Nr. 455- 45. Iahrgang*1« Sonnabend, 3i. März 492»
Drauhe» im Westen, so um den Kurfür st endamm herum, ist in den letzten Jahren eine ganz neue Art von Lokalen ent- standen: die Cafes und die Lotale der russischen Emigran- ten. Sie trogen kein einheitliches Gepräge, sie sind ebenso ver- schieden in ihrer Aufmachung und ihren Preisen, wie deutsche Lokale, gemeinsam sind ihnen nur einige.Spezialgerichte', auf die ihr Publikum nun einmal Wert legt; alle aber sind sie für den. der zu beobachten versteht, ein recht dankbares Feld, denn hier läßt sich der Prozeß der Einbürgerung derEmigran- ten am besten beobachten. Einbürgerung, ja: denn es ist aus mit der Romantik der ersten Emigrantenjahre, in denen man noch mit dem Gedanken spielte, spätestens im nächsten Jahre den Z u s a m- menbruch Sowjetrußlands zu erleben und bis dahin vom Erlös geretteter Schmuckstück« und vom Kredit eines großen Namens leben zu können, und so haben fast alle Emigranten einen bürger- lichen Beruf gefunden. Fast alle, und die wenigen Ausnahmen werden auch von den Emigranten selbst zumeist recht peinlich empfunden. Die Teestube des Bürgermeisters. Schlimm stand es mit den rusiischen Beamten: denn es waren meist älter« Leute, in ihrem Beruf konnten sie nicht beschäf- tigt werden, und das Umlernen war für sie nicht immer ganz ein- fach. Einigen aber ist es mit Zähigkeit und Energie doch geglückt, sich durchzusetzen. Da war der frühere Bürgermeister von Kiew . Der hatte hier zuerst versucht, als B erleg er russischer Literatur, dann als Buchhändler zu arbeiten, aber er muhte sich über- zeugen, daß feine Landsleute zumeist viel zu sehr mit der Auf- bringung des Geldes für ihre leibliche Nahrung beschäftigt waren, um noch Geld für geistige Nahrung übrig zu haben. So entschloß er sich denn, den Betrieb entsprechend umzustellen und eröffnete einfach in seinem ehemaligen Bücherladen eine Tee- st u b e, verbunden mit emem Delikatessengeschäft, die nun olle Tage
Die Fürstin hinter dem Samowar.
voll von Gästen ist. Denn durch eines unterscheidet sie sich sehr vorteilhaft von vielen der anderen russischen Lokale: Sie hat wirk- lich b I l l i g e P r» i s e, für 25 Pfennig gibt es«in Glas Tee, für 75 Pfennig eine Portion Extrakt mit Wasser, woraus man unzählige Gläser Tee machen kann. Alles, was unter den Emi- grauten mit dem Groschen rechnen muß, aber doch nicht den nach- mittaglichen Tee und die Zeitungen entbehren will, sitzt darum in Bürgermeisters Teestube . Kein Fremder ober würde auf den Ge- danken kommen, daß der weißhaarige alte Herr, der oft genug noch selbst seine Gäste bedient, der den Tee serviert und jetzt noch hinter dem Verkaufstisch Lachs vorschneidet oder marinierte Fische abwiegt, der ehemalige Bürgermeister einer der größten Ge- meinden Bußlands ist. Alle Achtung aber vor dem Mann, der in so vorgerücktem Alter sich«in« neue Existenz gründete und mst seiner Teestube Arbeitsmöglichkeiten für mindesten» ein halbes Dutzend Schicksalsgenossen schuf! Hinter dem Samovar. In einer der Nebenstraßen, die vom Wittenbergplatz abgehen, liegt ein anderes russisches Cafe. Gute Musik gibt es hier, Einrichtung und Publikum sind ein gut Teil eleganter als in der Teestube des Bürgermeisters, dafür sind auch die Preise erheb- lich teurer. Hier rechnet man nicht mit dem Groschen, oft nicht einmal mit Markstücken, wenn man sie gerade hat. Denn ein Teil der Gäste gehört zu den„E d e l k o m p a r s e n' und zu verwandten Branchen, bei denen der ungerecht« Mammon immer nur höchst sporadisch in Erscheinung tritt. Hier steht Tag um Tag hinter dem Samovar eine hochgewachsene Dam«, deren klug« Augen den ganzen Raum beherrschen. Es ist die Geschäftsführerin des Cafes. Wer von ihren Gästen ihre Geschichte kennt, grüßt sie mit besonderer