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Morgenausgabe
Nr. 168
A 85.
45. Jahrgang
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Der Borwärts erscheint wochentag lich zweimal, Sonntags und Montags einmal, die Abenbausgaben für Berlin und im Handel mit dem Titel„ Der Abend", Illustrierte Beilagen Bolt und Zeit" und„ Kinderfreund" Ferner Unterhaltung und Wissen".. Frauen ftimme". Technit". Blid in die Bücherwelt" und Jugend- Borwärts".
Sonntag
8. April 1928
Groß- Berlin 15 Pf. Auswärts 20 Pf.
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Ittge Ronpareiliegefle Reflamezeile 5.- Reichs Rietne Anzeigen" bas fettge brudte Wort 25 Pfennig( zuläffig zwet fettgebrudte Worte), jedes weitere Bort 12 Blennig Stellengesuche das erfte Bort 15 Brennig, jebes weitere Bort 10 Pfennig Borte über 15 Buchstaben Arbeitsmarkt gählen für gmet Borte Beile 60 Biennig Familianzeigen für bonnenten Zeile 40 Bfennig. Anzeigen annahme im Hauptgeschäft Linden traße 3, wochentägl von 81, bis 17 Ubr
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solanalin
Ostern 1928.
Alter und neuer Glaube.
Was sind der Masse unseres Boltes die Festtage der Kirchen geworden? Ruhetage, nicht mehr! Ihr religiöser Gehalt ist bis auf eine farge Neige versiegt. Wenn unter all den Festen eines uns mehr sein fönnte als Wochenende in fatraler Berbrämung, mehr als alte Form, als prunkendes Gefäß aus dem Erbgut längst verwitterter Geschlechter, so müßte es Ostern sein. Kein Feiertag ist so erdhaft, wie gerade dieser Gedenktag der christlichen Legende. Ostern- Auferstehung Frühling- Geburt des Lebens: Natur und Kirchenglaube stehen einander nirgends so nahe wie hier. Wenn überhaupt, dann müßten zu Ostern uns Kanzel und Altar etwas zu sagen wiffen.
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Wer unbefangen ihre Stimme hören will, muß wohl dahin gehen, wo sie ganz schlicht, ganz ohne Beimert reden. Nicht in den wilhelminischen Dom zu Berlin , diesen unheiligsten aller Kirchenbauten des Protestantismus. Nicht in den ehrwürdigen Prunk der Kathedrale zu Mainz , in der fatholische Frömmigkeit sich an der Pracht ihrer Formen berauscht. Vielleicht suchen wir, irgendwo an der Küste, eine jener alten friesischen Dorfkirchen auf, deren Backsteingemäuer von hohem Erdwall hinüberragt über die Unendlichkeit des Meeres und die Unermeßlichkeit der Marsch.
Ewigkeit des Geistes. Sozialismus ist nichts als die Gegen-| Seuche einer Vertrauenstrife größten Ausmaßes brach aus; martsform dieser seelischen Haltung. Sozialismus ist der franke Maffen riefen uns ihr Kreuzige! Kreuzige!" ins Ge wirtschaftlich- technische Ausdruck der Religion der Selbstversicht. Der politische Ausdruck jener Passionszeit des Sozialismus waren die Maimahlen von 1924. Alte Führer der Arbeiterschaft haben am Abend jenes Maisonntages stundenlang mit sich selbst gekämpft: Lag die Schuld an uns?
leugnung.
Ob wir Religion nur in der Gemeinschaft zu empfinden vermögen oder nur im Alleinsein mit uns selbst; ob wir der Kirche die Kraft zur Auferweckung religiösen Lebens zutrauen oder nicht, ob wir ihre Zeremonien hinnehmen- Tausende unserer Mitkämpfer, Hunderttausende unserer Mitläufer tun es oder sie ablehnen: wir alle sind darin einig, daß die Kirchen der Gegenwart mit jener Religion der Selbstverleugnung, deren Namen fie tragen, taum noch etwas gemein haben. Ihre Türme stehen wie Grabfreuze über den Grüften, in denen der alte Glaube bestattet ist.
