Nr. 257.
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Vorwärts
12. Jahrg.
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Redaktion: SW. 19, Beuth- Straße 2.
Tendenzprozesse.
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Sonnabend, den 2. November 1895. Expedition: SW. 19, Beuth- Straße 3:
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licher Entscheidung kann daher auch nur die Form und Absicht| stehend betrachtet hat. Indes warten wir ab, ob u und je schwieriger es ist, den Juhalt hierbei zu welche Rechtsgründe" es hiergegen auführen wird. Jm Kameel- Inschrifts Prozeß wider Genossen Dierl, sondern, um so strenger wird für den Richter Mag das schließliche Schicksal des Prozesses wider Dier! Pfund und Rautmann ist zum ersten Mal in rückhaltsloser die Verpflichtung sein, sich selbst zu über- und Genossen werden, welch' immer es wolle, ihre Vers und dankenswerther Offenheit von der Anklagebehörde und wachen, damit die Selbständigkeit und Un urtheilung hätte nicht erfolgen können, wenn nicht zu vom Gericht der Grundsatz klargelegt, daß die politische a bhängigkeit seines Urtheils vor dem Ein einem ausschlaggebenden Faktor bei der Rechtsprechung Tendenz der Angeklagten und des von ihnen gezeichneten fluß seiner eigenen Ueberzeugung gewahrt die politische Tendenz der Angeklagten geworden wäre. Blattes für die Frage: obschuldig oder unschuldig? werde." Diese Art der Urtheilsfindung fonnte sich aber nur einmaßgebend sei. So urtheilte ein Gericht eines absoluten Rönig- bürgern und kann in Zukunft in ähnlichen Prozessen nur Würde diese Auffassung allgemein gültige Praxis, so reiches. Heute hat die Rechtsprechung in der so- Eingang finden, falls und soweit die der Sozial wäre damit erreicht, daß die Rechtsprechung in Preußen genannten konftitutionellen Monarchie im Kameel- Fuschrifts- demokratie entgegenstehenden Parteien glauben, der Sozialsich von dem für jeden Kulturstaat selbstverständlichen Prozeß mit nicht mißzuverstehender Deutlichkeit sich von demokratie gegenüber sei jedes Mittel erlaubt, ihnen selbst Satz entfernt hätte, welcher sagt: vor dem Gesetz ist diesen Grundsätzen losgelöst. Der Staatsanwalt hebt hervor, gegenüber würde es aber hoffentlich nicht zur Anwendung jeder gleich, um die politische Tendenz hat sich der Richter die Tendenz des Vorwärts" beweise die Schuld. Wir gelangen. im Gegensatz zum Verwaltungsbeamten nicht zu kümmern. staatserhaltende Parteien" betrachteten die vom Vorwärts" Die offenere Zulassung von Tendenzprozessen für die Die angebliche Tendenz des Vorwärts" über welche fritisirten Worte des Monarchen als Erlösung". Der Vor Zukunft, die demnächst vielleicht immer unverhüllter sich auerdings nicht einmal Beweis erhoben ist ist das sitzende des Gerichts hält es für sein Recht, vor der Beweis offenbarende Folge unserer Gesetzgebung, daß vicle Leitende für die Begründung der Schuldfrage im Kameel- aufnahme sein Urtheil dahin abzugeben, daß der Vor- Gerichte lediglich zu ausübenden Organen der Wünsche Juschrifts- Prozeß nach den eigenen Aeußerungen des Ersten wärts" und das ,, Volksblatt"" Artifel gebracht haben, welche einer Verwaltungsbehörde herausbilden, führt allmälig, Staatsanwalts und des Gerichts gewesen. Nicht mehr unter Verlegung der heiligsten Gefühle des deutschen aber sicher zur Untergrabung des Autoritätsglaubens gälte darnach fürderhin der Grundsatz: der Richter Volkes und des jetzigen Herrschers diese Feier in under indifferenten Menge. Durch die Entwickelung der hat ohne Ansehen der Person nur nach Lage würdig