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Rr. 31 45. Jahrgang.

1. Beilage des Vorwärts

Donnerstag, 19. Januar 1928

Die Menschenfallen in Charlottenburg .

Räumung der gefährdeten Wohnungen auf Veranlassung des Polizeipräsidenten. Sperrung der Hebbelstraße für Schwerfuhrwerksverkehr.

Das Polizeipräsidium teilt mit: Polizeipräsident 3ör­giebel hat am gestrigen Mittwoch nach einer Besichtigung der ge­fährdeten Häuser in der Fritsche- und Hebbelstraße in Charloffen­burg, insbesondere des Hauses Hebbelstraße 17 angeordnet, daß zu nächst die beiden am meisten gefährdeten Wohnun­nächst die beiden am meisten gefährdeten Wohnun gen in der 3. und 4. Etage polizeilich geräumt wet­den. Außerdem verfügte der Polizeipräsident die Sperrung diefes Teiles der Hebbelstraße für den Berkehr mit Caftfahrzeugen, durch den ständig Erschütterungen an den gefährdeten Häufern hervorgerufen werden.

Der Bolizeipräsident besichtigte sämtliche Wohnungen und vor allem überzeugte er sich durch eigene Inaugenscheinnahme, inwieweit der gegenwärtige fürchterliche Zustand der Räume noch eine weitere Bewohnbarkeit verantwortlich erscheinen

Khmer W

Die Wüstenei auf dem Hofe Hebbelstr. 17/18. Tafie. Die Mieter gaben ihrer Freude Ausbrud, daß der Polizei profibent persönlich eingreife und machten ihn auf die hauptsäch lichsten Schäden aufmerksam, mobei sie die Bitte aussprachen, daß enblich dem unerträglichen Zustande ein Ende gemacht und für Ab­hilfe gesorgt werde. Die Ausführungen der Mieter wurden dadurch auf das Nachhaltigfte unterstützt, daß während der Besichtigung ber oberen Räume durch den Polizeipräsidenten fich plöglich ein großes Stüd des Dedenpuges loslöste und her unterfiel, so daß die Bewohner dem Polizeipräsidenten vor Augen führen fonnten, welche Gefahr das Wohnen in diesem Hause bebeutet. Während der Polizeipräsident erkennen sich, daß den Mietern dieser Räume ein langeres Bohnen in dem Hause nicht zugemutet werben tönne, vertrat Oberbaurat Fischer nach wie vor den Standpuntt, daß das Loslöfen des Studs nicht auf die Funda­mentfentungen, sondern auf die schlechte Beschaffenheit der Balken­tonftruttion zurückzuführen sei und teine atute Gefahr für die Mieter vorliege. Die bedrohten Häuser befinden sich im übrigen nicht in städtischen, fondern in Privatbesig und die Baupolizei hat eingegriffen, weil es dem Hausbefizer nicht möglich ist, die hohen Roften für die Refonstruktionsarbeiten infolge des niebrigen Miets­ertrages aufzubringen. Durch die Maßnahme des Bolizeipräsidenten brauchen die von der Räumung betroffenen Mieter, denen vom Bohnungsamt neue Räumlichkeiten zur Verfügung geftellt werden müffen, nicht mehr, wie sonst, die Miete bis zum Ablauf des Miets vertrages zu zahlen. Auf dem Charlottenburger Wohnungsamt erschien im Laufe des Tages eine Deputation der Mieter, die sich ebenfalls dafür einfeßte, daß den Bewohnern der Häufer Hebbel ftraße 17/18 alsbald neue Wohnungen zugewiesen werden.

der

ein

Diese wie Menschenfallen anmutenden Häuser im Bezirk Charlottenburg stehen auf Moorgrund , fie schwimmen auf trägen Maffe, fie fchwanken, fie drohen zuftürzen. Die Lüde der Spree , deren Lauf hier vor undentlichen Beiten einen anderen Weg zur Havel fand als heute, macht sich jetzt nach Jahrtausenden bemerkbar. Der fließende Arm der Spree ner­fanbete, Seen blieben zurück und fleine Teiche. Schlachtensee, Grunewaldfee tennzeichnen noch heute den alten Lauf der Spree . Und vor zwanzig Jahren lief übermütige Jugend noch auf dem Karpfenteich in der Gegend der heutigen Hebbelstraße Schlittschuhe. Wo einst Lachen, fröhliches Treiben, Jugendübermut beieinander waren, find heute Berzweiflung, Empörung und Furcht vor dem nächsten Tag getreten.

Fahrlässigkeit.

