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Beilage

Mittwoch, 4. April 1928

Der Abend

Sind Gerichte unfehlbar?

Spalausgabe des Vorwärts

Unschuldig zum Tode verurteilt und hingerichtet!/ Bon Friedrich Bendel*).

Was geschieht, wenn sich herausstellt, daß jemand unschuldig| verurteilt worden ist? Das Verfahren wird wieder aufgenommen, der Angeklagte wird freigesprochen, bestimmte materielle Schäden, die mit der Vollstreckung der Strafe verbunden gewesen sind, wer­den wieder gut gemacht.

Nur bei der Todesstrafe wird eine Ausnahme gemacht. Der von ihr Betroffene tann zwar im Wiederaufnahmever fahren freigesprochen werden, die Vollstreckung des Urtells wird

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Eintritt bot sich ihnen eine schreckliche Szene dar: Hay lag in dem Bett, in seinem Blut schwimmend, während der Wirt Brad­ford über ihm stand, mit einem bluttriefenden Messer in der einen Hand und einer Blendlaterne in der anderen. Bradford war wie versteinert, als die beiden eintraten, als man ihn jedoch des Ver­brechens anflagte, verneinte er energisch die Tat. Seine Erklärung war, daß er, geweckt durch ein Geräusch und gleich darauf durch das Stöhnen, Licht gemacht, das Meffer zur Selbstverteidigung ergriffen und gerade vor den beiden Reisenden das Zimmer betreten habe. Aber das Messer in seiner Hand war doch blutig! Im Prozeß gab Bradford an, daß ihm in der Aufregung das Messer in die Blut­lache des Bettes gefallen sei. Man glaubte dem Angeklagten fein Wort. Bradford wurde zum Tode verurteilt und trotz aller Unschuldsbeteuerungen hingerichtet. Achtzehn Monate nach seiner Hinrichtung gestand der Diener des Hay auf seinem Sterbebett, den Mord begangen zu haben, um sich in den Besitz des Geldes zu sehen. Im Jahre 1868 erregte folgen­der Fall in England Aussehen. Ein gewisser Ambrose Gwynnett wurde wegen Ermordung seines Onfels gehängt. Der Onkel schlief in Gwynnetts Haus, das auf der Seeküste von Kent stand, mit einem Garten, der bis zur See hinabreichte. Der Onkel verschwand. Kein Leich nam wurde gefunden, aber ein Blut­streifen, der vom Hause bis zum Gartenende verfolgt werden konnte, sprach nach Ansicht des Gerichts eine beredte Sprache, ebenso ein Messer, das man blutbesudelt auffand und das Gwynnett gehörte. Gwynnett wurde zum Tode verurteilt und ge­hängt. Nach mehreren Jahren tauchte plößlich der vermeintlich er­mordete Onkel wieder auf. Es zeigte sich nun, daß er in der Nacht seiner angeblichen Ermordung mit einem heftigen Nasenbluten vom Bett auf­gestanden war, das Bluten mittels der kalten Klinge des Messers zu stillen versucht hatte und schließlich in den Garten gegangen war in der Hoffnung, daß die frische Luft das Nasenbluten stillen werde. Am Strand war er von einer Berber bande aufgegriffen, sofort auf ein Schiff gebracht und nach Westindien entführt worden. An diesem Fall ist besonders die Leichtsinnigkeit des Gerichts zu rügen, sich über den Ver­bleib der Leiche des angeblich Ge­mordeten feine Gedanken zu machen. Im Jahre 1809 wurde Dor einem Hamburger Bordell die Leiche eines Menschen gefunden. Man durchsuchte das Haus und fand im Keller ein blutiges Beil, von dessen Existenz der Hauseigentümer und seine Ehefrau teine Kenntnis zu haben vorgaben. Der Berdacht lenkte sich auf beide, in dem anhängig ge­

Lucas Cranach der Aeltere: Hinrichtung.

Einige Jahre später wurde der wirkliche Mörder festgestellt. Er hatte das Beil, das er zur Tat benutzt hatte, um den Berdacht auf falsche Fährte zu lenken, in den Keller des Bordells geworfen.

jedoch nicht rückgängig gemacht, weil sie nicht mehr rückgängig| machten Mordprozeß wurde das Ehepaar zum Tode verurteilt. gemacht werden kann. Die geringste Geldstrafe kann aufgehoben werden die Todesstrafe nicht. Hier liegt ein so grotester Wider spruch vor, daß spätere Zeiten wahrscheinlich die Stumpfheit und die Gleichgültigkeit kaum werden faffen tönnen, mit der unsere Zeit den Irrfinn gewähren läßt.