ster Weise besprechen und dagegen pro Tendenzprozesse würde also ein jedes Mittel, das unsere Der Sache zu entscheiden. An seine Stelle träte te stiren u. s. w." Statt der nach§ 136 der Straf Gegner uns gegenüber anwenden wollen, zur Untergrabung der neue Grundsatz: der Richter hat ohne Rücksicht Prozeßordnung an die Angeklagten zu richtenden Frage, des Vertrauens auf die bestehende Gesellschaftsordnung auf die Sachlage lediglich unter Berücksichtigung der ob sie auf die Anschuldigung des Anklagebeschlusses führen. Die Vertheidiger des bestehenden Zustandes unter politischen Stellung des Angeklagten zu entscheiden. etwas erwidern wollen, erklärt er den Angeklagten gegenüber: graben ihn selbst. Hat dieser neueste, offen proklamirte Grundsatz Aus- Sie müssen doch unzweifelhaft gewußt haben" ficht, Gemeingut der deutschen Rechtsprechung zu werden? u. s. w., der Artikel zeigt doch einen Stil, den eigentlich Bor mehr als 50 Jahren sprach im absoluten fein gebildeter Mensch bei solchem Anlaß in Anwendung Bur proletarischen Königreich Preußen das Stammergericht, dem damals bringen wird, der vielmehr die Absicht kennzeichnet, dieses Frauenbewegung in England. fein ehemaliger Staatsanwalt angehören konnte, folgende Fest... zu verhöhnen und schlecht zu machen, wie das verständige Grundsäße aus, die jeder unterschreiben muß, lia immer, was den Staat betrifft, täglich vom London , 29. Oft.( Eig. Bericht.) der das Menschenrecht eines jeten auf Meinungsfreiheit Vorwärts" geschieht, lediglich um die BeIn London spielt sich seit etlichen Tagen eine Art Streik und auf Bethätigung seiner politischen Gesinnung für etwas völkerungsklassen gegenseitig zu verheten" n. s. w. Firma Lyons u Komp. ab. Diese Firma, zu deren Direktoren die von Aufwärterinnen, bezw. Kellnerinnen der zur Kulturentwickelung Nothwendiges erachtet. Das Kammer- Im Namen des Gerichts verkündet der Vorsitzende dann als Herren Salmon u. Glückstein, die Loefer u. Wolff von London , gericht erklärte: Urtheilsgründe: ,, Bei Beurtheilung der Artikel muß manfragen: gehören, hat an verschiedenen Stellen Inner Londons ziem Ob die politische Ansicht des Jukulpaten eine be- wer hat diese Artikel geschrieben und welche Tendenz lich elegant ausgestattete Erfrischungsräume ein Mittel gründete ist, hierüber zu urtheilen, geziemt dem haben diese Zeitungen?" ding zwischen Café und Restauration- aufgemacht, die Richter nicht. Prinzipienfragen der Politik, Grund- Derselbe Vorsitzende unterschrieb vor 1/2 Jahren ein dem Publikum zu volksthümlichen Preisen" aristokratische Mit anderen Worten, sätze des öffentlichen Rechts, Erörterungen über Ge- Urtheil, in dem ausgesprochen wurde: selbstverständlich sei( high class") Genüsse darbieten. ein Konkurrenzunternehmen der schon längere Zeit be diegenheit oder Berwerflichkeit von Staatseinrichtungen bei Beurtheilung der Schuld frage nicht auf die politische in Ronkurrenzunternehmen der ſtehenden Aerated Bread Company, die mit ähnlichen und Verfassungen können nicht Gegenstand richterlicher Tendenz der Angeklagten Rücksicht genommen. Allerdings Etablissements ein blühendes Geschäft macht. Aber die fetten Entscheidung werden. Erörterungen der Art vor 2/2 Jahren bat abermals derselbe Borsigende die Schuld Dividenden dieser Firma haben nicht verhindert, daß die Löhnung gehören einem Gebiet an, von dem die richter eines Breßinders aus der sozialdemokratischen Tendenz des der„ A.- B.- E.