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jSella�e Donnerstag 29. Marz 1928
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Cs ist eine alte Tradition: Kein Gericht ohne Kneipe! Jminer liegt in irgendeinem Nebenhaus so eine besonders gekenn- zeichnete gastliche Stätte, bestimmt, die vom Räderwerk der Justiz Zermürbten und Geschundenen aufzunehmen. Und selbst wenn dos Gericht schon verzogen ist, können sich die dazugehörigen Lokole nicht von der Tradition trennen und heißen dann noch lange Jahre hin- durchZur letzten Instanz" oderG e r i ch t s l o u b«", trotzdem das eigentlich eine Vorspiegelung falscher Tatsachen ist und sie längst nicht mehr den Reiz einer wirklichen Gerichtskneipe haben. Denn die echten, wirNichen Gerichtskneipen haben schon ihre Reize und ihre eigene Not«. Bei den Zivilen. Vor ollem hat jede Kneipe ihr Publikum, und das ist genau unterschieden je nach dem Gericht, zu dem die Kneipe gehört, anders bei einem Zivilgericht, anders bei dem Kriminalgericht. Das Publikum der Zioilkneipen ist in seiner Mehrzahl g ut b ü r» g e r l i ch, aber darum durch seinen Zusammenstoß mit der Dame Justitia   um so aufgeregter und trostbedürftiger, einerlei, ob man nun die verlierend« oder die obsiegende Partei war. Darum sitzen dann die Parteien mitihren" Zeugen imSitzungszimmer* der Kneipe noch stundenlang beisammen und erörtern nun mit neu» gewonnenem Wissen nochmals den ganzen Fall. Von den Tischen rechts und links hört man Gesprächsbruchfetzen:Wie komm ick denn dazu. Eltern für det Kind zu spielen, wo sich det Mensch mit jedem Schäsfehr..Das muß der Richter doch einsehen, daß ich als besser« Dame nicht nötig habe..Und an det janze Malheer is ja bloß der Rechtsanwalt schuld, wo ick ihm doch jenau jesacht habe, wat von die Oll« mit ihre Arokodilstränen zu hallen is... Stellt sich det Mensch hin un schweert!" 3a,und schweert!" Das ist immer der große Zorn, dieses Zeugnis eines Zeugen, über das nicht hinwegzukommen ist, und tröstend wird hier hinter dem Glase Bier alles hervorgeholt, was die Aussag« dieses Zeugen hätte entkräften können,wenn man auf so'ne Frechheit iebahaupt jefaßt gewesen wäre". Immer aber bleibt hier noch ein Trost: Man kann ja noch zur nächsten Instanz gehen, und vielleicht kann man bis dahin dem verdächtigen Zeuge» den Meineid nach- weisen. Auf jeden Fall aber stellt man sich mitseinen" Zeugen gut, und darum sind hier gewinnend« wie verlierende Parteien bei
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der Begleichung der Zeche gleich generös, um so mehr, als der Verkündungstermin ja noch aussteht und man nicht weiß, wie man noch die guten Freund« brauchen kann. Bei den Kriminalen. Anders sieht es in den Kneipen am Kriminalgericht manchmal aus. Hier spricht das Publikum, wenn der diskret be- dienende Wirt verschwunden ist und es sich unbeobachtet glaubt, Manchmal eine viel deutlichere Sprache: feierlich wird der Freispruch begossen, hoch klingt das Lied vom braven Mann, der dichtgehalten hat und keinen seiner Freund« mit hereinriß.Mensch, Albat war immer«en Schentelmen, uff den kann man sich verlassen, der schwört, wat er auf die Jabel ruff> kricht!"..3ani kleen und häßlich is der Staatsanwalt jewordn, wie Lalle det Alibi bloß so hiujelechl hat!" lind es fehlt nicht viel, daß man dos schone Lied anstimmt: Mensch, komm mit mir uff't Amtsjericht, Do schwörn wir alle beide Dem Richter treu ins Anjeficht Die allerfchwersten Eide  !" Schließlich hebt man sich diesen Schlachtgesang aber doch lieber für die Stantmkaschemme auf, in der man der Diskretion und Vorsicht des Boostes doch sicherer sein kann. Eine andere Kund- schaft sind dieversöhnten" Parteien, die die neugeflickte Freund- schaft gleich mit einer Lage Kognak taufen. Die Frauen halten sich bei diesen Dersöhnungsfeiern messt sehr zurück, sie sind nun mal von Naturnachträgscher" als die Männer, die sich viel leichter gerührt in den Arme« liege«:»Mensch, Otto.
