Beilage
Mittwoch, 18. April 1928
M ARRIESEGSTAH Der Abend
Spalausgabe des Vorwärts
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Alles besetzt nur noch oben! Erlebnisse eines Omnibusahaffners
Daß man sich zanft, pufft und stößt, ja sogar sich schlägt, um sein Geld los werden zu können, ist eine sonderbare menschliche Schwäche. Man tann sie überall beobachten bei gewöhnlichen und außergewöhnlichen Sensationen. Eine gewöhnliche alltägliche Senfation ist der Kampf um den Platz im Autobus.
Nur die Rollen find vertauscht. Nicht ein großer Sänger, ein Amanullah oder sonst eine weltbekannte Persönlichkeit erzeugt diese Stauungen menschlicher Gefühlsegtasen, sondern das Publikum selbst ist Urheber.
Bei jedem Verkehrsunglück, so auch bei der letzten Katastrophe, wird stets zuerst danach geforscht, ob etwa das Fahrpersonal die Schuld trifft. Aber selbst wenn in dem einen oder dem andern Falle nicht jeder Buchstabe der Vorschriften" befolgt worden ist, so steht doch fest, daß in der Regel die wirklich Verantwortlichen nicht unter den Fahrern oder Schaffnern zu suchen sind, sondern in dem Zwang zur raschen Abwicklung des Verkehrs, der für die Verkehrsgesellschaften maßgebend ist und der nicht selten durch das nervöse Publikum verschärft wird. Einen Ausschnitt aus den glücklicherweise nicht immer tragisch endenden Konflikten, denen das Fahrpersonal in seiner aufreibenden Tätigkeit ausgesetzt ist, geben die nachfolgenden Aufzeichnungen eines Omnibusschaffners.
Beim Kassieren: Einige sind übereifrig. Sie schwingen ihre 20 Pf., taum, daß sie das Trittbrett berührt haben. Andere wieder lassen sich Zeit, holen umständlich ihr Portemonnaie aus der Tasche und geben dem Schaffner todficher 4 Sechser. Die ersteren sind sogar beleidigt, wenn man ihnen das Geld nicht sofort abnimmt.
Die Sechser sind bei den Kollegen sehr gefürchtet. Ich fürchte fie auch. Ein guter Schaffner wird niemals eine Sechserroile machen. Er wird es verstehen, sie im Laufe fcines Dienstes wieder an das Publitum auszuzahlen. Noch mehr gefürchtet als die Sechser sind die Pfennige. Man muß fie nehmen, nimmt sie aber ungern. Ebensowenig wie der Schaffner Pfennige im Wechselgeld gibt, sollte- Aber: Wer den Pfennig nicht ehrt.
Das Bublifum in Masse ist gräßlich, einzeln Derträglich, gemütlich, freundlich. Es gibt sehr ungemütliche Fahrgäste. Sie sind sogar Verfechter ,, der Propaganda der Tat". Rippenstöße oder Ohrfeigen gehören bei ihnen zum Verkehrston. So erlebte ich fürzlich, daß ein Fahrgast einem anderen Fahrgast im Wagen eine Ohrfeige gab. Der Beleidigte stieg mit dem ungemütlichen Kerl es mar nachts- an einer sehr dunklen Stelle aus. Der ohrfeigenverteilende Fahrgast wohnte dort draußen. Wie die Revanche ausgefallen ist, weiß ich nicht. Die Fahrgäste im Wagen waren sehr neugierig. Aber darauf kann die Aboag nicht warten.
Merkwürdig ist auch die Tatsache, daß die Fahrgäste im Wagen recht schweigsam sind. Die Männer lesen entweder ihre Zeitung, oder sind mit ihren häuslichen und geschäftlichen Gorgen beschäftigt. Die jungen Damen lesen Liebesbriefe oder Romane, und die HausAußergewöhnliche Sensationen werden mit außergewöhnlichen frauen denken an das Mittagessen. Besonders abends nach GeMitteln gebändigt. Zuständig hierfür ist die Schupo. Zuständig für schäftsschluß fühlt man förmlich die geistige und förperliche Abdie wohlgefällige Auflösung der Stauung vor dem Autobus ist der spannung der Fahrgäste. Nur nachts werden die Fahrgäste lebhafter. Abongschaffner. 3war: in erster Linie ist er Raffierer, vor allem Bom Alkohol beschwingt, beschmipft, erwacht die Gesprächigkeit. Kajsierer, daneben aber Rechtsanwalt, Krankenhelfer, er ist AusHäufig ist so ein gutmütig luftig Angeheiterter eine nette und tunftsbureau, Wechselstube, Schiedsrichter in einer Person. Bor gern hingenommene Abwechslung. Wie start zuweilen doch das Mitallem ist er auf seinem Fahrzeug Kapitän, sein Fahrer der Steuer- teilungsbedürfnis ist, zeit sich am besten bei Streitigkeiten. Wenn mann, der unbeirrbar seinen Weg durch die Klippen und Riffe des der Kampf schon längst beendet ist, die Entscheidung längst gefallen, hin und herwogenden Verkehrs sucht und findet. gibt es Sophisten, die immer wieder daran deuteln und drehen.( Das sind dieselben Leute, die einen verlorenen Stat noch tagelang mit Leichenreden" begleiten.)