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Der neue Glaube heißt Sozialismus. Sozialismus ist das Evangelium der Armen unserer Zeit. Man versuche einmal, diesen Glauben aus dem Dasein eines Arbeiters wegzu denken. Was von ihm übrig bliebe, wäre nicht viel mehr als eine lebende Maschine. Ohne die Hoffnung des Sozialismus tönnte es für den bewußten Proletarier im Grunde nur zwei Auswege geben: Tierheit oder Selbstmord. Was hält die Seele unserer Frauen im Schraubstock des Alltags, was den Willen unserer Jugend unter dem Mühlstein der Arbeitslosigfeit aufrecht, als der Glaube an die Neugestaltung der Welt, die wir Sozialismus nennen.
Problem allein der Wirtschaft, grob gesagt, eine Magenfrage. Wer in unserer Bewegung nicht mehr sieht, ist ein armseliger Schwäger. Jeder Lohnkampf könnte ihm die andere Seite der Dinge zeigen.
Wie eine Burg liegt sie hoch über den Gräbern. Eben Böswilligkeit und Torheit unserer Gegner behaupten, Gonoch hörbar dringt der Baß der Orgel durch die tiefen Scharzialismus sei der organisierte Egoismus der Maffen, ein ten der Fenster. An der Nordseite des Hügels, im feuchten Schatten der Kirche, vermesen die Leiber der Armenhäusler und Arbeitsinvaliden. Im Süden, in der prallen Sonne, ruhen unter funfelnden Granitmälern die Bauerngeschlechter. Hüben und drüben fein fäuberlich getrennt, genau wie im Leben. Auf den Bänken drinnen ist es um nichts anders: unten, hinter blantem Namensschild, die Männer in hohem Seidenhut; oben, auf den Freiplägen, ein wenig ,, Bolt". An der Wand rascheln im Luftzug die Kranzschleifen in den Farben des alten Reiches. Hinter verglastem Gestühl, ganz isoliert, der Kirchenpatron; draußen martet sein Wagen.
Die Predigt ist tot. Form ohne Leben. Ohne Schönheit. Hin und wieder ein Hieb auf die neue Zeit, den neuen Staat, die neue Jugend. Dann blizen die Stahlhelme an den Feiertagsmänteln auf, und Arzt und Apotheker niden ihr Ja zu dieser Bibel. Es ist ja so bequem geworden, das Evangelium des Revolutionärs von Nazareth . Es empört sich nicht, menn die Biehställe auf dem Gutshof immer hygienischer und die Raten der Landarbeiter immer baufälliger werden. Es schweigt, wenn der Arzt in den zehn Räumen seiner Billa teinen andern Platz für das blutjunge Ding findet, das seine Magd ist, als den Verschlag auf dem Boden. Gottgewollte Abhängigkeit! Und das zittrige Mütterchen in der Ecke ist ja schon zufrieden, wenn man ihm ein paar Gesangbuchverse hinhält. Wie Stickluft schlägt uns die ganze Heuchelet des offiziellen Christentums ins Gesicht. Die Kirche ist Klassenkirche geworden. Ihre Predigt tönende Schelle und klingendes Erz. Man wende nicht ein, ein solch ungeheuerlicher Vorwurf Man wende nicht ein, ein solch ungeheuerlicher Vorwurf sei nur aus der Enge des Parteimannes erklärbar. Wir formulieren nur deutlicher, was der Kölner Kaplan Joseph Emonds dieser Tage im Abendland" schrieb:„ Es kann nicht verborgen bleiben, daß die große Entscheidungslinie im gesell schaftlichen Kampf, die man annähernd richtig mit Klaffenfampf bezeichnet, trotz aller Beschwörung mitten durch das christliche Bolt hindurchgeht... Die Kirche ist ja selbst verdächtig, im Solde der Befitbürger zu stehen."