Berlin dehnte fich, die Vorstädte wuchsen und immer schmaler murde der freie Raum der Feldgemartung, der die dicht zusammen­liegenden Dörfer und Städte voneinander trennte. Feld und Wald wurden tostbarer Baugrund, dessen Wert in dem Maße sich steigerte, als neue Berkehrsmittel auf besseren Berkehrswegen die Bororte und Berlin miteinander verbanden. In dieser Zeit bekam auch der minderwertigfte Boden seine Bedeutung. Und fonnte es schlech teren Boden geben als den Moraft, der sich um den Karpfenteich herum und en jeiner Stelle selbst gebildet hatte? So fanden sich benn auch Baufirmen, die da glaubten, daß man auf fo fd; mantem Boden Großstadthäuser errichten fönne. Eines Tages rücten Ar­beiterkolonnen heran, Rammen wurden herbeigeschafft und Tausende Don Bfählen fanden den Weg in die Tiefe des Moorbodens. Die Bewohner der Umgegend, von denen die meisten feine Fachleute ouren, tamen aus dem Staunen nicht heraus. Sie sahen, wie unter ben wuchtigen Schlägen der Rammbären die Pfähle geradezu in die Liefe flogen. Selbst wenn so ein Pfahl noch etwa einen Meter über der moorigen Fläche herausragte, förderte jeder Schlag ihn noch um 20-25 Zentimeter. Ein Beweis dafür, daß die Spitze des Pfahles noch feinen festen Boden gefunden hatte. Ein Pfahl, der feiten Grund getroffen hat, zittert und schwingt unter den letzten Schlägen ber schweren Ramme. Aber die Fachleute glaubten, baß

es genüge, Pfähle in die Erde zu fenten, und vielleicht hatten sie| auch eine unflare Borstellung von schwimmenden Häusern, die auf einem fonderbaren Floß zu errichten waren. Vielleicht fagten fie Vielleicht sagten fie sich, daß, wenn Ozeanschiffe nicht untergehen, dann werden auch die Häuser bestehen bleiben. Immerhin, die ganze Arbeit erwies fich als ein schlechtes Geschäft: die völlig unzulänglichen Rammarbeiten erforderten dennoch einen Kostenaufwand, der die Baufirmen zu­fammenbrechen ließ. Mit Ach und Krach wurden dann die Häuser gebaut. Selbstverständlich hatten die Unternehmer die Genehmigung der Baupolizei erhalten, die Fachleute dieser Behörde glaubten eben falls, es verantworten zu können, zu den hier zu errichtenden Bauten ihre Zuftimmung zu geben. Soweit war alles gut. Alle Gutachten waren günstig, Baugenehmigungen waren erteilt, die Grundbücher in Ordnung, turzum auf dem Papier war alles, was zu einem guten Bau gehört, beleinander.

Riffe und Spalten.

Die Häuser fanden ihre Bewohner. Das war nicht verwunder lich; fie waren für jene Zeit tomfortabel und anständig gebaut und machten einen vorzüglichen Einbrud. Unter den Kellern der Häuser aber rumorten die Geister der Tiefe, die Urgeister des Spreetals maren lebendig, sie zogen an den Pfählen, fie ließen sie tiefer finten, andere packten sie an der Spitze und zogen an ihnen und zerrten, bis sie nicht mehr senkrecht, sondern wagerecht unter den Häusern lagen. Den Bewohnern wurde feltsam zumute, als sie die Folgen des unterirdischen Treibens bemerkten. Leise, fast unmerklich, be­gannen die Häuser zu schwanken. Der eine Seitenflügel legte sich etwas nach recht, der andere nach links, Türen ließen sich nicht mehr schließen, Fenster nicht mehr öffnen, aus hauchzarten Rissen wurden flaffende Spalten, von der Dede rieselte Staub und Buh nachts fielen Pugstücke auf die Schlafenden herunter, aus der Dunkelheit, scheinbar aus dem Nichts, kam dieses Bombardement. Die Teppiche, die Möbel, die Decken alles ift ewig mit einem weißen Staub bedeckt, ein ständiges Geriefel von Dede und Wand! Die Bewohner packt das Grauen, fie möchten heraus aus dem Unglückshaus. Täglich empfinden fie die Schräge des Fußbodens, die Neigung der Wände; mit Grauen fehen sie, wie aus den Riffen wahre Schluchten werben. Ihre Schreie um Hilfe bringen in die Deffentlichkeit.

Der Baumeister bleibt ungerührt.

