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BERLIN Dienstag,

27. März

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Der Abend

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Spätausgabe des Vorwärts

45. Jahrgang.

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Das Geschäft mit einer Toten.

Am Grabe der Miß Cavell .

Der tägliche Film der Brüffeler Fremdenindustrie.- Vom Grabe zum Spitzengeschäft.

Strahlender Tag in Brüssel . Durch die mondäne Avenue Anspach, die pfeilgerade vom Nordbahnhof zum anderen Stadtteil hinunterläuft, spaziert Brüssels bürgerliche Welt, honette Herren, geputzte Damen. Es schwirrt um die Cafés, deren Tische beinahe bis zum Straßenrand heranreichen. Autoreihen sausen vorbei, ge­ordnet vom verkehrsbetreuenden belgischen Schupomann. Was er­innert noch an den Krieg? Denken diese fröhlichen Menschen noch an das Augustende des Jahres 1914, als hier les Gris", die grauen deutschen Soldaten, Regiment nach Regiment, einmarschierten und fich die Brüffeler ducten vor der llebermacht, im brütend- dumpfen Aufbegehren, in der Sorge um ihr Land? Nichts, gar nichts mehr gemahnt an die Zeit, da Brüssel ,, Etappe" war.

Da fällt, von den Hotels und den Aushängen der Reisebureaus, der Blick auf schwarze Tafeln. Hier sind die Preise für eine Auto­rundfahrt durch Brüssel angemerkt, und die großen, be­quemen Wagen laden die Fremden ein. Hingeschrieben mit hand­großen Kreidebuchstaben oder in fettestem Drud, springt eine Aufforderung immer wieder in die Augen:

" Zum Grabe der Miß Cavell!"

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Dort wollen wir hin! Im Auto beinahe nur Amerikaner und Engländer, Ladies mit Stöckelschuhen und Hornbrillen, die bei Fahrtbeginn alles ,, lovely", in jeder Hinsicht reizend, finden. Denn Brüssel zeigt seine schönsten Seiten: Den. Grand' Place , den riesigen Justizpalast mit dem unvergeßlichen Blick auf die untere Stadt, die breiten, gepflegten Boulevards. Der Führer gibt Erklärungen-, dann aber faust das Auto weit hinaus durch die Vorstädte, an die Peripherie der Stadt. Wir halten jäh vor einem großen Gebäude, seltsam in seinem aufgepußt neumodischen Stil, mit dem sich der militärische Sachzweck vermischt. Wir lefen an der Front:

,, Tir national."

Wir sind an dem Nationalen Schießplatz. Der Führer ruft mit Tauter Stimme: ,, Wir kommen jetzt zu dem Ort, wo Miß Cavell von den Deutschen erschossen und begraben wurde!" Es ist die große Sensation! Die Ladies und Gentlemen sprechen erregt miteinander, sie sehen ihre Photoapparate in Bofitur, fie drängen zum Eingang. Ehe man noch irgendetwas gesehen hat: schon ist eine Atmosphäre der Leidenschaften und des Hasses da, und man empfindet, daß die Erinnerung an das Schicksal der Miß Cavell geschickt ausgebeutete Gewohnheit und Methode geworden ist. Denn täglich fahren Duzende von Fremden autos hierher, täglich tommen Hunderte zu Miß Cavells Todesort...

Wir stehen in einem fahlen Raum mit zahlreichen Schieß­ständen. Die Scharten gehen auf einen umzäunten Plaz hinaus. Das Gras leuchtet im festlichen Grün. Der Führer zeigt die Stelle, auf der Miß Cavell angeblich gesessen hat, che sie die Kugeln der deutschen Soldaten trafen. Sie ist heldin, nichts als Heldin, um­gebracht von der germanischen Soldateska. Damen weinen und ziehen spizzenumrandete Taschentücher aus ihrem Handtäschchen. Sie blicken unverwandt auf den grünen Rasenfleck, falten die Hände vor einer großen marmornen Tafel, auf der, neben den Namen vieler erschossener Männer, auch der Miß Cavells verzeichnet steht....

Und was für Geschichten erzählen die Führer! Keine Blume vom Kriegslegendenkranz entgleitet ihnen, wenn sie vor diesen Besuchern sprechen. Wahres wird mit Falschem gemischt. Wir hören, daß zugleich mit Miß Cavell der Architekt Boucq, der Apothefer Severin, Fräulein Thulieg und die Gräfin Belleville verurteilt wurden. Das vom amerikanischen und spanischen Gesandten für die Cavell eingereichte Gnadengefuch wurde von General Sauberzweig abgelehnt, der es auch unterließ, die letzte Entscheidung des Kaisers anzurufen.. So erfolgte die Hinrichtung der beiden zum Tode Berurteilten, der Miß Cavell und des Boucq, am 12. Oftober 1915. Seltsame Geschichten weiß der Führer von den legten Etunden der Miß Cavell . Die deutschen Soldaten sollen sich geweigert haben, zu schießen, worauf der Offizier seinen Revolver gezogen und Miß Cavell felbst niedergeknallt habe. Oder: Miß Cavell sei in Ohnmacht gefallen, und in be­wußtlofem Zustand sei sie den Kugeln erlegen. Im vielerörterten englischen Film wird, nebenbei bemerkt, eine andere Mär wiedergegeben. Danach soll einer der Soldaten den Gehorsam ver weigert haben, worauf ein Offizier erst ihn und dann die Berurteilte niederfnallte. An alledem ist nichts wahr!