Krieg und Nachkrieg sind über die junge Kirche des Sozialismus hinübergerast wie eines jener Reformationsfieber, wie sie jede wachsende Kirche an sich erfahren muß. Die
Heute verdämmert das alles hinter uns, als gehörte es einem andern Jahrhundert, einer andern Epoche unserer Geschichte an. Die Maiwahlen von 1928 bliden auf eine Bewegung, die vorwärtsflutet wie die Ströme unseres Landes. In jedem letzten Dorf bricht das neue Werden aus dem Boden der Masse heraus.
Unser Glaube ist härter geworden. Wir sehen Menschen und Dinge in einer Klarheit, die uns Jungen schmerzhaft sein mag. Wir wissen, daß unter den Millionen, die sich zu uns bekennen, Hunderttausende von Mitläufern sind, daß auch unter den tausend, die voranschreiten, hundert sind, die müde werden. Der Weg vor uns dehnt sich ins Unendliche hinein.
Das alles lähmt uns nicht mehr. Die neue Erkenntnis hat uns gereift. Der Proletarier läßt sich nicht mehr wie 1918 und 1923 den Glauben an sein Werk und den Stolz auf seine Männer nehmen. Seht die Sachlichkeit, in der heute schlichte Männer und Frauen des Volkes in den großen und kleinen Parlamenten arbeiten! Spürt die Freude, die unsere Berfammlungen durchpulft! Die Wahlen in Hamburg , Medlenburg, Braunschweig , Königsberg , Potsdam , Oldenburg sind nicht das Resultat einer raffinierten Organisation, sondern der Ausbrud des neuen Bertrauens.
Im Mai 1924 mußten unsere Funktionäre die Wahlen schlagen. Tapfere Korporale, die verbissen jeden Graben und jeden Ball verteidigten. Im Mai anno 1928 schicken wir eine Armee von Soldaten in den jungen Frühling hinein; jedes Dorf, jeder Hof soll unser werden.
In das Dröhnen der Osterglocken rufen wir hinein: Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwindet.
Parole: Gegen den Marxismus!
Obrigkeitsstaat der Vergangenheit oder wahrhafter Volksstaat? Bon Hermann Müller- Franken.
halb mit dem Schwenken der Fahne Schwarzweißrot wieder politische Geschäfte machen zu fönnen. Aber auch dieses abgebrauchte Symbol wird den Deutschnationalen nichts nügen. Die betrogenen Kleinrentner fönnen sich dafür nichts taufen.
Als Wahlparole bleibt deshalb wieder einmal nichts übrig als: Kampf gegen den Margismus. Mit dieser Parole sollen die Bauern in die Wahlschlacht geführt werden. Aber werden sie nicht fragen, was bedeutet das: Kampf gegen den Marrismus? Ueber das Wesen des Marrismus herrscht in allen bürgerlichen Schichten die größte Unkenntnis. Als der rechtsstehende Professor Gerland im Januar 1925 sein Kolleg in Jena eröffnete, fagte er den Studenten:
Am Samstag hat keiner der sechs Herren im Referendarexamen Antwort auf die Frage geben fönnen: Was ist Marris mus? Sicher haben alle sechs Herren auch gerufen: Nieder mit dem Margismus! Aber feiner von ihnen hat sich Rechenschaft gegeben über diese die Welt umfpannende Bewegung, die in unserem Bater lande von großer Bedeutung ist."
