Nr. 154» 45. Jahrgang
1. Beilage des Vorwärts
Donnerstag, 29. März 1928
uleJte und \vsmcm
Allen Zeiten und den Menschen aller Erdteile und' aller Rassen ist immer ein gewisser Aberglaube eigen gewesen. Von der Kirche wurde er ebenso gepflegt wie oersoigt. Der modern« Mensch unserer Zeit, der viele Brücken hinter sich abgebrochen hat, trägt plötzlich wieder den Glauben an Amulette und Talismane zur Schau, und zwar ganz bewußt, er braucht einen Glückbringer in einer glücklosen Zeit, der ihm einen Halt für die verlorenen inneren Werte gibt. Aber wollte man einen solchen Menschen fragen, ob er abergläubig sei, so würde er entrüstet mit.Rem"' antworten. Auch der unbefangene Leser wird zugeben, daß trotz der weit- gehenden wissenschaftlichen AufNärung gerade in unserer Zeit Aber- glaube und Wunderglaube immer neue Blüten treiben. Di« katho- lischc Kirche trägt dieser Zeiteinstellung noch innner dadurch Rech- nung, daß sie Wundererscheinungeu anerkennt. Die Glückszeichen der Sportler, Spieler und Autler. In einem sehr zeitgemäßen fesselnden Werk.Amulette und Talisman«� von Elizabeth Villiers, neu bearbeitet von A. M. Pachinger(Drei-Masten-Derlog), find mit großem Fleiß olle die Dinge zusammengetragen, an die sich der Aberglauben alter Zeiten bis heut« knüpft. Wir möchten uns und unsere Leser jedoch schützen, diese Dinge ernst zu nehmen, die der moderne Mensch als Talismane urid Glückbringer verehrt, wenn wir hier eine kleine Auswahl aus dem genannten Wert folgen lassen. Man findet das Amulett heute überall. Der Alieger trägt seinen Talisman bei sich, wenn er sein« Flüge antritt, der Autofahrer hat ein Amulett am Wagen: Tennisspieler, sogar die berühmtesten Champions, gehen unter dem Schutz« eines Amu- letts in« Spiel, ebenso der Voxer in den Ring, krikettspieler and Fußballer betreten mit ihm das Feld, indes die vielen Zuschauer, die das Spie! verfolgen, die gleichen Glückszeichen tragen, in der Hoffnung, ihren Günstlingen dadurch zum Sieg« zu verhelfen. Nicht anders ist es beim Rennfpoif, und es ist eine längst bekannte Tatsache, daß vor allem de« Spieler den stärksten Glauben an glück- bringend« Ding« hegen. Ein Mann, der des Mordes be- schuldigt ist. sitzt auf der Anklagebank, in feinen Taschen ein« Anzahl von Amuletten. Es ist m jeder Gesellschaftsklasse das gleiche. Der Anker ist das beliebteste Symbol der Matrosen und Reisenden zu Wasser und zu Land, der das Versprechen einer glück- lichen Heimkehr in sich trägt. Zager tragen, um die Kugelsicherheit ihrer Büchse zu erhöhen, in Silber gefaßte Knöchelchen eines be- stimmtn Körperteils vom Lux oder Marder an der llhrkette.— Ge- fchäftsleute glauben in geschäftlichen Angelegenheiten an die günstige
Wirkung folgender Edelsteine, vorausgesetzt, daß die Geschäfte solider Natur sind: Amethyst, Chrysolith und der Mondstein. Als Amulette dienen in Nachbildungen in edlen Metallen u. a. Biene, Drache, Elefant, Fi�ch, Fuchs, Füllhorn, Hammer, Heim- che«, Heuschreck«, Hirsch und Stier, sowie das Wort „N a r i ta" auf ein Täfeichen geschrieben.— Spieler nähen in ihr« Westentasche«inen Dachszahn ein, der dann unbedingt Glück bringt. Vom glückbringende« Hemde undvon Teddy-VSreu. Mel« Flieger lassen sich in ihren Apparaten Stück« von verun- glückten Flugzeugen als Abwehrmittel gegen Unfälle einbauen. Santos Dumont würde nie einen Flug unternommen haben, ohne das Medaillon mit dem Bilde der helligen Jungfrau, das ihm von der Prinzessin Jsobella geschenkt wurde, um den Hals zu tragen. Bon einem anderen bekannten Flieger wird erzählt, daß er einmal bei einem furchtbaren Absturz wie durch ein Wunder dem sicheren Tod entgangen sei. Seitdem bewahrt er das Hemd, das er an jenem Tage trug, als kofibare ReNquie auf, hat es seitdem nicht mehr waschen lassen und legt es stets unter seinen Kleidern an, wenn er sich zu einem Fluge rüstet. Als kräftigstes Amulett auch für Flieger gelten die Schnurrbarthaare eines Tigers. Nach altem indischen Glauben wohnt in diesen Schnurrbarthaaren eine geheimnisvoll«, schirmende Kraft. Die olegante Pariserin wählt mit der größten Sorgfalt wie bei ihrer Tollette auch die Steine, die sie auf ihre Wunderkxast hin erprobt, perlen sollen nur am Areitag getragen werden: der Montag gehört dem Rubin und der Sonntag dem Smaragd . Der Diamant,