Achtung: auch sie ist ein« von denen, die durch die Revolution alles verloren hat. Ihr Vater war Leiter eines staat- lichen Theaters, ihr Mann lebt im Ausland, wo auch er eine klein« Anstellung fand, die halberwachsenen Söhne haben eine Frei- st e l l e für ihre Ausbildung. Sie versieht hier Tag um Tag ihren nicht leichten Dienst hinter dem Samovar und leitet mit ihrem klugen Gesicht dieses Cafe, das auch ein Emigrant gegründet hat, und ist im Neinen Finger mehr wert, als«in. Dutzend russischer .Aristokraten' vom Stamme der Subkoff und Kompagnie. Händler und»Helden.� Am schnellsten haben sich die Kaufleut« zurechtgefunden: sie nahmen nut den geretteten Resten ihres Vermögens einfach ihren Beruf pnsder auf, und da sie keine Zeit mit romantischen Träume. reien verloren, ist es den meisten geglückt, wieder in«ine«rträgllch« Position zu kommen, wenn sie auch hier nicht unter den Kauf- lcuten.erster Gilde' rangieren mögen. Sie hatten verwandt- schaftlich« oder Handelsbeziehungen, die ihnen die Ausnahme ihrer Geschäfte erleichterten, kurz, sie waren die Element« unter den Emi- grauten, die sich am besten und s ch n e l l st« n einbürgern ließen. Schlimmer stand es mst dm Offizieren der alten russi- fchen Armee. Sie waren nicht abgeneigt, sich sozusagen als ewige Landsknechttruppe zu betrachten und sich für jedes Hand-
Menschen, Göttern gleich... es] Roman von Herbert George lvellz. Die Morgendämmerung schien sehr schnell zu kommen. ober in Wirklichkeit hatte er in der Zwischenzeit geduselt. Als er wieder nach der Uhr sah, war es halb sechs. Er ging an den Rand der Galerie und sah die Schlucht hinauf, dort- hin, wo er das Kabel gesehen hatte. Alles war fahl und dämmerig, schwarz und weiß, aber vollkommen klar. Die Wände des Canons schienen in die Ewigkeit hinaufzuragen und schließlich in den Wolken zu verschwinden. Unten sah er flüchtig einen Utopen, der jetzt durch die Biegung der Schlucht verdeckt wurde. Er vermutete, das große Kabel müsse so dicht an den Ouarantänefelsen herangebracht worden sein, daß es für ihn nicht sichtbar war. Er konnte keine Stufen finden, die von der Galerie hinunterführten, aber einige dreißig oder vierzig Hards ent- fernt liefen fünf oder sechs Kabelleitungen in einem steilen Winkel von der Galerie nach der gegenüberliegenden Seite der Schlucht. Sie zeichneten sich ganz schwarz und deutlich ab. Er ging auf sie zu. Es waren lauter Förderseile, an welchen kleine Laufkatzen mit großen Haken hingen. Drei Förderseile waren leer, aber auf zweien waren die Lauskatzen aufgehängt. Mr. Barnstaple prüfte sie und fand, daß die Laufkatzen durch eine Sperrklinke festgehalten waren. Eine dieser Klinken drehte er um und der Fördcrkorb lief sofort ab und warf ihn fast in die Tiefe. Er rettete sich dadurch, daß er sich am Fördersell festhielt. Er beobachtete, wie die Laufkatze binunterschwebte wie ein Vogel, zu einem breiten, sandigen Uferstreifen auf der anderen Seite des Flusses und dort zur Ruhe kam. Es schien alles in Ordnung. Heftig zitternd wandte er sich der übriggebliebenen Laufkatze zu. Seine Nerven und seine Willenskraft waren jetzt so er- schöpft, daß es lange dauerte, ehe er den Entschluß auf- bringen konnte, sich dem Haken der letzten Laufkatze an- zuoertrauen und die Sperrklinke zu lösen. Dann schwebte er sanft und schnell quer über die Schlucht hinunter zur Sandbank. Auf diesem Stand waren große Haufen kristallinischen Gesteins vorhanden und oben aus den Nebeln senkte sich von einem unsichtbaren Kran ein Seil herunter— offenbar um das Gestein hochzuheben—, aber es war kein Utope zu sehen. Er ließ los und kam heil auf die Füße. Flußabwärts, wo das Ufer breiter wurde, ging er dicht am Rande des Bergstromes dahin. � Wahrend er ging» wurde es heller. Die Welt hört« aus.