Es ging ganz ordnungsgemäß zu, ohne die geringste Subordination. Die. deutschen Soldaten schossen -fertig! Die Helferin der Miß Carell, Borsteherin eines medizini schen Instituts in Brüssel ", die mit ihr in Berbindung mehrpflichtige Franzosen und Belgier über die holländische Grenze schmuggelten,

Kappisten in der Reichsmarine.

Bericht über die heutige Reichstagssitzung 2 Seite.

Der neue Ozeanflug.

1167 BREMEN

Das Flugzeug ,, Bremen ", das auf der ersten Etappe des Ozeanfluges in Dublin ' gelandet ist.

Die deutschen Flieger wurden nach ihrem Eintreffen in Baldonel von Offizieren der irischen Luftstreitkräfte begrüßt, deren Gäste sie bis zum Start zum Atlantik - Flug sein werden. Die Flieger beabsichtigen bei günstigen Wetterbedingungen am Mitt woch zu ihrem Atlantik - Flug zu starten, jedoch werden sie die end gültige Entscheidung erst auf Grund der heutigen Wetterberichte treffen.

New Yort, 27. März.

Der Flug des Hauptmann a. D. Köhl erregt hier größtes Interesse. Dr. Kimball von der Amtlichen Wetterwarte erklärte, die Deutschen würden, falls sie den Transozeanflug in der jezigen Jahres­zeit unternehmen sollten, auf dieselben niedrigen Wolfen und niedri­

Die letzte photographische Aufnahme der Miß Cavell .

damit sie den Refrutendepots der Alliierten zustreben fonnten, sie erhielten mit Ausnahme des gleichfalls zum Tode verurteilten Boucq mehrjährige Zuchthausstrafen. Die Gräfin Jeanne de Belleville ist zwei Jahre später in einem deutschen Gefängnis gestorben.

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Zimmermann und das andere Geschlecht".

Etwas merkwürdiges erfährt man noch. Einige Tage nach dem Lode der Miß Cavell, der die ganze alliierte Welt in Aufruhr brachte, empfing Herr 3immermann, Unterstaatssekretär im Aus­ wärtigen Amt , einen amerikanischen Journalisten. Mit der eisernen Festigkeit des Heimtriegers, der bald zu höherem berufen werden sollte, erklärte er dem Ausfrager: ,, Das Urteil ist ausgeführt worden, um diejenigen abzuschrecken, die sich auf ihr Geschlecht berufen wollen, un an Unternehmungen teilzunehmen, auf die die Todesstrafe gesetzt ist."

gen Temperaturen, die teilweise unter dem Gefrierpunkt liegen, treffen wie Hinchcliffe. Obwohl zurzeit Meldungen über starte Stürme im Antlantik nicht vorliegen, würden die Deutschen , falls sie morgen ab­fliegen sollten, wahrscheinlich zwischen New York und Neufundland auf die jetzt im Mississippitale befindliche, sich in nordöstlicher Rich­tung bewegende Störung stoßen. Selbst wenn die Deutschen ihren Kurs 300 Meilen südlich der großen Verkehrsroute nehmen sollten, so würden sie sich doch nördlich der meisten Dampferstraßen befinden. Von Grandbanks wurde gestern abend eine Temperatur von minus 1 Grad Celsius, von St. Johns minus 4 Grad und von Cape Race minus 2 Grad gemeldet. Kimball erklärte ferner, er sei um Wetter­berichte bisher nicht ersucht worden.

Auf beiden Seiten hat man Frauen getötet. Am 20. August 1914 wurde in Antwerpen die Belgierin Julie van Wanterghem wegen angeblicher Spionage erschossen. Die Franzosen töteten die befannte Tänzerin Mata Hari , die die idealisierte Heldin eines deutschen Films geworden ist. Auf dem marmornen Monument der Miz Cavell liest man noch den Namen der Marie Depaŋe.

Kauft Cavell Andenken!"

Unser Rundgang durch ,, Tir National" ist zu Ende. Und nun entzündet sich das Bedürfnis, handgreifliche Andenken mitzunehmen. Da gibt es Miß- Cavell Andenken, Plaketten, Albums mit Photo­graphien, in verschiedenen Serien, zu allen Preislagen. Keiner, der nicht fauft! So geht es Tag um Tag. Tir National ist eine Kriegs­erinnerungsstätte geworden, ausgewertet von der Frem= denindustrie, die hier wie auf den belgischen Schlachtfeldern Sterbendes, Abklingendes wach und lebendig erhält. Autos nutzen sich ab, Benzin ist teuer! Das Gedenken an eine Frau, die den Mit: fämpfern ihres Vaterlandes dem Kriegsrecht zuwider Soldaten zu­führte und dafür, formgerecht nach dem Kriegsrecht und beklagens­wert nach dem Menschenrecht, den Lcd erlitt

Es muß sich verzinsen.

Das ist die Grimasse, die der Kapitalismus täglich über dem Grabe der Miß Cavell verübt. Diese Schau" der Brüffeler Fremdenautes mit ihren Hunderten von Besuchern, die programm­mäßig ihre Rundfahrt vor einem großen Brüsseler Spigengeschäft beenden, sind unendlich Tehr reicher, aber auch unendlich aufreizender als jeder Film.

Ist die Stunde, mit der man mit der Anfachung ,, patriotischer" Gefühle innen- wie außenpolitische Erfolge erzielen fonnte, in Belgien , in England und anderswo nicht allmählich zu Ende? Jene portrefflichen Engländer, die mit Chamberlain gegen den Miß- Cavell­Film ,, Down" Stellung nahmen, sollten bei der belgischen Regierung interpellieren, damit diese täglichen Programmfahrten mit firen

In der Tat: Man hat vor dem Geschlecht nicht Halt gemacht. Frankenpreisen zu Miß Cavells Ladesort ein Ende nehmen.

gb.