namentlich in Boutonform gefaßt, ist jahraus, jahrein erlaubt. Rur während der Karwoche und während der.Pferderennen" nimmt man mit Vorliebe Diamanten, denn sie bringen Glück und lassen dos ge- wettete Pferd zum Siege kommen. Immer noch legt auch die heutige Zeit den edlen Steinen, diesen Wundern der schaffenden Natur, ge- heimnisvolle Kräfte bei. Der unaufhaltsame Fortschritt der Natur- Wissenschaft vermag darin nichts zu ändern.— Der jetzt als Amulett so beliebte Teddy-Bär, trotzdem er eine Erfindung amerikanischer Spielzeugfabrikanten ist— erscheint bei allen Gelegenheiten, auf dem Kühler des Automobils, auf den Kissen im Boudoir der Dame. Doch gitt er nur für glückbringend, wenn er aus Liebe geschenkt wird. All« Amulette haben diese Eigenschaft, daß sie nur wirken, wenn sie von Freunden uns aus herzlicher Zuneigung verehrt werden. Selbst erworbene Talismane besitzen den Zauber nicht. Ebenfalls darf ein Talisman nie auf die Erde fallen, denn das Berühren mit der Erde nimmt ihm feine Kraft. Wenn die Beschäftigung mit diesen okkulten Problemen auch zu den unfruchtbarsten Sachen gehört, die ein vernünftiger Mensch betreiben kann, so ist es doch zuviel gesagt, wollte man ihnen jede Wirkung auf das Verhalten vieler Personen abstreiten. Man denke an das Wort:.Der Glaub« macht selig!" Es gibt aber leider noch ein« große Angahl innerlich nicht gefestizter Menschen, die Halt und Ansporn bei ihren„Glücksbringern" suchen, von dem sie steif und fest behaupten, ihr Zauber schütze sie vor der Gehässigkeit und Tücke des rauhen Lebens.
Gemeinheit, du siegst! Saihüllungen über„Komplott der Sozialdemokraten. Die„Deutsche Zeitung" hat— glücklicherweise yoch im rechten Augenblick— ein sast unglaubliches Komplott der Sozialdemokraten im Berliner Rathaus « entdeckt. Sic ist in der Lage, ihren ahnungslosen Lesern in größter Auf- machung zu berichten, daß die ganzen Hanshaltsberalungea in diesem Zahre nur Scheiumanöver sind. In Wahrheit bestehen bereits geheime, aber.feste"«bwachnngen zwischen den Kommunisten und den Sozioldemo- kraten, die.teilweise im Wortlaut vollkommen feststehen" und die unmittelbar nach den Wahlen Wirklichkeit werden sollen. Dann werden in einem.Rothanshalt" die S t e u e r n, die Tarife aller Verkehrsmittel und Werte erhöht werden, und aus diesen Erhöhungen werden Lohnerhöhungen und.rote Sonderaktionen" bezahlt werden. Da haben wir also die Niederträchtigkeit und Hinterhältigkeit sozialdemokratischer Politik in Reinkultur. Erst machen die Sozial- demv kraten einen Etat mit den Mittetparteieu und dann.einen zweiten Etat" mit den Kommunisten. Und da wird dann ganze Arbeit gemocht werden: alles wird erhöht, alles wird geschröpft, olles wird bewilligt! Man staunt nur über die Dummheit aller anderen Parteien im Rathause, die von diesem Komplott bis- her nichts gemerkt haben. Die Mittelparteien müssen erst von dem Antisemitenblatt die kommunistischen Abmachungen erfahren, und die Kommunisten sind sogar so dumm, daß ste— die Abmachungen in der Tasche— den Beratungen des.ersten" Etats ruhig zusehen. Zllle zusammen haben sich aber den Kopf über die Bolancierung diese» Haushalts zerbrochen, und sie erfahren nun, daß die Lösung so schrecklich einfach ist: Man braucht nur alle Steuern und olle Tarif« zu erhöhen, dann hat man auf einmal Geld, soviel man haben will! Daran hatte allerdings bisher niemand gedacht, diese Entdeckung mußte erst durch die.Deutsche Zeitung" gemacht werden. Man sieht wieder einmal, wie einfach doch eigentlich Politik zu machen ist, wenn man über die nötige Portion Schläue und Ge- m e i n h e i t verfügt— wobei man es dem Urteil der Oeffenttichkeit überlassen kann, festzustellen, auf welcher Seite die Gemeinheit zu suchen ist.