Und wieder find die Behörden in Tätigkeit. Sie gehen jebody nach bem Buchstaben des Gefeßes. Man prüft, man füllt neue Uften, und jedem Bureaufraten lacht das Herz im Leibe. Baruin sollte es auch nicht: Reine Behörde ist im Grunde zuständig, eine beruft fidh immer auf die andere, und wohin fich die bedrängten Bewohner auch menben, fie erreichen nur, daß fich bie Aftenschränke füllen und daß man mit mehr oder weniger Höflichkeit und Gebulb ihre Klagen anhört. Endlich entschloß man fich auf das Antaten eines flugen Baumeisters, etwas Grundlegendes zu tun. Bor etwa einem halben Jahre begann dieser Baumeister, ein ausgezeichneter Spezialist für Säufer, die auf schwantem Grunde gebaut wurden, feine Maßnahmen zu treffen. Er besuchte die Mieter, befah sich die Riffe in den Wohnungen, betrachtete die schiefen Fußböden, die schrägen Bände und erflärte bann lachend, daß er alles in Ordnung bringen werde. Schächte wurden in den Boden getrieben, die Seiten flügel, die sich geneigt hatten, wurden durch schwere Ballen abge steift, über den Hof hinweg wurden Bersteifungen gespannt. Das Haus Hebbelstraße 17/18 bekam das Ausfehen einer Ruine, deren fümmerliche Reite mühselig erhalten werden. Wenn die Bewohner nun glaubten, daß es jetzt beffer würde, so toar das ein Irrtum. Das Geriefel von Decken und Wänden wurde ärger, die Wände ent­fernten fich mehr denn je noneinander, man hat das zweifelhafte Vergnügen, von einem Stockwert ins andere blicken zu fönnen, elet trische Leitungen werden bloßgelegt, an den Gasleitungen zerrt das Mauerwert: die Gaswerte frerren die Gasbelieferung ab, die Woh nungen werden zu wahren Höhlenquartieren. Der tluge Baumeister aber ist in feine Idee verliebt, er gibt nichts auf die Klagen und Beobachtungen der Mieter, und allen Behörden erklärt er, daß er bis heute die Berantwortung für das Gebäude übernehmen tönne. Bohlgemerft: nur bis heute. Wer aber übernimmt die Berantwor­

Eiserne I- Stützen haben sich unter dem Druck

der sinkenden Häuser wie Drähte gebogen. fung, wenn das Gebäude morgen zusammenstürzt? Jene Menschen, die das Fundament begutachteten und den Hausbau zuließen, waren auch Fachleute, und sie hatten sich geiret. Auch sie tönnen ,, bis heute" die Berantwortung für ihre Arbeit übernehmen, denn bis heute ist noch fein Haus eingestürzt. Aber morger. wird vielleicht irgend jemand zufällig von herunterfallendem Bus oder von einer ein ftürzenden Decke erschlagen. Gestern stürzte eine riesige Puhmenge in einer Wohnung im dritten Stod gerade in dem Augenblid herunter, als ein fleines Kind die Stelle paffiert hatte, Bufall, daß der Steine nicht erschlagen wurde, 3ufall auch, daß eine alte Frau in dieser Wohnung durch herabstürzenden Bug ,, nur" blaue Fleden und einen füchtigen Schred davon trug. Der Aufenthalt in der Boh nung, die nicht mehr zu säubern ist, wird zu einer Quelle ständiger Beunruhigung. Die Nerven der Mieter find bis zum äußersten ge­spannt; fie fürchten jeden Tag bie hereinbrechende Ratastrophe. I

- Teilweise

-

Benn ein Dfen geheizt mird, find alle Wohnungen von Kohlenornd gas erfüllt, aber die Gesundheitspolizei hat hierin noch ,, feine diretie" Gefahr erbliden fönnen, fie stützt sich auf das Gutachten des klugen Baumeisters, der bis heute" für die Sicherheit des Gebäudes garan­tiert... Wenn schwere Wagen die Straße passieren, dann schwingen alle Möbel und man befürchtet in jedem Augenblick die Statastrophe!

So sieht es im Innern der Wohnungen aus.