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Ein heifles Kapitel sind die Streitigkeiten zwischen Publikum und Schaffner . Der Hauptstreitpunkt ist die Platzfrage. Das Publitum hat Recht, wenn es sich empört, daß die Wagen immer knüppelvoll sind. Der Aboagschaffner hat Recht, wenn er dem Publikum erklärt, daß er eben nicht mehr Personen mitnehmen kann.
Nur die Auslegung ist verschieden. Es gibt Fahrgäste, die sich nicht mit höflichen Worten überzeugen lassen. Ein Plätzchen ist doch noch frei. Ich fahre nur eine Haltestelle." Verweigert man. ihnen die Fahrt, werden sie unhöflich.
Vielen wird nicht bekannt sein, daß ein überbelasteter Aboag eine sehr erhöhte Umsturzgefahr bringt. Daß ferner bei der Ungleich mäßigkeit der Wagenqualität oftmals ein zu starkes Belasten eine Berringerung der Fahrgeschwindigkeit bedeutet. Ganz abgesehen davon, daß der Aboagschaffner eine Polizeiftrafe aufgeknackt bes tommen fann, wenn er den Wagen zu start überlastet.
Diese Argumente spricht man natürlich zu tauben Ohren. Der Beförderungsdrang des Publikums, der Verkehrshunger ist so gewaltig, daß er sich nicht eindämmen läßt.
Die einzige Lösung ist, mehr neue Wagen in den Verkehr hinein. bringen. Hier hört ja meine Kompetenz auf...
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Hat der Schaffner Recht, so schweigt das Publikum in eisiger Kälte. Hat er Unrecht Schaffner sind auch nur Menschen und fönnen sich irren. Sie sollen Nerven wie Förderkorbdrähte so did und hart haben, aber auch diese reißen einmal und wenn sie reißen, dann gibt es eine Meldung. Und die Direktion rüat sprechen fie alle.
Aber es gibt auch Publikum, das dem Schaffner beispringt, ihn verteidigt und irgendeinem unverschämten Störenfried gehörig die ,, vox populi" hören läßt.
Merkwürdigerweise aber ereignet sich diese herzerfrischende. Hilfsbereitschaft nicht auf jenen Linien, wo Verstand und Bildung di zu fahren pflegt, sondern auf den sogenannten Groschenlinien in den Arbeitervierteln, wo weniger Bildung, dafür ursprüngliche Herzens. r bildung zu finden ist.
Die beste Berufsphilosophie ist dabei: Nichts ernst und tragisch nehmen. Ein treffendes Scherzwort rettet oft die heifelsten Situationen. Aerger, Uebellaunigkeit sind verflogen. Ein befreien des Lachen löst die Spannung.
WAS DER TAG BRINGT.
An der Haltestelle stehen 50 Personen, die mit dem„ ,, Doppel decker " unbedingt mit" wollen. Es fofte, was es wolle. Alle 50 Personen stürmen den Aboag. Tröpfchenweise rinnt aus dem vollbesetzten Wagen ein Fahrgast und noch ein Fahrgast. Der Ruf des Schaffners ertönt: 3 Pläge oben, einer unten. 50 Fahrgäste tämpfen um 4 Plätze. 46 verlieren. Enttäuschung bei den Zurückgewiesenen. Die Beherzten, die Robusten und Resoluten geben sich nicht zufrieden. Sie wagen einen neuen Angriff, tommen mit Einmendungen, Erklärungen, Begründungen. Der Aprilunwetterjubiläum. Schaffner hat nur eine Antwort, fann nur eine Antwort haben: Der Wagen ist besezt. Bitte steigen Sie ab." Enttäuscht, wutentbrannt steigt der Fahrgast ab. Jetzt fommt die Entladung. Der Schaffner wird angegriffen. Persönlich beleidigt. Aber wozu hat man seine Instruktionsstunde gehabt? Man ignoriert die Beleidigungen.