Menschen, Göttern gleich... 66] Roman von yerbert George Wells . Was für ein Ende würden diese armen Leutchen dort oben finden? Ihre Lebensdauer war noch mehr bedroht als seine eigene denn er konnte hier wochenlang liegen und hungern, ehe er den letzten Hauch von sich geben würde. Sie aber hatten sich offen gegen die Macht und Weisheit Utopiens aufgelehnt und nun mutzte sich schließlich die ordnende Macht jener Welt über ihren Häuptern zusammenballen. Er hatte immer noch schwache, sinnlose Gewissensbisse wegen seines Benehmens bei Catskills Verschwörung. Jetzt lächelte er darüber, daß er einmal fest davon überzeugt gewesen war, die Erde würde über Utopien siegen, wenn nur Catskill seine Geiseln gefangen hätte. Diese Ueberzeugung hatte ihn zum Handeln gedrangt. Außer seinen schwachen Rufen war ihm scheinbar nichts anderes übrig geblieben, um dieses riesenhafte Unheil abzuwenden. Aber angenommen, er wäre überhaupt nicht dort gewesen oder er wäre dem hemmenden Instinkt der Kameradschaft, der ihn dazu drängte, gemeinsam mit den andern zu kämpfen, gefolgt— was dann? Als er sich den Anblick Ceders ins Gedächtnis zurückrief, der Mush berumgeschleudert hatte wie ein Schoßhündchen, und die hohe Gestalt Serpentins, zweifelte er, daß es den Erolingen, sogar auf den Stufen zwischen dem Torbogen. möglich gewesen wäre, die beiden zu überwältigen. Die Revolver wären ebenso gebraucht worden wie auf dem Hang, und Catskill hätte keine Geiseln, sondern nur erschlagene Männer gehabt. Wie unaussprechlich dumm war doch der ganze Plan Catskills gewesen. Aber er war nicht dümmer, als sonst das Benehmen Catskills , Burleighs und der übrigen Staats- männer der Welt während der letzten Jahre auf Erden. Manchmal, als die Welt während des großen Krieges in Agonie lag, schien es, als ob Utopien der Erde näher käme. Die finsteren Wolken und der Qualm dieser schwarzen Jahre wurden vom Licht seltsamer Hoffnungen durchzuckt, von der Erwartung, die Welt würde neu geboren werden. Die Rationalisten, Geldleute, Priester und Patrioten hatten alle jene Hoffnungen zunichte gemacht. Sie hatten auf die alten Gifte, Infektionen und auf die schwache Widerstandskraft des zivilisierten Geistes oertraut. Sie hytten sich auf ihre Waffen verlassen, hatten ihre Hinterhalte gelegt und ihre Frauen in Txitiflk-ft gesetzt, um Flaggen der Uneinigkeit zu nähen»»«
Eine Zeitlang hatte sie jliese Hoffnung getötet. Aber nur eine Zeillang. Denn Hoffnung, die Erlöserin der Menschheit, feiert fortwährend Auferstehung. „Utopien wird siegen," sagte Mr. Barnstaple, und saß eine Weile da, um einem Geräusch zu lauschen, das er schon früher gehört hatte, ohne es besonders zu beachten. Es war ein schnurrendes Klopfen in den Felsen über ihm, wie vom Gang einer großen Maschine. Es schwoll an und wurde dann wieder schwächer bis zur Unhörbarkeit. Seine Gedanken kehrten zu seinen ehemaligen Gefährten zurück. Er hoffte, daß sie dort oben nicht zu elend und ängst- lich seien. Insbesondere wünschte er, es möge sich etwas ereignen, um Lady Stellas Mut zu stärken. Er war liebevoll um Lady Stella besorgt. Für die Uebrigen wäre es das Beste, wenn sie bis zum Ende tätig im Kampf verharren würden. Wahrscheiniich arbeiteten sie alle fieberhaft an irgendeinem hoffnungsvollen Verteidigungsplan Catskills : mit Ausnahme Mr. Burleighs. der nichts wn würde— überzeugt, daß es wenigstens für ihn noch einen ehrenvollen Aus- gang geben werde, und der wahrscheinlich auch nicht sehr ängstlich wäre, wenn es keinen gäbe. Amerton und vielleicht auch Mush würden in eine religiöse Wiedergeburt verfallen, was die anderen ein wenig beunruhigen