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Das Bezirksamt steht auf seiten der Mieter. Es gibt sich alle erdenkliche Mühe, für alle diejenigen, die ausziehen wollen, neue Wohnungen zu beschaffen. Wir wollen hoffen, daß diese Bemühun gen bald Erfolg haben. Natürlich müssen hier die Bewohner mit gerichtlichen Scherereien rechnen, falls fie ohne Einhaltung ihres Mietfontrattes ziehen wollen. Und der Hauswirt wird versuchen, an Rapital zu retten, was zu retten ift. In normalen Seiten stände jein Haus längst leer und verlaffen, es gäbe für ihn nur eine Möglich feit, es auf Abbruch zu verkaufen. Die Wohnungsnot hat hier geradezu parabare Zustände erzeugt, Zustände, die auf die Dauer nicht mehr haltbar find. Das Haus ebbelstraße 17/18 ist am meisten mitgenommen. Ein ftändiger Strom von Besuchern flutet auf den Hof, der eher einer Baugrube gleicht. Niemand hält es für möglich, daß in diefer Ruine noch Menschen wohnen. Man hört oft genug die Anficht äußern, daß die Behörden sicherlich bereit wären, Beerdigungs- und Umzugstoften zu übernehmen, menn ein Zusammensturz der Ruine Opfern fordern würde. Bäre es nicht besser, vorbeugend zu wirken? Guter Mille läßt zweifellos neue Quartiere finden. Das Bernünftigste wäre, das ganze Biertel abzureißen und hier eine Grünanlage zu schaffen. Die mietrechtlichen Fragen wären durch einwandfreie Gut­achten der zuständigen Behörden schnell zu lösen. Man darf nicht vergeffen, daß es sich in erster Linie um Menschenleben und dann erst um Geldsummen handelt.

Wo blieb die Aufsichtsbehörde?

Bon einem Anwohner erhalten wir aus Charlottenburg eine 3uschrift, der wir folgendes entnehmen:

Mer den Zustand der Häuser aus eigener Anschauung fennt, wundert sich darüber, daß die Baupolizei nicht schon früher die so­fortige Räumung verfügt hat. Die Einwohner schwebten buchstäblich Tag und Nacht in Lebensgefahr, jedenfalls ist kaum ein Unterschied festzustellen zwischen dem Zustand des durch die Explosion eingestürzten Hauses in der Landsberger Allee und den Häusern in der Hebbelstraße. Dort ordnete die Baupolizei erfreulicherweise die fofortige Räumung an, in Charlottenburg aber schweben die Be­wohner ständig zwischen Himmel und Erde. Wenn jemand einen Schaufaften, ein Firmenfchild oder die geringfügigste Aenderung an einem Hause vornehmen will, hat er umfangreiche Scherereien mit der Baupolizei zu bestehen. Schaufästen und Firmenschilder dürfen ein ganz bestimmtes Maß nicht überschreiten, weil sich nach der Meinung der Baupolizei fonit jemand den Kopf einrennen fönnte. Sobald der für ein Grundstüd bestimmte zu umbauende Raum mirf­lich bebaut ist, darf auch nicht ein Mülltasten mehr aufgestellt werben. In Charlottenburg aber behilft sich die Baupolizei mit den fonderbarsten Rettungsmaßnahmen. Die vielen Taufende von Mark, bie man bisher schon zur Erhaltung der Häuser aufgewandt hat, hätten besser dazu Berwendung gefunden, den Mietern Entschädigun­gen zu zahlen und sie in anderen Häusern unterzubringen. In Not­fällen finden doch die Bewohner zu räumender Häuser zum Glüc immer noch neue Intertunft, wie das bet den abgerissenen Häusern am Alerander- und Hermannplab und am Rottbusser Tor auch der Fall war. Mit den in Charlottenburg angewandten Methoden hilft man lediglich den Privathausbefizern und den dahinterstehenden Banten ihr Eigentum erhalten. Merkwürdig ist überhaupt, daß vor dem Kriege dieses Sumpfgelände zur Bebauung freigegeben wurde. Man hat aber gewissen Bauunternehmern forglos die Genehmigung erteilt, auf dem vorhandenen Sumpf: und Moorboden Häufer zu errichten, ohne daß diese Rücksicht darauf nahmen, wie lange die Häuser bewohnbar bleiben werden. Jetzt hat die Stadt und damit die Algemeinheit den Schaden zu tragen.

Eine schöne Feier war die Bannerweihe der 23. Ab= teilung in den Pharusfälen. Für den erkrankten Genossen Leib hielt Genosse Künstler die Weihrebe. In flammenden Worten wies er auf die kommenden Wahlen hin, auf das Wahljahr der Arbeiterklasse. Alles müsse daran gesetzt werden, den Bürgerblod zu beseitigen. Erledigt müsse er werden, nicht nur für die nächste Legislaturperiode, sondern für immer. Aus dem Wahlkampf follen, schloß er, unsere Banner fiegreich hervorgehen. Dann fiel von dem Banner der 23. Abteilung die Hülle. Stürmisch begrüßten die Genossen und Genossinnen bas Kampfpanier. Die Feier wurde von fünstlerischen Darbietungen umrahmt, bei denen u. a. Genoffin Lange mit Borträgen revolutio­närer Dichtungen, der Meinedeiche Männerchor und eine Mädchen­gruppe der Freien Turnerschaft mitwirkten. Der Abend brachte Aufnahmen neuer Mitglieder aus den an der Feier teibs nehmenden Gästen