grau und schwarz auszusehen; alle Dinge nahmen wieder Farbe an. Alles war dicht mit Tau bedeckt. Er war hungrig und fast unerträglich schwach. Der Sand wechselte seine Beschaffenheit und wurde weich und schwer an seinen Füßen. Er fühlte, daß er nicht mehr weitergehen konnte. Er mußte auf Hilfe warten. Er setzte sich auf einen Stein und sah hinauf nach dem Quarantänefelsen, der sich über ihm hoch- türmte. 3. Steil und hoch stieg das große Vorgebirge, wie der Bug eines riesigen Schiffes, hinter den zwei tiefblauen Canons auf; einige Nebelfetzen verbargen noch seinen Gipfel und die kleine Brücke über der engeren Schlucht. Der Himmel oben zwischen den Nebelstreifen war jetzt von tieferem Blau. Während Barnstaple hinstarrte, zerflatterten die Nebel und lösten sich auf. Die Strahlen der aufgehenden Sonne trafen die alte Burg und verwandelten sie in blinkendes Gold. Die Festung der Erdlinge stand da, klar und hell. Die Brücke und die Burg waren sehr entfernt und dieser ganze Teil des Felsens sah aus, wie eine kleine Mütze auf der Gestalt eines großen stehenden Soldaten. Ziemlich unterhalb der Brücke und ungefähr in der Höhe, in welcher die drei Utopen gearbeitet hatten oder noch arbeiteten, lief etwas Dunkles, ein seilähnliches Band. Daraus schloß er sofort, daß dies das Kabel sein müsse, welches er in der Nacht, von den grünen Blitzen erhellt, gesehen hatte. Dann bemerkte er auf dem oberen Rand der breiteren Schlucht einen eigentümlichen Körper. Es war eine riesige aufrecht- stehende Rolle, in Form einer flachen Scheibe, die auf dem Klippenrand gegenüber dem Burgselsen aufgetaucht war. Wegen einer vorspringenden Gesteinsmasse weniger deutlich sichtbar, stand im engeren Canon eine gleiche Rolle, dicht an den Stufen, die von der kleinen Brücke hinaufführten. Zwei oder drei Utopen, die wegen der großen Höhe sehr klein, und infolge der starken Verkürzung sehr stämmig aussahen. bewegten sich am Klippenrand enllang und handhabten etwas, da» offenbar im Zusammenhang mit den Rollen stand. Mr. Barnstaple starrte diese Vorbereitungen mit dem gleichen verständnislosen Blick an, wie ein Wilder, der niemals gehört hat, wie ein Schuß abgefeuert wird, das Laden einer Kanone beobachten würde. Entfernt und schwach ertönte ein wohlbekannter Laut. Es war die Sirene auf der Quarantäneburg, die zum Wecken ertönte. Und fast gleichzeitig erschien die kleine napoleoniiche Gestalt Mr. Rupert Catskills gegen den blauen Himmel. Der Kopf und die Schultern von Penk tauchten auf, er machte hall und stand stramnl hinter Mr. Latstill. Der Häuptling
gell» an jedermann zu verdingen und tonnten das.Verschwöre« spielen' durchaus nicht lassen. Auch hatten sie zumeist nach ihrer Dienstzeit im zaristischen Heer in irgendeiner der.weiß«»' Armeen Handgeld genommen und waren für das bürgerliche Leben wenig brauckibar. Die Besten von ihnen wurd» schließlich— Chauffeure. Soweit sie bei der Stange blieben, unt«rschsiden sie sich heute wenig von ihren anderen Beru'-'koUegen. Sie sieht man nicht in den Emigrantencases des Wc>.ens, sie sind proleiarisicrt. und sie haben weder Zeit noch Geld für Tee- stunden und Tanzbars. Aus dieser Schicht rekrutiert sich aber auch die Gilde der.Eintänzer', der Edelkomparsen usw., kurz, sie stellen den Teil des russischen Emigrantenlebens, durch den Herr Subkoff jetzt zu einer gewissen Berühmtheit gek«nmen ist. Sin Hoffänger. Nicht jeder hat sein Glück gemacht, wie dieser Schwager unserer ehemaligen Majestät, und denkwürdig wird mir«ine Begeg- n u n g bleiben, die ich einmal mit einem solchen ehemaligen Mitglied der Kriegerkaste hatte. Da stand auf unserem Hof ein Sau- g e r, und merkwürdigerweise sang der Mann russisch, ein Volt»- lied, von dem er sich nur den Kehrreim in holpriges und utTbo-
Oer Stabskapitän als Hofsäoger.