- Mädchen", wie das Publikum in Hinblick auf die liche Wirksamkeit ausgeschlossen ist und Vorwärts" gefolgert. Dasselbe geschah in dem vorlegten Prozeß Anfangsbuchstaben der Gesellschaft die Kellnerinnen derselben deshalb sich fern halten muß. Sie findet wider Genossen Dierl. Kurz vor diesem letterwähnten Prozeß nennt, eine recht magere iſt, und ebenso ward von Anfang an ibre natürliche und gesetzliche Begrenzung in der wider Diert hatte Reichsgerichtsrath Stenglein dafür über die schlechten Lohnbedingungen bei Lyons u. Komp. ge= Ephäre des positiven Rechts, über Meinungen plädirt, daß durch die Gesetzgebung die Tendenz des flagt. Anfangs dieser Woche nun ist von der legtgenannten der Politik hat sie sich jedes Urtheils zu Thäters zu einem ausschlaggebenden Faktor für die Schuld weiter herabfekt, statt 5 pet. Verkaufsprovision sollen die Firma eine Verfügung Firma eine Verfügung ergangen, die die Löhne noch enthalten. Die Meinung als solche ist kein Ver- frage gemacht werden solle. Würde das Reichsgericht Kellnerinnen nur noch 21/2 pet. erhalten. Allerdings heißt es, brechen. Sie kann nur strafbar werden durch die Form, selbst die Anschauung seines Mitglieds adoptiren, so würde die Verfügung gelte nur für die Anfängerinnen, die älteren und in welcher sie in die Deffentlichkeit tritt und durch die Ab es ja das Urtheil wider Dierl und Genossen aufheben, bewährten Angestellten würden nicht von ihr betroffen. Aber in ficht, die bei der Veröffentlichung vorwaltet. Vorwurf richter- das den erst einzuführenden Rechtsgrundsatz als schon be- der Praxis scheint man die Grenze ganz eigenthümlich nach der Haben Sie die Aeußerungen des Hilfslehrers über die Geistlichkeit und über die Kirche gehört oder nicht?
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Ein Verrückter.[ Machdr. verboten. Kampf und Ende eines Lehrera Roman von Joseph Ruederer. Haben Sie auch die den königlichen Beamtenstand so schiver verletzende Aeußerung gehört?" „ Ja freili, freili," sagte Kreittmayer und wollte noch einige Klagen über das trostlose Verhältniß zwischen dem Lehrer und dem Benefiziaten loslassen. Hier unterbrach ihn aber der Beamte und forderte den Lehrer auf, diesen Anschuldigungen zu erwidern.
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Noch stärker zerzauste der Bauer seinen Hut: " Wissen S', Herr Assessor, es is halt scho zwölf Tag her... so g'nau b'sinu' i mi a nimmer! G'stritten haben i' halt, der Lehrer und der Herr Förster ... und i moan, es hat a jeder sei Theil triagt."
„ Sie müssen aber doch sagen können, ob von seiten des Lehrers Worte gefallen sind, die Ihr religiöses Gefühl verletzt haben?"
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" Darf ich mir eine Bemerkung erlauben, Herr Assessor?" sagte der Benefiziat. Dieser Mann hier ist leider einer Gattl that es Punkt für Punkt. Er hatte zwar zu jener Menschen in unserer Gemeinde, die ihre Pflichten gegen fämpfen, um sich zu beherrschen, weil ihn die schamlosen Gott in unverantwortlicher Weise vernachlässigen, darum Lügen und Entstellungen start erregten, gewann aber doch wird er auf eine solche Frage nicht antworten können." so viel Herrschaft über sich, daß er klar und deutlich reden ,, Ach so," sagte der Assessor mit leichtem Stirnrunzeln fonnte. Sein gereiztes Wesen am Tage des Streites gab und wandte sich nun wieder zu dem Bauern. Wörtlich er zu und begründete es mit der Beerdigung der Försterin; wiederholte er ihm die Behauptungen des Wirthes. Poiten die anderen Auflagen aber wies er als nichtswürdige sollte ja oder nein sagen, ob er das im Wirthshause gehört Verzerrungen seiner Worte zurück und berief sich auf seine habe. Beugen.