,, Unglaublich ist das. Da ist doch noch ein Platz frei." Ich fann ja da ganz bequem stehen. Drei vollbesetzte Autobusse sind mir schon vorbeigefahren." Ich fahre ja nur eine Haltestelle." An der nächsten Haltestelle steigt gewiß jemand aus." Ich werde mich über Sie bei der Direktion beschweren." Einschüchterungsversuche.
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Die ganz Schlauen springen auf, wenn der Aboag schon oder noch im Fahren ist. Sie wissen, wie fostbar die Zeit für den Schaffner ist. Er will den Wagen nicht egtra ihretwegen anhalten lassen, um sie hinunterzuweisen. Es foftet seine Haltezeit. Der Fahrgast triumphiert.
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Ein anderes Bild. Der Aboagschaffner tassiert. Hier lieft einer feine Zeitung. Dort sind zwei Fahrgäste im Gespräch vertieft. Ist hier noch jemand unabgefertigt," ertönt die Frage des Schaffners. Biele neue Fahrgäste sind zugestiegen. Da heißt es flint fajfieren. 1 Mart." Man händigt den Fahrschein aus: 80 Pfennige zurüd." Plöglich Stockung. Der Zeitungslejer zieht einen 10- Markschein heraus. Man wechselt. Der Fahrer bremst. Die Haltestelle naht. Man zwängt sich durch den übervollen Mittelgang. Neben dem Omnibus hält die Straßenbahn. Die Fahrgäste von der Straßenbahn steigen aus und stürmen zum Aboag. Der Aboag ist schnell füßiger als die Straßenbaha. Surr. Der Wagen fährt weiter. Nun hinauf zum ,, Blumenbrett". Eine Dame gibt einen Sechfer Trinkgeld. Man grüßt militärisch ein furzes„ Danfe sehr". Weiter. Tempo, Tempo. Ach, Schaffner, sagen Sie mir doch bitte, wann ich aussteigen muß." ,, Da müssen Sie mir sagen, wo Sie aussteigen mollen. Bo wollte ich noch aussteigen?" Ein längeres Ueber legen. Wilhelmshavener Straße."
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Tempo, Tempo. Kurz vor der Endstation fällt mir ein: Du solltest doch der Dame Bescheid sagen, wo sie aussteigen sollte. Mit schweren Gewissensbiffen belastet steige ich hinauf zur Beletage". ,, Um Gotteswillen, wenn die Frau noch oben figt. Sie wird das Trinkgeld zurüdverlangen, denke ich. Das ist nicht schlimm. Aber die Vorwürfe, die Verwürfe, die sie mir machen wird. Mir fällt ein Stein vom Herzen. Sie ist ausgestiegen. Meine Beamtenwürde und mein Sechser find gerettet..
Es gibt verschiedene Fahrgasttypen. Die einen wissen, was sie mollen. Die anderen wiffen nicht, mas fie wollen. Und der britte Typ: Eie milfen, mas fie nicht wollen.
Daß der April ein wilder Bursche ist, wäre ja nun gerade feine überwältigend neue Entdeckung. Die Kältewelle, die in den Die Kältewelle, die in den legten Tagen nach den schönen Borfrühlingswochen das Land heimsuchte, wedt aber Erinnerungen an den fatastrophalen Wettersturz, der ziemlich vor einem Vierteljahrhundert über Europa hinging und große Verheerungen anrichtete. Das war damals wirklich teine Kleinigkeit. Am 15. April 1903 schneite der Harz noch einmal vollständig ein. Ganz Frankreich stand die folgenden Tage im Zeichen eines Wettersturzes, der unter anderem den Berfehr im Hafen von Marseille völlig lahmlegte. In Desterreich, Ungarn , im Osten des Reiches wüteten Schneestürme, die nicht nur im Gebirge, sondern auch in der Ebene und an den Küsten zu schweren Schäden und Unfällen führten. Auf weiten Streden lag der Berkehr still infolge der Schneewehen. In Berlin und Umder Verkehr still infolge der Schneewehen. In Berlin und Umgebung war es der Sonntag, der 20. April, der den Höhepunkt des Inwetters brachte. Acht Verletzte meift Opfer herabfallender Dachsteine wurden eingeliefert, 300 Fensterscheiben zertrümmert, Dächer abgedeckt, Menschen gegen Kandelaber oder vom Wagen geSchwer mitgenommen wurde der Tiergarten, wo schleudert. Hunderte von Bäumen geinidt und entourzelt wurden, Leitungsdrähte der Straßenbahn durchschlugen und die Wege versperrten. Aehnlich war es in den Potsdamer Parts. Bei einem Leichen begängnis entführte zum Entfehen des Trauergeleites der Sturm den Sargdedel und trug ihn fort.