Die Deutsch nationalen haben es in diesem Wahl-| gierungsrichtlinien eigentlich verlangten. Sie glaubten des fampf schlimm. Sie beherrschten den aufgelöften Reichstag. Sie hatten besonders in der letzten Regierung des Bürger blocs Gelegenheit, zu zeigen, was sie fonnten. Nun müssen sie vor die Wähler treten und haben teine Leistungen aufzuweisen. Nicht einmal das christliche Schulgeset tam zustande. In der Außenpolitik trat völliger Stillstand ein. Die Regierung der diskontfähigen Unterschriften hat das Rheinland nicht befreit. Die Rot der Landwirtschaft, soweit eine solche vorhanden ist, hat sich unter der Rechtsregierung, und ihrem deutschnationalen Landwirtschaftsminister entwickelt. Bon rechtzeitiger Fürsorge war nichts zu merken. Um das zu verdeden. wurden dann die Bauern zu tumultuarischem Vorgehen aufgehetzt. Die breiten Massen der Bevölkerung erhielten durch eine Politik der Bollerhöhung Stockschläge auf den Magen. Die betrogenen Kleinrentner lassen ihre Miß ftimmung gegen die deutschnationalen Betrüger auf offenem Markte hören. Nach so gründlichem Bersagen fehlt den Deutschnationalen die Parole zum frisch- fröhlichen Bewegungstrieg gegen Demokratie und Sozialismus. Aus Verlegenheit suchen sie sich deshalb zunächst hinter dem Reichspräsidenten v. Hindenburg zu verstecken. Hindenburg wird wieder einmal als Retter gepriesen. Sein Name soll den Deutschnationalen helfen, ihre Mandate zu retten. Zum Dant dafür wollen fie die Stellung des Sinn hat unser Leben nur insoweit, als es dem Ganzen Reichspräsidenten stärken. Der Präsident foll eine Art dient. Wer nur sich selber lebt, und möge er sein Leben zur Monarch mit Zylinderhut werden. Aber das deutsche Bolt Bollendung hinaufsteigern, lebt ohne Frömmigkeit. Unsterb- braucht weder Monarchen mit Krone, noch mit Zylinderhut. lichkeit, die uns die Ofterlegende aller Religionen lehrt, ist in den zehn Jahren seit dem Zusammenbruch des wilhelmi uns die Kraft, die wir über unser Sterben hinaus der Summe nischen Kaiserreichs hat gerade der deutsche Barla aller geistigen und sittlichen Energien des Weltalls hinzuzu- mentarismus in schwerster Zeit dem deutschen Bolle fügen imftande waren. Wie fein ist jener Glaube, dessen Bentrum allein die Unvergänglichkeit des eigenen Ich ist! Unser Glaube heißt: Berantwortung vor dem Ganzen und
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Draußen brandet die Flut an den Deich. Was ist uns Menschen ohne Kirche heute Religion? Was fie immer und überall war: das Tasten um das Rätsel des Seins. Um den Sinn des Lebens und der Welt.
Fährnisse hinweggeholfen.
Nachdem die Regierungsfoalition zusammengebrochen ist, halten sich die Deutschnationalen nicht mehr für verpflichtet, die schwarzrotgoldene Fahne so zu achten, wie das die Re
Ja, was ist Marrismus? In früheren Zeiten, als das deutsche Bürgertum noch glaubte, Arbeitermassen unter der Fahne des Liberalismus sammeln zu können, wußte man das besser. Freilich nicht zuletzt deshalb, weil stärkere persönliche Fäden vom Marrismus zum Liberalismus und selbst zum Ronservativismus führten. Wenn unsere Deutschnationalen von den großen Männern der faiserlich- deutschen Vergangen heit reden, so führen fie oft hinter Bismard Johannes v. Miquel an. Miquel wußte freilich mit dem Marrismus Bescheid. Als Student schrieb er schon an Marg im Jahre 1849, daß er nach der Leftüre von dessen Elend der Philo 1ophie" ihm, Marg, mit Leib und Leben gehöre. Er blieb bis zum Mai 1857 mit Karl Marg im Briefwechsel. Er hat diesen Briefwechsel also noch fortgelegt, als er bereits als Führer der Liberalen einer der tätigsten gewählten Mitglieder des