, herablassendes Lächeln. „Und ich dachte— daß... Glaubst du wirklich, Ge- nossin Mjechowa, daß alle außer dir nur Dummköpf« und Tölpel sind?" „Ja. ja!... Dummköpfe!... Berröter!... Feig- linge!..." Und plötzlich wurde sie still und lächelte Sergeij kläglich an, hob die Hände zu den Augen und weinte. „Warum bin ich nicht damals gestorben... Damals, in jenen Tagen... in den Straßen Moskaus ... oder in der Armee?... Wozu muß ich diese quolooll-schänblichen Tage erleben, liebe Genosten?" Sergeijs Gesicht zittert« unter einem Lächeln, das er nicht zurückhalten konnte, und es gelang ihm nicht, die ganze Luft, die in seinen Lungen war. auszuatmen. Seine Lippen hüpften, als ob sie nicht ihm gehörten, und i» seinen Augen zeZchmölz Polja, zerschmolz das Fenster, zerschmolzen hie Wände und verwandelten sich in einen dichten, molkigen leig. Wahrscheinlich war er müde. Wahrscheinlich kann er fremd« Tränen nicht ertragen. Wahrscheinlich hatte Polja, damals in der Nacht, feine letzten Kräfte genommen, als sie� tat vor Schrecken, gebrochen durch die tierische Kraft Dadjins. zu ihm in sein Zimmer hereingestürzt ta»- lFortsetzung folgt.)