Historische Berühmtheit hat der Fall Calas vom Jahre 1762 erlangt. Der Hugenott Jean Calas war ein ehrsamer Tuch­händler zu Toulouse . Er hatte einen Sohn Marc- Antoine, ein Student, der infolge Ueberarbeitung unter nervöser Abspannung und Schwermut litt und in seinen Depressionszuständen mit dem Gedanken spielte, zur fatholischen Kirche überzutreten. Eines Tages fand man den jungen Mann tot auf. Er hatte Selbstmord be= gangen. Es tam jedoch das Gerücht auf, er sei ermordet worden, fanatische Geistliche behaupteten, wahrscheinlich sei, daß der Vater den Sohn selbst ermordet habe, damit er den Glaubenswechsel nicht vollziehe. Es kam zum Mordprozeß gegen den alten Calas, er wurde zum Tode verurteilt und unter qualvoller Folterung hin­gerichtet. Drei Jahre später nahm sich Voltaire des Falles an, bewies die Unschuld des Calas und erreichte eine Rehabilitierung des Verurteilten und seiner Familie.

Einen sehr interessanten Fall teilt Karl Heinrich Schaible , Professor der Militärakademie, in seiner 1869 er­schienenen Schrift Ueber die Todes- und Freiheitsstrafe" mit. Ein Reisender namens Say stieg auf einer Reise in einem Wirts­haus zu Oxfordshire ab, das ein Wirt namens Bradford inne­hatte. Während Han mit zwei anderen Reisenden sein Nachtessen einnahm, teilte er törichterweise mit, daß er eine größere Summe Geldes mit sich führe. Bald darauf zogen sich die beiden anderen Gäste in ihr gemeinschaftliches Schlafzimmer zurüd, während wenig später Hay das feinige aufsuchte. Um Mitternacht hörten die beiden Resenden Hay schmer stöhnen, die Sache fam ihnen unheimlich vor und sie betraten gemeinschaftlich das Zimmer Hays. Beim

Siehe auch S, 100, 104, 122 und 144.

In Gießen wurde im Jahre 1906 auf Grund eines Indizien­beweises ein Handwerksbursche wegen Raubmordes an einem

Wo du gedulchaft in darpeyn So wire fie dir garnuglich fain Darumb gib dich willig darein

TUTHT

Der Weg zum Schaffot. Aus dem 15. Jahrhundert.

Pfarrer zum Tode verurteilt und hingerichtet. Der Berurteilte hatte bis zum legten Augenblid in beweglichsten Worten seine Un­schuld beteuert. Zwei Jahre später legte ein in Holland lebender Deutscher auf dem Sterbebett das Geständnis ab, den Mord be­gangen zu haben.

Die Unmöglichkeit, eine einmal vollzogene Todesstrafe wieder rückgängig machen zu können, sollte die Justiz schon im Interesse ihres eigenen Ansehens veranlassen, auf die Anwendung dieses Strafmittels zu verzichten. Reine Spitfindigkeit fann die Tatsache aus der Welt reden, daß eine auf Grund eines Fehlurteils voll= streckte Hinrichtung ein Unrecht darstellt. Ein Unrecht, das zu­dem noch im Namen des Volkes begangen wird. Die öffentliche Moral follte sich gegen den unhaltbar gewordenen Zustand endlich mit der nötigen Energie auflehnen.

Wanderungen in China .

Vortrag eines Hochschullehrers aus Schanghai .

Wer China fennenlernen will, muß es abseits der großen Bera fehrsstraßen aufsuchen, von denen er wohl ein Bild der wirtschaft­lichen Hauptpunkte gewinnt, aber feinen unverfälschten Eindruck Des weiten, seltsamen Landes. Das enthüllt sich erst dort, wo Eisen­bahnen und Hauptschiffahrtsstraßen aufhören. Hier lebt der Mensch noch in uralter Primitivität. In den Räumen der Deutschen Ge­fellſchaft" hielt Dr. med. Stübel von der Medizinischen hochschule in Shanghai einen Vortrag über Bande­rungen in China ". Eine Fülle von Lichtbildern erschloß den hörern zahlreiche solcher wenig bekannten Gebiete.