oder für Lady Stella und Miß Greeta Grey vielleicht sogar ein geistiges Betäubungsmittel bedeuten würde. Und für Penk war Wein im Keller... Sie würden den Gesetzen ihres Seins folgen, sie würden das tun, was die Natur und die Gewohnheit von ihnen ver- langt. Was wäre sonst möglich? Mr. Barnstaple tauchte in einen methaphysischen Ab- grund unter... Jetzt ertappte er sich dabei, wie er auf die Armbanduhr sah, es war zwanzig Minuten nach zwölf Uhr. Immer häufiger blickte er auf die Uhr— oder verging die Zeit lang- samer?... Sollte er die Uhr aufziehen oder sie auslaufen lassen? Er empfand schon großen Hunger. Doch das konnte noch kein � richtiger Hunger sein. Offenbar verlor er die Gewalt über seine Einbildungstraft. Das Ende des Ouarantänefelfens. l. Mr. Barnstaple erwachte langsam und widerstrebend aus einem Traum, der vom Kochen handelte. Er war Soyer, der berühmte Küchenchef des Reformclubs, er erfand und kostete neue Gerichte. Aber auf den holden Pfaden des Traum- landes war er nicht nur Soyer, sondern zu gleicher Zeit ein
sehr tüchtiger utopischer Biologe und ebenso Gottvater selber. So konnte er nicht nur neue Gerichte herstellen, sondern konnte auch neue Gemüse und Fleischarten, die hinein- gehörten, erschaffen. Ganz besonders interessierte er sich für eine neue Sorte Geflügel, die Chateaubriand-Rasse, welche die reichen Vorzüge eines ausgezeichneten Beefsteaks in der Form und der Delikatesse einer Hühnerbrust vereinen sollte. Er wollte das Gericht mit einer Mischung von Jamaika - pfefser, Zwiebeln und Pilzen füllen— aber die Pilze waren nicht das Richtige. Die Pilze— er kostete sie— bedurften wirklich nur einer ganz kleinen Aenderung. Und im Traum erschien ein Hilfskoch, mehrere Hilfsköche, alle nackt wie die Utopen, sie trugen Hühner aus der Speisetammer herbei und sagten, sie könnten sie nicht festhalten, sie wären„hoch- gegangen" und gingen immer noch höher. Um diesen Ge- danken des Höhergehens zu illustrieren, hoben die Hilssköche die Hühner über ihre Köpfe und begannen die Wände der Küche hinaufzuklettern: jene waren felsig und für Wände einer Küche merkwürdig eng beieinander. Die Gestalten wurden schwarz, wurden emporgeschleudert»nd zeichneten sich als schwarze Silhouetten gegen den leuchtenden Dampf ab, der aus einem Kessel mit kochender Suppe aufstieg. Es war kochende Suppe, und doch war es kalte Suppe und kalter Dampf. Mr. Barnstaple war wach. An Stelle des leuchtenden Äampfes war es Nebel, heller Mondscheinnebel, der die Schlucht füllte. Er spie die Gestalten zweier Utopen in schwarzer Silhouette aus... Was für Utopen? Barnstaple schwankte zwischen Träumen und Wachen. Dann fuhr er in gespannter Aufmerksamkeit empor. Sie be- wegten sich mit leichten Gebärden, ahne seine Gegenwart in so unmittelbarer Nähe zu bemerken. Sie hatten bereits, eine dünne Strickleiter an irgendeinem Punkt oben befestigt. Aber wie sie das zuwege gebracht hatten, wußte er nicht. Einer stand noch auf der Felsenplatte, der andere schwebte über ihm und spannte sich quer über den Schacht, indem er sich am Seil festhielt und die Füße gegen den Felsen stemmte. Ueber der Kante der Felsplatte erschien der Kopf einer dritten Gestalt, die von einer Seite jzur anderen schwankte und offenbar auf einer zweiten Strickleiter heraufkam. Irgendeine Auseinandersetzung war im Gang. Es kam Mr. Barnstaple zum Bewußtsein, daß dieser letzte Ankömmling der Meinung war, er und seine Gefährten wären nun hoch genug geklettert, daß aber der oberste Mann darauf bestand, sie sollten noch höher gehen. In wenigen Sekunden war die m*_______....________
Sache gerege
(Fortsetzung folgt) j