ollet schwärzet Riebenschwcin, wenn ick ooch mal Rindvieh zu dir jesacht habe, mußte det nich jlcich so wertlich nehm! Un kiek dir bloß unsre Ollen mal unparteiisch an: Lohnt et sich denn, det wir uns da dru.m zanken?". Die Damen aber im B e r s ö h n u n g s st ü b ch e n" sehen sich an, hundert Rachcschwüre und zehn zukünftige Beleidigungsprozesse in den Augen und im Herzen. Weisheit an der Wand. Alle diese Kneipen suchen ihren besonderen Charakter durch Wandschmuck möglichst zu betonen, und es ist ein gutes Stück volkstümlicher Iustizkritik, das da die Wände predigen. Da steht in einer kleinen Kneipe der resignierte tröstende Wandspruch:Bei Gott   und in Moabit   ist alles möglich!" Das WC. heißt überall mit schöner UebereinstimmungA k t« n k a m m e r", liebe­voll wird auf die Berufungsfrist aufmerksam gemacht.Ist drüben Unrecht dir geschehn, laß dich in einer Woche wiedersehn!" Der alte Satz:Wer Sorgen hat, hat auch Likör" aber ist hier passend varitert worden:haste'aen Freispruch, trink een Likör, biste ver- urleilt, saufsle noch mehr!" Die einzelnen Räume werden als S ch w u r g e r i ch t s s a a l", alsB e r a t u n g s z i m m e r", Sitzungszimmer" oderV e r s ö h n u n g s st ü b ch e n" auf» gezogen, und am Kriminalgericht heißt in fast allen Kneipen die Damenabtellung":Zum Barni in." Der malerische Wand» schmuck läßt meist sehr zu wünschen übrig, die Idee ist meist viel besser als die Ausführung, nur eine der Gerichtskneipen macht hier eine rühmliche Ausnahm«. Beim Amtsgericht Berlin-Mitte liegt unter dem Stadtbahnbogen ein kleinesG e r i ch t s st ü b ch e n",
in dessen malerischem Wandschmuck sich Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung mit einem guten zeichnerischen Können vereint. Da sprengt feurig der paragraphenfressende Amtsschimmel daher, von St. Bureaukratius geritten und den Rechtsanwalt auf der ZPO.  , der Zivilprozeßordnung, hinter sich herschleifend. Unter- irdisch zernagen die Ratten die Gesetzesbücher, ein drillen- bewehrter Gcfetzesbaudwurm ohne Augen kriecht hinter seiner Beute her, die sich gewandt durch, die Paragraphen windet, der Advokat melkt die Kuh, um die sich Metzger und Bauer streiten. Rings um die Wände des Schankraumes führen die Para- graphen einen lustigen Tanz auf. Flügelgeschmückt fahren sie schließ- lich gen Himmel, aus den Wolken schaut S a l o m o in Talar und Barett des deutschen Richters. Das noch in Friedensuniform blau- gekleideteAuge des Gesetzes" sieht argwöhnisch auf den Unglücksraben, der sich im Paragraphengestrüpp verwickelte und strauchelt, während hinter dem Schutzmann der sprunggewandte Langsinger mit kühnem Satz die Paragraphen überspringt. Und alle diese Typen find nicht nur gut erdacht, sondern auch gut gezeichnet. Es scheint fast, als habe hier der Zeichner bei den Phantasien über das Gesetz und seine Hüter mit grimmigem Humor sich eigenen Kummer vom Herzen gezeichnet.
Belebt und interessant sind aber alle diese Kneipen nur bis in die ersten Nachmittags st unden, dann verlieren sich ihr« Kunden: hier und da trinkt noch ein einsamer Gerichtsdiener einen Schoppen, um sich den Staub ans der Kehle zu spülen, dann liegt die Kneipe verlassen. Die Freigesprochenen setzen ihren Triumphzug in bekannteren Gefilden fort, die anderen ober denken vielleicht im stillen Kämmerlein mit Groll im Herzen an die Weisheit aus der Kneipe:Bei Gott   und in Moabit   ist alles m ö g l i ch." Morgen aber wird dieselbe Mühle von neuem mahlen! R. E.
Was soll mein Kind werden? Der Fischzug nach billigen A rbeitshänden.