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Prof. Stübel ist durch die Bergwelt von Nord-, Ost- und West­China gewandert. Landschaftliche Schönheiten in Fülle bietet die Bergwelt am Rande des Tibet - Plateaus, ebenso der an deutsches Mittelgebirge erinnernde Gebirgszug, der sich im Südosten parallel zur Küfte hinzieht. Eine märchenhafte Vegetation, Blumen in buntester Farbenpracht, und riesige Wälder kennzeichnen diese Land­schaften. Mitten in Baumdidichten haben sich prächtige buddhi­stische Klöster angesiedelt, von denen man häufig wunderbare weite Ausblicke in das Land hat. In den meisten Fällen wird der Fremd­ling von diesen Klöstern gastfreundlich aufgenommen und darf so= gar photographieren, selbst Götterbilder und Priester. Die übrige Bevölkerung in diesen Gebieten beweist dagegen gewöhnlich eine abergläubische Scheu vor der Kamera. Nur selten ist ein Muti­ger zu bewegen, sich auf die Platte bannen zu lassen. Die Menschen leben und wohnen in diesen Landstrichen noch in der primitivsten Form. Die Häuser sind in den höher gelegenen Dörfern nur eine Art Schutzhütte, ohne Fenstern und Schornstein. Der Rauch zieht durch die Türöffnung ab. Der Europäer fann sich kaum vorstellen, wie bei den gewaltigen Klimaschwankungen zwischen Sommer und Winter der Mensch in ihnen leben kann. Die Träger, die in den meisten Gegenden Chinas noch an Stelle von Lasttieren gebraucht werden, weil ihre Arbeitskraft billiger ist, gehen selbst im Schnee und bei scharfem Frost barfuß in Strohsandalen.

Landschaftlich ganz anders ist das Lößgebiet Nord- Chinas . Gelb, troftlos staubig bei Trockenheit, wird es zur Regenzeit zum außerordentlich fruchtbaren Ackerboden, der vielfache Ernte trägt. Die Menschen haben sich hier Wohnungen in die weiche Löẞmasse gegraben. Ganze Dörfer mit stufenförmig übereinanderliegenden ,, Häusern" sind so entstanden. Die Chinesische Mauer ", einst Grenze des Landes, begrenzt den ganzen nördlichen Horizont als Wahrzeichen dieses Gebiets. Eine nicht seltene Krankheit bei der Bevölkerung ist der Kropf, den man übrigens auch in grotester Ungeheuerlichkeit bei den Bewohnern der westlichen Gebirge findet.

Die berühmteste Frau.

Eine französische Zeitung hatte ihren Lesern die Frage vor gelegt, mer nach ihrer Ansicht die sechzig berühmtesten Frauen nam­haft zu machen verstände. Es gingen rund 25 000 Antworten ein, an der Spitze stand mit 24 000 Stimmen Madame Curie , die Mit­entdeckerin des Radiums! Die Schauspielerin Sarah Bern= hardt sieht mit 21 000 Stimmen an zweiter Stelle, die erschossene Krankenschwester Miß Edith Cavell mit 19 000 Stimmen an dritter Stelle! Es folgen General Evelyne Booth, die Schriftstellerin George Sand , Louise Michel und die Comtesse de Noailles. Die Tennisspielerin Suzanne Lenglen steht erst an 9. Stelle, ihr folgen die Ozeanfliegerin Ruth Elder und Madame de Stacl. Mary Bifford steht an 19. Stelle, die Tänzerin Isadora Duncan an 24., die Frauen­rechtlerin Pankhurst an 28. Stelle.

Lichtzündung auf 9000 Kilometer Entfernung.

Kürzlich wurde im Hudson Bay - Haus in London ein inter effanter Versuch vorgeführt, dem nur einige wenige Persenen bei­wohnten: Mr. Charles Gale, der Borsigende der Hudson Ban- Com­pany drückte auf einen Knopf und in der Stadt Vancouver in Amerita flammte das elektrische Licht auf. Durch direkten elet­trischen Impuls, der über ein kompliziertes Netz von Kabeln und Telegraphenleitungen weitergegeben wurde, war dieses technisch Wunder möglich.

Verbrechen und Kino.

Welch unheilvollen Einfluß der Kinobesuch insbesondere auf Kinder haben fann, zeigt ein Fall, der vor furzem in Mostau passiert ist. Ein 15jähriger Knabe hatte sich wegen Erdrosselung eines sechsjährigen Kindes zu verantworten. Er hatte es in einem Keller gelockt und es dort getötet. Den Mantel des Kleinen verkaufte er für 6,60 m. auf dem Markt und brachte das Geld am gleichen Lage durch, indem er hintereinander verschiedene Kinos besuchte. Bor Gericht erklärte er, daß er die Art, in der er das Kind erdrosselte, bem Film Benn ber Schnee aergeht" entnommen habe.