Nun, es ist auch damals Frühling geworden, troß Sturm und Schnee, trotz Schnupfen und Grippe. Für die politische Reaktion aber, die damals genau mie heute in erbittertem Wahlkampf gegen die Sozialdemokratie stand, war das Erwachen aus den Winter stürmen denkbar vernichtend. 81 Sozialdemokraten zogen in den Reichstag ein gegen 58 in der vergangenen Periode. Wer abergläubisch ist, mag auch dieses Zusammentreffen als ein Borzeichen ansehen. Es ist tein schlechtes.
Der große Phyfiter Albert Einstein hat sich bei den Hochschulfurjen in Davos nicht nur als Gelehrter, sondern auch als Geigen virtuose gezeigt und in dieser Rolle nicht geringere Triumphe geerntet. Am Schluß seines Vortrages über die Grundideen der physifalischen Wissenschaft und ihre Entwicklung überraschte er die Zuhörer mit der Ankündigung, daß er am Abend bei einem Wohltätigkeitsfonzert im Kurhaus Geige spielen werde. Daß Einstein ein vorzüge licher Biolinist ist, wissen die eingeweihten Kreise schon längst, und er ist auch bereits in Berlin aufgetreten; für das internationale Publikum aber bedeutete das eine große Sensation, und der weite Saal des Rurhauses war daher überfüllt. Der Schöpfer der, Relatinitätstheorie jpielte mit feinstem Berständnis und bewunderungs
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würdiger Technik Stücke von Bach und Mozart und den Violinpart in einem Beethovenschen Trio. Die Davoser Zeitungen feiern Ein stein als vortrefflichen Musiker, der eine entzückende Einfachheit und einen bezaubernden Humor" offenbarte. Einstein dankte für den lebhaften Beifall, war aber trotz der vielen Hervorrufe nicht zu einer Bugabe" zu bewegen. Politische Taschentücher.
B.
Vor einiger Zeit erwarb das Museum der französischen Presse in Paris eine seltene französische Zeitung aus dem Beginn des ver gangenen Jahrhunderts, die, auf Baumwolle gedruckt, den Titel„ Das politische Taschentuch" trug und auf diese Weise als Agitationsmittel der Opposition gegen die Regierung diente. Unwillkürlich wird man an diese altfranzösische Zeitung erinnert, wenn man in ostasiatischen Blättern liest, daß der chinesische General Tschangsolin nach der Niederwerfung der Kommunistenbewegung in China seiner Propagandaſtelle den Befehl gegeben habe, 20 000 Taschentücher anfertigen zu lassen, die mit heftigen Ausfällen gegen die Kommunisten und den übermächtigen Einfluß der Fremden in China bedruckt waren und an die Mannschaften seines Heeres verteilt wurden, um auf diese unblutige Weise den Kampf gegen die Kommunisten und die Fremden fortzusetzen. Die politischen Taschentücher des heutigen China sind freilich vornehmer, als es die alten französischen waren, denn sie bestehen nicht wie diese, aus Baumwolle, sondern aus Seide, und in sieben verschiedenen Farben ist die nationale Blume Chinas sind freilich vornehmer, als es die alten französischen waren, Nieder ein breites Band mit der Inschrift:„ Tod den Rebellen. mit dem Einfluß der Fremden! mit dem Einfluß der Fremden! Ausrottung des kommunistischen Giftes!" Zu beiden Seiten der Päonie ist dieses politische Taschentuch" außerdem noch mit verschiedenen altchinesischen Zeichen bedrudt, die bejagen: Alle Kräfte dem Vaterlande und dem Wohle des Boltes!"
Eine wandernde Stadt.
Adrianopel , einst eine bedeutende Stadt des byzantinischen und später des türkischen Reiches mit 120 000 Einwohnern, ist durch den Bertrag von Lausanne von Konstinopel und dem übrigen Thrazien so völlig getrennt worden, daß es mur durch mehrmaliges Ueberschreiten fremder Grenzen zu erreichen ist. Der Ort war damit zum Tode verurteilt, und seine Einwohnerzahl ist auf den vierten Teil zurückgegangen. Das griechische Thrazien ist dagegen im Aufblühen, und so find denn jeht, wie die Frankfurter Umschau" berichtet, bereits 8000 Häuser Adrianopels verkauft, abgebrochen und über die griechische Grenze gebracht worden. Das alte Adrianopel wandert so gleichsam über die Grenze nach der neuen Stadt Altum Karagatsch, die Adrianopel gegenüber liegt, und, mit diesen Häusern ausgestattet, sich mich entwidelt.