hokfenes Deutsch übertragen hatte: zum Schluß kay,«in Kosak«»- tanz. Ich rief ihn an, ob er Essen haben wolle. Dann saß er in meiner Küche. Es war früh am Donnittag. aber mein Gast roch schon erheblich nach Schnäpperkens, und schr schmierig war der, olle Soldatcnrnantcl, unter dem Rock saß kein Hemd mehr. Die Suppe sollte ich n i ch t wärmen, ex konnte kein warme? Essen mehr vertragen. Das einzig relativ Saubere waren an ihm ein Paar wasch lederner Handschuhe. Und' dann erzählte er: Er war der Sohn eine» zarlskischen Generals und selbst im Zarenherr Slabskopikön gewesen. Major bei den„Weißen" unter Wrangel, „dann ich ausgerückt. Bolschcwicki nicht gutt..." Und trotz Dreck und Fusel kennen die Reste seiner ehemaligen Kinderstube zum Vor- schein, er sprach noch immer ein gutes Französisch:.Sibben Spra- chen spreche ich, Madame. Madame werden gictigst verzeihen—, chabben Madame ein C h e m d sier mich?'— Beim Abschied konnte
der Erdlinge zog den Feldstecher hervor und beobachtete damit die Rollen. „Was er wohl davon hält,' sagte Mr. Barnstaple. Mr. Catskill drehte sich um und gab Penk einen Befehl, Penk salutierte und verschwand. Ein starker Knall aus der näherliegenden Schlucht rief Mr. Barnstaples Aufmerksamkeit zur kleinen Brücke zurück. Sie war fort. Er ließ den Blick schweifen und fand sie einige Bards weiter auf dem Wasser. Er sah, wie das Wasser aus- spritzte, das metallene Gitterwerk sich aufkrümmte, zwei Schritte forttanzte und dann still lag. Und einen Augenblick später erreichte das Krachen und Klirren des Falles sein Ohr. „Wer tat das nun?' fragte Mr. Barnstaple. Mr. Cats- kill beantwortete die Frage, indem er hastig zu jener Ecke der Burg ging und hinunterstarrte. Er war offensichtlich überrascht. Also hatten offenbar die Utopen die Brücke gesprengt. Mr. Hunker und Lord Barralonga folgten Mr. Catskill fast auf dem Fuße. Ihre Bewegungen riefen den Eindruck einer lebhaften Diskussion hervor. Allmählich kamen die Sonnenstrahlen über den Kamm des Quarantänefelsens hinunter in die Schlucht. Sie hatten nun das Kabel, welches den Gipfel einkreiste, erreicht und m ihrem Licht glänzte es mit kupfernem Glanz. Die drei Utopen, durch die Mr. Barnstaple in der Nacht geweckt worden war, wurden sichtbar, wie sie mit größter Be- schleunigung die Strickleiter hinunterstiegen. Und noch ein- mal bemerkte Mr. Barnstaple den summenden Ton, den er während der Nacht immer wieder gehört hatte, aber jetzt war er viel lauter und ertönte überall um ihn herum, in der Luft, im Wasser, in den Felsen und in seinem Gebein. Plötzlich erschien neben der kleinen Gruppe der Erdlinge oben etwas Schwarzes, Lanzenförmiges. Es schien neben ihnen in die Höhe zu springen, hielt inne, sprang wieder eine halbe Mannshöhe hoch und sprang wieder. Es war«ine Fahne, die auf einem Flaggenstock, den Mr. Barnstaple bisher nicht bemerkt hatte, gehißt wurde. Sie erreichte die Spitze des Stockes und hing schlaff herunter. Dann blies sie ein Windstoß auf. Einen Augenblick flatterte sie auf und zeigte einen weißen Stern aus blauem Grund und fiel wieder zusammen. Dies war die Flagge der Erde — dies war die Flagge des Kreuzzuges, der die Segnungen des Wettbewerbes, des Streites und des Krieges nach Utopien zurückbringen sollte. Darunter erschien der Kopf Mr. Durleighs, der die utopischen Rollen durch seine Gläser prüfend betrachtete. ___________ Eortsetzung jolgt.)