Alljährlich um die Zeit der Schulentlassungen beginnt der groß« Fischzug nach den billigsten Arbeitshänden. Sind schon die Ungelernten billig, die Lernenden sind noch weit billiger und werden durch sogenannte Lehrverträge auf drei oder vier Jahre gebunden. Sogenannte Lehrverträge, weil sie nicht etwa in freier Ueberein- kunft zwischen den Vertragspartnern abgeschlossen, sondern den Eltern und Vormündern von den einzelnen Interessentengruppen der Lehrlingsholter diktiert werden. Die aus der Zunstzeit übernommene Tradition des Lehrlings- wesens wurde in die Gewerbefreiheit übernommen und trotz aller technischen Umwälzungen blieb sie von ollen. Gewerbeordnungs- Novellen nicht nur unberührt, sie wurde vielmehr durch die Zwangs- innungsnovelle wieder aufgefrischt. Nach der Revolution machten sich ernsthafte Bestrebungen geltend, um das Lehrlingswesen zu reformieren, allein sie wurden in der Gesetzgebungsmaschineri« um- gebogen zu' Entwürfen für ein allgemeines Iugendschutzgesetz, das an sich wohl zu begrüßen ist, die L« h rl i n g s w i r t s ch a f t aber unangetastet läßt. Sie Ausnühung als Gewohnheitsrecht. Das Unternehmtertum im Kleingewerbe wie im Handel be- trachtet die Ausnützung jugendlicher Arbeitskräfte als G e w o h n- Heitsr echt, dos di« Eltern verpflichtet, ihnen ihre Söhne und Töchter jahrelang zu einem sogenannten Kostgeld zu überlassen. Die Lehrlingshalter können weder rechtlich für die Folgen einer mangelhaften Ausbildung verantwortlich gemacht werden, noch über- nehmen sie oder ihre Interessenverbände irgendeine Garantie dafür. daß die Ausgelernten in dem erlernten Beruf« bleiben und dauernd ihre Eyistenz darin finden können. Die Rollen sind sehr ungleich verteilt. Sehen wir uns unter der Masse derUngelernten" in den Industriebetrieben um, dann finden wir hier einen großen Teil all der.Llusgelernten" Im Kleingewerbe wieder und begegnen den ausgelernten Kauflcuten auf der Straße als Provisionsreifenden oder in den Schreibstuben als Schreiber. Soll das immer so bleiben? Die Gewerkschaften erlassen alljährlich der Reihe nach ihre Warmingen vor der Ergreifung gerade ihres Berufes, der schon stark übersetzt oder gar im Absterben begriffen s«i. Vergeblich suche« die Eltern nach dem Beruf, der ihnen als Lehrberuf emp- fohle« würde. In guten Berufen wird hie Lehrllngshaltung eingeschränkt. Die meisten Lehrstellen sind in solchen Berufen zu finden, in denen zwar die Auenützung von Lehrkräften geschätzt wird, für Ausgelernt« aber kein Platz mehr ist. In den verhältnismäßig wenigen Berufen, deren Erlernung sich lohnt, wo der g e- lernte Arbeiter noch unentbehrlich und daher ver» hältnismäßig gut bezahlt wird, ist di- Le h r li n g s h al t u n g eingeschränkt und die Anzahl der Lehrstellen gering. Di«
Lehrwerkstätten der Großbetrieb«, die selbst in Berlin   bald auf- gezählt sind, stehen außer den Söhnen der Werkmeister nur solchen Lehrlingen offen, deren Ellern sich einer gewissen Protektion er- freuen. DasErziehungsverhältnis" wird hier neuerdings mehr und mehr in werksgemeinschaftlichem Sinne ausgedehnt. Grundsätzlich ist zu fordern, daß jedem Jungen wie jedem Mädchen Gelegenheit gegeben wird, sich einer Berusstätigkeit zu- zuwenden, zu der sie sich In gesuirbheitlicher und psychotechnischer Hinsicht am besten eignen. Dazu bedarf es in vielen Fällen lediglich einer kurzen Anleitungszeit, die durch Berussunter- r i ch t zu ergänzen ist. Wo«ine längere Lehrzeit erforderlich ist. darf deren Dauer nicht rein scheinatisch festgelegt werden, wie es den Profitinteressen der Lehrherre» am dienlichsten ist oder der tastenmäßigen Abschließung einer Berufsgruppe, sondern so, wie es dem Zweck der Anlernung je nach der Art des Berufes und seiner wirtschaftlichen Bedeutung entspricht, d. h. der Zahl der b«- schäftigten Gehilfen und ihrer Bezahlung. Werden die Lehrzeiten auf das unbedingt notwendige Maß herabgeschraubt, dann scheidet das rein profitliche Moment der Lehrlingsausbeutung aus und es ist dann einer weit größeren Zahl von Schulentlassenen möglich, eine berufliche Tätigkeit zu erlernen. Oas Schicksal desUngelernten". Auf die Dauer ist der Zustand unhaltbar, daß derHilfs- arbeite?", der er wurde, weil ihn seine Eltern in keine Lehr« geben konnten, sein ganzes Leben lang als Ungelernter mit schlechtester Bezahlung abgestempelt bleibt. Selbst wenn er sich dank einer gewissen Intelligenz über das Niveau des Ungelernten aufschwingen könnte, versperren ihm die Zunftschranten den Weg, auch wenn er ein Jahrzehnt und länger in einem bestimmten Berufe als Hilfsarbeiter tätig ist. Er kann jederzeit und in jedem Benife Unternehmer werden, falls er das nötige Kapital besitzt, aberGelernter" werden kann«r nicht. Kann auch die heutige Lehrlingsmißwirtschaft nicht mit einem Schlage beseitigt oder auch nur wesentlich gebessert werden, so muß doch die Frage des Lehrlingswesens einmal gründlich aufge- rollt werden. Gerade jetzt wäre der geeignet« Zeitpunkt dazu, well in den nächsten vier Iahren sich der Geburtenausfall in d«r Krieaezell auswirkt. Den Lehrlingshaltern der aussichtslos«» Berufe, in denen nur Lehrlinge und kein« alleren Gehilfen beschäftigt werden, dürfte kein Lehrling mehr zugeführt werden, während in allen übrigen Berufen die Zuweisung von Lehrlingen von einer gründlichen Besserung der L«hrbedlngungen durch eine Berkürzung der Lehrzeit und der Erhöhung d«s Kostgelds" abhängig zu machen ist. Das Ziel aber muß fein: die Ueberwindung der ganzen zünftlerischen L«hrlingewirsschaft. Friedrich Eikern.