Während der Lehrer sprach, puhte der Assessor die Gläser des Kneifers und richtete seine Augen, die jetzt ganz matt und erloschen schienen, zu dem vor ihm stehenden zitternden Manne empor. Er ließ ihn ausreden, ohne eine Zwischenfrage zu stellen, und winkte dann die Bauern herbei:
Ihr wißt jetzt genau, um was es sich handelt. Nun sagen Sie mir einmal" er deutete auf Poiten er deutete auf Poiten- ,, was tönnen Sie über die Sache sagen?"
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Boiten hob die Brust heraus und zupfte verlegen einige Filzfasern von seinem Hute herab:
moan halt, es werd net so g'fährli g'wen sein", stotterte er.
Statt dessen kragte sich der Bauer in den Haaren und fagte in gleichem Tone wie zuvor:
woaß nimma, es fan halt scho zwölf Tag her." Es ist gut", schrie der Assessor wüthend und nahm Straßuer vor. Hier war das Ergebniß noch schlechter. Der Zeuge brummte, man habe ihn holen lassen, damit er Aussagen machen solle, aber er wisse nichts, denn er hätte kaum zu gehört, als sich der Lehrer und der Förster am Nebentische stritten.
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Nach allen Seiten wiegte der Bauer seinen dicken Schädel und fah stumpfsinnig vor sich hin. Ein stechender Blick des Benefiziaten machte ihn noch verwirrter:
" I bin überhaupts so spät kommen," begann er endlich, daß i..., daß i gar niy mehr von dem Spektakel g'sehen hab erst de andern hab'n mir nachher g'sagt, daß was zwischen m' Lehrer und' m Förster g'wesen is, aber i selber, i hab..."
„ Sie wissen also auch nichts?" " Na, Herr Assessor."
Vielleicht wißt ihr auch alle drei nimmer, daß Euch der Förster Baueruluder, verfluchte" g'heißen hat," rief der Lehrer, dem das Blut zu Kopfe stieg.
Die Bauern drehten sich gegenseitig ihre verdußten Gesichter zu und sahen sich groß an.
" Ich mache Sie zum letzten Wale aufmerksam, daß Sie ungefragt nichts zu reden haben," fuhr der Assessor heraus. Im übrigen gehörte eine solche Aeußerung, wenn sie wirk lich gefallen wäre, gar nicht zur Sache."
Wenn ich' n Augenblick um's Wort bitten derft," erhob sich der Förster. I möcht' nämlich nur konstatiren," fuhr er fort, als er die Zustimmung erhalten hatte, daß meine Wort' ganz anders g'moant war'n und eigentli nur so' n harmlos'n Scherz bedeut' hab'n. Der Kreittmayer werd's bezeugen. Es fallt mir net ein, an Bauern zu be= leidigen, denn i halt sehr viel von dem Stand, weil i selber d'raus vorgangen bin. Darauf bin i stolz. manch'smal an Witz macht, oder a weng rauh is, des is was anders, und übrigens"-- er hob die Stimme- hab i so was ähnlich's a nur g'sagt, weil die Bauern im Zuletzt kam Eigenberger. Ihn nahm der Geistliche, Wirthshaus alle g'lacht hab'n, als der Herr Lehrer de der unbeweglich wie eine Wachsfigur auf seinem Stuhle Beamten Kameler g'hoaßen hat." saß, noch schärfer ins Auge als die zuerst Vernommenen. Auch der Assessor firirte ihn mit strengen Blicken:
Förster, Benefiziat und Assessor sahen sich erstaunt an. Sie sind schon ein alter Bekannter des Bezirksamts Was soll das heißen?" rief der Beamte, reden Gie und des Gerichts! Daß Sie mir unter allen Umständen bei deutlicher und geben Sie Antwort auf meine Fragen. der Wahrheit bleiben!"
" Das hat natürlich auch keiner von Euch gehört?" fragte der Assessor vorwurfsvoll und schlug sich leicht auf den Oberschenkel.
" Ja. Tes b'sinn i mi no", ftotterte Eigenberger, da bin i grad' reinkomma in d' Gaftstub'n."